Im Tal des Todes

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Es war ein schmerzhafter und sehr langsamer Abschied. Ein Abschied in Zeitlupe. Nein, eigentlich war es sogar ein Abschied in Superzeitlupe, ähnlich wie in Tierfilmen, in denen man die Schmetterlinge ganz langsam mit den Flügeln schlagen sieht. Wir entfernten uns erst nur ein paar wenige Zentimeter voneinander, dann war ein Meter zwischen uns, der sich auf fast eine Minute ausdehnte. Bis uns einige dutzend Meter voneinander trennten, dauerte es rund zehn Minuten. Über eine Stunde lang konnten wir sie noch sehen und es tat wirklich weh, sie ziehen zu lassen. Wir hatten sie in der Wüste getroffen, wo man eigentlich eher nur seltsame Typen antrifft. Guillaume, Victor und Tom: drei Jungs, höfliche, ungewöhnlich sympathische Idealisten. Radfahrer, zwei Franzosen und ein französisch Schweizer. Sehr angenehme Begleitung, unterhaltsam, optimistisch, gebildet. Es war einfach schön, nach so vielen Tagen Einsamkeit, Sand und Wüstenirrsinn wirklich nette Menschen zu treffen. Wir schlossen uns an dem Tag zusammen, an dem wir aus dem Tal des Todes kletterten, um im Nachbartal die ebenso feindliche, ebenso sandige und noch viel windigere Version eines Todestals zu finden, das sich kaum vom Original unterschied. Wir schlossen uns zusammen aus Vernunftgründen, denn der Wind war unterdessen zu einem Sturm geworden, zu einem Sandsturm. Die Lage sah bedrohlich aus, eine Staubwalze rollte auf uns zu, geschoben von einem Wind, der mit etwa 50 Stundenkilometern gegen uns anbrüllte. Die Lage muss wohl sogar für die Coyoten bedrohlich ausgesehen haben, denn zum ersten Mal sahen wir sie bei helllichtem Tag am Straßenrand lungern. Aber nein, sie hingen nicht ziellos da rum, genau betrachtet folgten sie uns. Sie hielten zwar noch einen Respektabstand, aber irgendwie machte es den Eindruck, dass sie darauf warteten, dass einer von uns vor Anstrengung umfiel und liegen blieb.

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Und das war es auch, was nach stundenlangem Kampf gegen den Sturm, dem Reißen am Lenker in Gegenwehr der Böen, dem ziehen am unsichtbaren Gummiband, an dem wir den tonnenschweren Felsbrocken hinter uns her zogen, uns nahe lag: Umfallen und liegenbleiben. Es war so sinnlos mit sieben Stundenkilometern durch diese Wüste zu fahren. Hätte ich noch Energie übrig gehabt einige Rechenaufgaben zum Zeitvertreib zu bewältigen, so wäre mir die Sinnlosigkeit noch heißer in die Glieder gefahren: Wir würden bei dieser Geschwindigkeit noch weitere 55 Stunden im Sattel sitzen müssen, um dieser Wüste zu entkommen. Also schlossen wir uns zusammen, gegen den Wind. Wir fuhren Windschatten, den ganzen Tag und auch noch den darauffolgenden. Keiner wollte sich die Blöße geben und so führte jeder zu lang. Zehn Minuten war man an der Spitze und gab alles:  ALLES. Nach fünf Minuten Führung dachte ich, es würde nur noch Sekunden dauern bis der letzte Blutstropfen aus den Muskeln meiner Schenkel gepumpt sei. Dann begann der Schmerz, wie eine Art Unterdruck von den Beinen über den Bauch in den Brustkorb zu wandern. Stierer Blick auf den Tacho: Ich muss die 13 km/h halten, Tom hat es vor mir auch zehn Minuten durchgestanden und vor ihm Victor.

Nur noch vier Minuten 40 Sekunden. Nicht an die Zeit denken sonst vergeht sie noch langsamer. Dann, zum Glück, kollabiert das Hirn und rutscht in die Beine. Keine Gedanken mehr. Weißes Rauschen. Außer dem Schmerz in den Beinen nur noch ein weiterer Sinneseindruck: Dröhnen des Sturms in den Ohren. Oder war es mein Blutdruck, der in den Ohren dröhnt? Kurzer Blick in den Rückspiegel. Befriedigung: Sie ducken sich alle in meinen Windschatten. Sie fürchten den Sturm, den ich diese ewigen zehn Minuten für sie bekämpfe. Kurze Musketierphantasie, dann die Frage: Warum nicht einfach anhalten und warten bis alles vorbei ist? Wir haben nicht genug Wasser für einen weiteren Tag, das war es, wir müssen weiter. Fünf Minuten, nachdem ich dachte ich könne keine weitere Sekunde länger durchhalten, sind meine zehn Minuten Leiden um. Victors Kampf gegen den Sturm beginnt. So wechseln wir uns fast zwei Tage ab. Jeder portioniert sein Leiden in Zehn-Minuten-Einheiten. Am zweiten Tag begann der Pass aus dem Tal anzusteigen. Jetzt hatten wir die Steigung UND den Wind gegen uns. Das war zu viel. Imke und ich konnten den Rhythmus der Jungs nicht mehr halten. Wir hatten einen sehr schönen Abend in der Wüste mit ihnen verbracht, wir hatten füreinander gelitten und uns übereinander lustig gemacht, dass der Sturm immer wieder das Zelt uns über dem Kopf wegreißt: Wir hatten Freundschaft geschlossen. Jetzt war die Zeit des Abschieds gekommen. Wir hielten nicht an dafür. Wir brüllten einander an während wir weiter im Wind nebeneinander herfuhren. Wir reichten einander die Hände in der Fahrt, klopften Schultern ohne mit dem Treten auszusetzen und hatten Klöße im Hals, vielleicht vom Abschied, vielleicht einfach nur vom vielen geschluckten Staub. Sie würden weiter nach Südamerika fahren, wir wollten nach Westen Richtung San Francisco. Jetzt reihten wir uns wieder hintereinander ein, wir hatten uns zwar verabschiedet, unsere Reifen waren aber nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Dann ließ ich das Loch im Windschatten aufreißen, noch einmal die Hand heben, über den Lärm des Sturms hinwegnicken. Jetzt begann der Superzeitlupenabschied. Zentimeter um Zentimeter entfernten sich die drei Gestalten über ihre Lenker gebeugt. Viel Wehmut liegt in dem Blicken auf sich abwendende Rücken. Auch wir kämpften weiter zäh und kraftvoll gegen den Wind. Eigentlich steckt es ja in jedem winderprobten Radfahrer instinktiv drin: Das Hinterrad des Vordermanns nicht verlieren! Aber in diesem Fall wäre mir lieber gewesen, der Abschied wäre schneller vorüber gewesen. Absteigen gegen diesen verfluchten Sturm wollte ich aber auch nicht – nicht einen Zentimeter Boden würde ich dem Sturm überlassen. Niemals. Um uns die große Leere der Wüste und vor uns diese drei gebeugten Rücken, die langsam, endlos langsam immer ferner schwanden: Das ist die bildgewordene Wehmut darüber, dass wir eben auf der Straße heimatlos sind und die Freundschaften nur kurz genießen dürfen, bevor sie gen Horizont entschwinden. Weit, weit entfernt als drei kleine schwarze Punkte kann ich sie gerade noch sehen, Gui, Victor und Tom. Dann sind sie verschluckt vom Horizont. Jetzt sind wir wieder allein in dieser wüsten Weite und müssen ohne Hilfe gegen den Sturm kämpfen.

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Nicht jede Begegnung in der Wüste wünschten wir uns so nah. Denn in den meisten Begegnungen blickten wir auch dem Wahnsinn in die Augen. Vielleicht liegt es ja in der Natur dieser kargen Weite, dass das Nahe so viel intensiver wird, dass jede Begegnung auch surreal und irrsinnig erscheint. In den vergangenen zehn Tagen konnten wir uns entgegen unserer Informationen nur von Tankstellen ernähren: Chips, Tütensuppen, Snickers und Toastbrot. Orte mit mehr Zivilisation gab es keine. Dazwischen immer wieder Distanzen, die deutlich länger als eine harte Tagesetappe waren. Wir bewegten uns in einem riesigen Gebiet, in dem sich vier der größten Waffentestareale der US-Armee befinden. Wo, wenn nicht hier im Nichts, konnte man getrost großflächig alles in Grund und Boden bomben? Wen würde es schon treffen außer Kakteen, Taranteln, Schlangen und einigen Wüstenmäusen?

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Immer Schuhe vor dem Anziehen ausschütteln und Zelt nicht offen lassen!
Immer Schuhe vor dem Anziehen ausschütteln und Zelt nicht offen lassen!

Tag und Nacht hörten wir das Donnern und Grollen der größten und geheimsten Waffen der Supermacht. Wir hielten es zunächst für heranziehende Gewitter, denn am vermeintlich trockensten Ort der Welt (Death Valley) wurden wir doppelt so oft nassgeregnet wie an den bisherigen 90 Tagen unserer Reise. Das Donnern des nächsten Krieges war die Hintergrundmusik zu den seltsamen Begegnungen der Wüste: Benjamin Best zum Beispiel (Name nicht abgeändert!) kam uns zu Fuß entgegen, unendlich langsam sein Fahrrad schiebend auf einer Straße, die von Horizont bis Horizont die menschenleere Wüste durchschnitt und ihn vom Nirgends ins Nirgends bringen würde. In einem irren Zickzackkurs durch alle Wüstenstaaten der USA hatte er mit seinem Kinderanhänger, der für ihn ein Krimskramsanhänger war,  seit Monaten ein klares Ziel vor Augen. „Ich werde denen erzählen, was ich von ihnen halte! Ich werde direkt in die Zentrale fahren und mein Fahrrad vor dem Eingang parken und dann werde ich ihnen sagen, dass sie mit mir nicht alles machen können. Ich habe es satt, dass da immer wieder neue Features aufpoppen und mein Konto ständig geändert wird. Ich werde nach Menlo Park fahren, direkt zur Zentrale und denen bei facebook persönlich sagen, dass sie das mit mir nicht machen können. Ich bin es satt! Und ich bin sicher, sie wissen, dass ich komme.“ Wir versuchten ihm Wasser aufzudrängen oder wenigstens etwas Toastbrot mit auf den Weg zu geben, denn wir machten uns Sorgen um ihn, auch wenn wir sein Anliegen mit vollem Herzen unterstützen konnten. Die nächste Ortschaft lag sicher drei Schiebeetappentage voraus. Er wollte aber von Wasser und Brot nichts wissen und erzählte uns weiter von facebook. Schließlich ölten wir dann wenigstens seine Kette, denn wer auf so zähe Weise Sand im Getriebe der Welt zu sein versucht, dem sollte wenigstens die Kette nicht quietschen.

Benjamin Best auf dem Weg nach facebook
Benjamin Best auf dem Weg nach facebook

Wen wir am liebsten nicht getroffen hätten und ihn auch nicht nach seinem Namen gefragt haben, war jener mexikanisch-Italienische Einsiedler in seinem verrosteten Wohnanhänger, der den verlassenen Wohnmobilpark in Chambless beaufsichtigte. Wir hatten uns mal wieder gewohnt knappe und präzise Aufschriebe zu den wenigen Wasserpunkten der Wüste gemacht. Dort war alles Wichtige verzeichnet: Distanzen, Höhenmeter, Wasserstellen, Tanken. Wir konnten ja nicht wissen, dass der Wohnmobilpark in Chambless unterdessen verlassen und geschlossen war. Auch Google sagte uns noch die aktuellen Öffnungszeiten für Oktober. Aber wir hatten zu diesem Zeitpunkt Benjamin noch nicht getroffen und seine Zweifel an den Internetgiganten hätten auch uns misstrauischer gemacht.

Das einzige Gebäude von Chambless
Das einzige Gebäude von Chambless

Wir hatten allerdings keine Wahl, unsere Wassersäcke waren leer und vor uns lagen wieder zwei staubtrockene Tagesetappen. Wir standen vor dem offenen Tor des Staubplatzes mit der Ortsbezeichnung Chambless und hatten den Wasserhahn in Sichtweite. Neben mir ein Schild „No Trespassing“, das ich allerdings nicht sah. Ich wollte zum einzigen ziemlich heruntergekommenen Wohnwagen rüberschlendern und dann ein vages „Hello“ in die Leere rufen. Ich hätte es allerdings andersherum machen sollen, erst das „Hello“ und dann keinen einzigen weiteren Schritt. Aber hinterher ist man meistens klüger. Ich sah ihn nämlich nicht und weiß bis heute nicht woher er kam und wie er so schnell eine Schrotflinte in die Hand nehmen konnte. Da stand er, ein Typ wie aus der entsprechenden Filmszene, die Schrotflinte im Anschlag, und brüllte mich an mit einem sehr aggressiven Schwall unverständlichen Kauderwelsches. Ich verstand kein Wort und dennoch alles in derselben Sekunde. Es ist überflüssig zu beschreiben, was man macht, wenn man in den Lauf einer Schrotflinte schaut. Vielleicht ist das die Erzählung, die man später beim Bier zu Hause mit Freunden genüsslich erzählen wird. Vielleicht möchte man auch nicht mehr daran denken und lässt es auf sich beruhen. Auch wenn es so glimpflich ausgeht, bleibt ein sehr schlechter Geschmack zurück, ein Geschmack, der im Donnern der Nächte neben den Waffentestgebieten in schlechte Träume übergeht. Als ich das Tor des Wohnmobilparks 15 Minuten später wieder verließ, hatte ich zwei volle Wassersäcke und eine Tüte mit eisschrankkühlen Orangen und Zitronen in der Hand. Und ich habe die Erinnerung an das, was der Namenlose mir in seinem Wohnwagen alles an Waffenarsenal zeigte, wohlmeinend, während ich dem besoffenen Jonglieren mit Knarren auszuweichen versuchte, immer wieder ruckartig meinen Kopf aus der Schusslinie bewegend.

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Viele Kurven lagen nicht auf unserem Weg

Am nächsten Tag war alles wieder ganz anders. Nach einer unruhigen Nacht mit Bombendonnern und schlechten Träumen saßen wir kaum eine Stunde im Sattel, als wir den Interstate Highway 40 kreuzten. Vor drei Tagen sind wir fünf Stunden auf dessen Seitenstreifen gefahren, bevor wir endlich auf die alte Route 66 abbiegen konnten. In Californien ist es verboten, mit dem Fahrrad auf der Autobahn zu fahren, nicht so in Arizona… In Arizona ist auch der Kauf von Waffen kinderleicht – immer wieder erinnere ich mich an Gesprächsfetzen aus dem Psychotrailer von gestern. An der Autobahnauffahrt steht ein beeindruckender Polizeiwagen der Highwaypatrol und hat ein kritisches Auge auf den Verkehr. Das Außenmikrofon knackt, der Sheriff räuspert sich in 150 Dezibellautstärke. In der Leere der Wüste hört sich das an wie in einem Hollywoodfilm über die 10 Gebote. Gott räuspert sich, dann kommt die überlaute Stimme aus den Wolken: „Have fun!“ Ich nehme meine Musikohrhörer (Geschenk der SMV) aus dem einen Ohr, denn ich denke nicht richtig verstanden zu haben. „Have fun!“ wiederholt der Highwaypatrol Sheriff über Lautsprecher. Ich grinse und nicke versonnen.

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Keine 15 Minuten später, ich denke noch über Gesetzeshüter, Gewalt und Guns nach, hält neben uns ein alter Minivan am Straßenrand. Chris und Sherry haben viel gefeiert und sind noch sehr bekifft, also möchten sie ihre innere Buntheit mit uns teilen. Was folgt ist unbeschreiblich und kann auch durch das kleine Video, das ich dann skrupellos von dem Stand-In am Straßenrand gemacht habe, nur andeutungsweise eingefangen werden. Wir werden Zeuge und ja, auch Teil einer esoterischen Motivationsveranstaltung für Weltradler in der Wüste. Denn Sherry will, dass wir uns dehnen und dann wieder anspannen – „flex and span“ – und schließlich wird unsere Aura noch durch geschenkte Smoothies und einen ayurvedischen Motivationstanz am Straßenrand gestärkt. Wir sind begeistert und fliegen die restlichen Kilometer ohne Bodenkontakt hoch auf die Passhöhe zum Mojave Preserve.

Ach ja, zum Abschluss wollte Chris wissen, ob wir reich seien. Bevor ich ihm allerdings diese Frage beantworten konnte, verlor er schon wieder das Thema und sprach über die Schönheit der deutschen Frauen, die vom guten Brot herrühre. Ich unterstützte ihn in dieser Annahme, möchte die Antwort auf die ursprüngliche Frage aber nicht schuldig bleiben

Die Wüste war schön und sie war feindlich. Sie hat an uns gezehrt und sie hat uns bereichert. Weil wir uns Zeit für sie nahmen, wurden wir gefragt, ob wir reich seien. Ja, wir sind reich, extrem reich sogar, allerdings nicht im üblichen, plumpen Sinn.

Reichtum!
Reichtum!