Der große Graben

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Colorado City

Zeichen zu entziffern, die nicht sichtbar sind, Stimmungen zu lesen, die nicht an Einzelheiten festzumachen sind, Atmosphären aufzufassen, die nicht offen zu erspüren sind, das sind Fähigkeiten, die Lebewesen entwickeln, die auf der Hut sein müssen. Vielleicht, auch wenn eine solche Analogie immer fragwürdig ist, geht es Tieren so, die sich vor Gefahren in Acht nehmen müssen, weil die Umwelt jederzeit in Bedrohung umschlagen kann. Sicherlich geht es auch Menschen so, die für längere Zeit den Schutzraum ihrer Behausung, die bekannte Nachbarschaft oder den vertrauten Kulturraum verlassen und in der Fremde oder „Draußen“ leben – Obdachlosen vielleicht oder auch Langstreckenradfahrern. So beschreiben es viele von denen, die wir auf der Straße getroffen haben. Und auch die Abgebrühten, die schon viel erlebt haben, sprechen davon mit ernsthaftem Respekt. Eine gewisse Furcht ist diesem Gespür für Orte und Situationen immer auch eigen. Denn es gibt gute Orte und böse Orte.

Ein solch ominöses Gefühl schlich sich in unsere Gedanken an dem Tag, an dem Colorado City die einzige Ortschaft sein sollte, die auf unserer Strecke lag. Begonnen hatte dieser Tag sonnig und die ersten 40 Kilometer fuhren wir hinaus aus der Agglomeration St. George und Hurricane auf sehr stark befahrenen Straßen, die aber einen breiten Seitenstreifen für uns hatten. Imkes Vorderrad war ohne weitere Verzögerung repariert und eingebaut worden. Wir waren vorbereitet auf den vor uns liegenden Streckenabschnitt zum Nordrand des Grand Canyon. Heute wollten wir die Staatengrenze nach Arizona überschreiten. Wir wollten Kilometer machen, denn ein großartiges Ziel lag vor uns – sicher eines der größten Naturwunder dieser Erde. Nach längerer Zeit der Kälte hatten wir wieder tiefere Lagen erreicht und in den letzten zwei Tagen die Wärme genossen. Jetzt erarbeiteten wir uns wieder die Höhe des Colorado Plateaus, das sich auf über 2000 Metern über Meer östlich von Las Vegas erstreckt. Mitten durch diese rund 500 Kilometer ausgestreckte Hochebene zieht sich ein gewaltiger Riss, den der Colorado River in Millionen von Jahren gefressen hat. Vor uns würde sich bald ein Abgrund von 1700 Metern Tiefe auftun, der bis heute durch keine für Fahrzeuge passable Brücke gezähmt werden konnte. Durch diese fast unüberwindliche Barriere ist der Norden Arizonas, der sogenannte „Arizona Strip“ von der restlichen Zivilisation des Staates abgeschnitten. In der ohnehin sehr dünn besiedelten Wüstenlandschaft steht diese Ortsbezeichnung für eine Gegend, die noch abgeschiedener, noch schwerer zugänglich und daher noch ungewisser war, als alles, was wir bisher durchfahren hatten. Colorado City, genau auf der Staatsgrenze zwischen dem Mormonenstaat Utah und dem Wüstenstaat Arizona gelegen, war die einzige Ortschaft, in der wir unsere Hoffnung auf Wasser und Lebensmittel setzten. In den vergangen Tagen, als wir unsere Erkundigungen bei den Einheimischen einholten, hörten wir immer wieder, dass dies eine eigenartige Gegend sei. Dabei wurde das Wort „eigenartig“ jedes Mal mit einem mehrdeutigen Unterton belegt. Wir wunderten uns nicht weiter, vielleicht war das die Art, wie hier die Städter über die Wüste und die Rednecks, die Farmer, sprachen.

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Als wir in Hurricane auf den Highway 389 einbogen, merkten wir bald, dass dies kein vergnüglicher Ritt durch die Wüste werden würde. Der Verkehr war dicht, einen Seitenstreifen auf den wir uns retten konnten, gab es keinen und die Fahrweise auf dieser Straße war schnell und rücksichtslos. Eine Alternative gab es nicht. Wir mussten entweder diese Straße zum Nordrand nehmen, um im Osten um den Grand Canyon herum zu fahren, oder im Westen über Las Vegas den Canyon zu umgehen. Die irre Casinostadt mit dem Fahrrad anzufahren, erschien uns auch keine gute Idee. Nach einer Stunde Steigung bogen wir auf die erste Staubpiste ab, die sich uns bot und setzten uns 100 Meter abseits des Highways in den Staub. Wir gaben beide vor hungrig zu sein, aßen aber kaum etwas und waren still mit unseren Gedanken beschäftigt. Wie wir später feststellten, beschäftigten uns dieselben Überlegungen und Gefühle. Woher kommt plötzlich diese enorme Niedergeschlagenheit? War es allein die Furcht vor dieser Straße, auf der wir mindestens die nächsten eineinhalb Tage verbringen müssen? Ist es nur meine momentane, vorübergehende Stimmung, die die Situation düster erscheinen lässt? Wie gefährlich ist der Verkehr objektiv, nach Abzug meiner schlechten Tagesstimmung? Gibt es wirklich keine Alternativen zu dieser Straße? Warum waren wir so gänzlich jeder Energie beraubt die bedrückende Stimmung zu wenden? Die Staubpiste an deren Rand wir saßen würde im Nichts enden, irgendwo in der Wüste viele Kilometer vor dem großen Abgrund, ebenso alle anderen Pisten, die jemals von dieser Straße abzweigen würden. In der nächsten halben Stunde sprachen wir nicht über das unvermeidlich vor uns Liegende. Drei Jeeps bogen in dieser Zeit auf die Piste ein und hüllten uns in eine immer dicker werdende Staubschicht. Jeden dieser Wagen hielten wir an, zwei Städter mit Mountainbikes auf ihren Jeeps und ein Farmer mit Kühen im Anhänger. Alle drei bestätigten uns, dass es keine Alternative zu diesem Highway gebe, nicht einmal die robustesten Geländefahrzeuge würden die im Vorfeld des Grand Canyon von dessen Erosionszuflüssen zerfurchte Landschaft durchqueren können. Was uns aber mehr noch als diese deprimierenden Auskünfte besorgte, waren die mehrdeutigen Hinweise, die wir bezüglich Colorado City und der Gegend allgemein erhielten. Alle drei, unterschiedliche Charaktere, fragten uns auf die uns langsam gruselig werdende Art und Weise, ob wir denn auch wüssten in was für einer Gegend wir uns befänden und was es mit Colorado City auf sich habe. Wir sollten es bald erfahren, sehr detailliert sogar.

Zunächst aber, wollten wir das Verkehrsproblem lösen. Ohne Absprache kamen wir zum selben Schluss. Wir wussten immer schon, dass die Weltumrundung mit dem Fahrrad nicht immer auf gemütlichen, verschlafenen Sträßchen zu bewältigen war. Und wir wussten auch, dass wir uns nicht vermeidlichen Gefahren für Gesundheit und Leben aussetzen wollten. Wir beschlossen den Daumen in den Wind zu halten und eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen – mit zwei Fahrrädern und 10 Packtaschen, insgesamt über 100 kg, würde das sicher nicht einfach werden. Wir standen eine Dreiviertelstunde, kein Auto hielt an. Hinter uns verdunkelte sich in Richtung Colorado City der Himmel. Ein Gewitter kündigte sich an. Unsere Stimmung wurde ebenfalls immer düsterer. Plötzlich hielt ein großer Jeep mit Anhänger auf der Gegenfahrbahn – falsche Richtung. Er wendete und hielt neben uns im Straßengraben. Was war geschehen?

Kim und Terra Sue haben den richtigen Anhänger für uns
Kim und Terra Sue haben den richtigen Anhänger für uns

Kim und Terra Sue hatten uns gesehen, waren vorbeigefahren, beratschlagten und beschlossen umzudrehen: um uns mitzunehmen! Ich erinnerte mich, dass sie vor rund einer halben Stunde an uns vorbeigerast waren. Ja, es hätte vorher eben keine andere Wendemöglichkeit gegeben und so seien sie eben die Viertelstunde wieder zurück zu uns gefahren. Wir waren sprachlos. Noch sprachloser wurden wir allerdings, als wir von Kim in den folgenden Stunden die Geschichte von Colorado City hörten. Wir hätten keinen besseren finden können, der uns diese Geschichte erzählt, denn Kim ist „Agent in Charge“ des State of Utah, Department of Correction, bei uns vielleicht so eine  Mischung aus Kripo-Kommissar und Steuerfahnder. Er beschäftigt sich mit den mafiösen Geschäften einer Sekte, die ausschließlich in Colorado City lebt und auch mit sehr brutalen Mittel sicherstellt, dass außer ihren Mitgliedern niemand sonst sich dort ansiedelt. Wir sagten ihm, dass wir eigentlich in Colorado City nach Wasser fragen wollten und Lebensmitteln kaufen, vielleicht sogar zu übernachten planten. Er wendete seinen Blick von der Fahrbahn ab und drehte sich zu uns um. Ohne jedes Grinsen, sagte er: „Dann ist es doppelt gut, dass wir euch mitnehmen, dort gibt es sehr viele Waffen. Wir wissen, dass immer wieder Menschen in der Wüste unter ungeklärten Umständen verschwinden, aber wir können da kaum je etwas nachweisen.“ Dann verlor er jegliche dienstliche Zurückhaltung und erzählte.

Um die unwirtliche Wüste Utahs zu bevölkern, betrieben die Mormonen im 19. Jahrhundert intensive Mission in Europa. Sie warben Familien an mit der Zusage auf Land und bezahlte Überfahrt, selbst die Schiffspassage aus Europa wurde gezahlt. Bald aber waren die Kassen der Kirche der Heiligen der Letzten Tage, Latter Day Saints (LDS), wie sich die Mormonen selbst bezeichnen leer. Also sollten die neuen Mitglieder mit von Menschen gezogenen Handwagen den letzten Abschnitt durch die Wüsten und Canyons der Rocky Mountains zurücklegen. Mit solch einem brutalen Treck kam auch einer der Vorfahren von Kim in die Gegend des Arizona Strip. Zu dieser Zeit, waren die Lebensbedingungen so rau, dass viele Männer starben. Es war daher praktisch, dass die Mormonen Anhänger der Polygamie waren, der Ehe, in der ein Mann mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet sein kann. Wie auch immer man darüber denken mag – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab die LDS auf Druck der Bundesregierung in Washington die Polygamie auf. Jedoch nicht alle Anhänger folgten dieser Entscheidung. In einer abgelegenen Region, im sogenannten Arizona Strip, in einem noch abgelegeneren Dorf, genau auf der Grenze zwischen Utah und Arizona, gibt es bis heute eine verbissene, militante und wie wir hörten höchst kriminelle Abspaltung der Mormonen, die weiterhin Polygamie praktizieren und als zentralen Glaubensinhalt verteidigen: Die Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (FLDS). Das Dorf heißt Colorado City.

Was uns Kim erzählte, wollten wir eigentlich nicht glauben und es ließ uns in der folgenden Nacht im Zelt nicht gut schlafen. Hier werden immer noch minderjährige Mädchen an alte Männer zwangsverheiratet; den Überschuss an jungen Männern löst man durch Verstoßung oder Schlimmeres, Frauen werden wie Gefangene gehalten, Steuerbetrug mit Nebenehefrauen gehe in die Millionen Dollar, Auseinandersetzungen mit der US-Staatsgewalt nahmen in den 80ern und 90ern bürgerkriegsähnliche Ausmaße an. Und neugierigen Fremden werde mit Waffen gedroht. Auch uns wäre, so Kim, mindestens ein Pickup mit Bewaffneten durch die Gemarkungen des Dorfes gefolgt, um sicher zu stellen, dass wir die Gegend wieder verlassen.

Wir waren froh, als wir im Auto saßen, während wir durch die Ansiedlungen fuhren, denn alles machte einen feindlichen und düsteren Eindruck. Die Häuser waren von hohen Mauern, dichten Dornenbüschen und Stacheldraht umgeben. Kaum erhielt man den Eindruck es handele sich hier um ein Dorf, eher war es eine zersiedelte Festung. Eine unheimliche Stimmung. Kim und Terra Sue stellen sicher, dass sie uns weit genug außerhalb auf eine abgelegene Staubpiste entlassen konnten. Weit genug, um nicht mehr von dunklen Pickups begleitet zu werden. Es dämmerte schon als wir uns bedankten und verabschiedeten. Wir schlugen uns in die Büsche und fanden einen guten Platz für unser Zelt. Die Nacht, die jetzt anbrach, war aber dunkler in unserer Empfindung. Und auch der nächste Morgen, mit einer anspruchsvollen Schotterpiste vor uns bis zum Pass auf 2700m Höhe und dann weiter zum Grand Canyon, war noch beschwert durch die Gedanken an Kims unglaubliche Schilderungen.

 

1,8 Milliarden Jahre in drei Tagen

Gestern Abend waren wir zu müde, um uns noch mit der vor uns liegenden Strecke zum Grand Canyon zu beschäftigen. Und heute früh tat es gut, auf der Picknickdecke in der Sonne zu sitzen, die dunklen Gedanken von gestern zu verscheuchen und über unsere Erlebnisse zu sprechen. So kam es, dass wir uns erst am späten Vormittag auf den Weg machten.

Wir schoben unsere Räder von unserem gut versteckten Lagerplatz im Wald auf die staubige Schotterpiste und fuhren wieder guter Dinge los – auch wenn es viel mehr Kraft kostet, das schwer beladene Fahrrad über die losen Steine und durch den Sand zu steuern, waren wir doch froh, allein und in Frieden ohne Verkehr durch die allmählich gelb werdenden Bäume zu fahren. Auch als wir feststellten, dass wir, um an den 2500 Meter hoch gelegenen Nordrand des Grand Canyon zu kommen, über einen weiteren 2700 Meter hohen Pass mussten, konnte das unserer Laune nichts anhaben.

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„Ralph fährt weiter links – ob die Straße dort besser fahrbar ist?“, überlege ich und versuche in einem Zickzackkurs, die beste Spur durch den Schotter zu finden. Da fährt plötzlich ein Pickup neben mich, verlangsamt seine Fahrt, und zwei „Rednecks“ lehnen sich aus den Fenstern. Bärtige, untersetzte, finster aussehende Typen, die mit ihren tätowierten Armen keinen so vertrauenswürdigen Eindruck machen. Sicher bekomme ich gleich einen blöden Spruch zu hören, dass ich soweit auf ihrer Seite gefahren bin.

Doch weit gefehlt. „Seid ihr sicher, was ihr da tut? Das ist eine lange, lange Steigung, es gibt kein Wasser, wollt ihr nicht lieber mit uns mit fahren?“ (Diese Frage kommt uns doch bekannt vor…) Natürlich nicht, jetzt haben wir doch gerade erst den Daumen rausgehalten! Mit unserer wiedergefundenen Zuversicht versichern wir, dass das hier alles „part of the adventure“ sei und wir gut ausgerüstet seien. Das beeindruckt die beiden, und sie nicken verständnisvoll mit den Köpfen, doch besorgt sind sie immer noch: Ob wir denn guns bei uns hätten? Hier gebe es viele Berglöwen, und sie würden sich niemals ohne Waffen zum Holzmachen in diese Gegend wagen. Ein wenig mitleidig blicken sie uns an, als wir erklären, dass wir Deutsche seien und es uns deshalb nicht erlaubt sei Waffen zu tragen. Dafür klärt sich dann aber auch ihre Frage, was unsere zweite Flagge am Fahrrad denn für eine komische amerikanische Fahne sei – ach so, das ist Deutschland! Auf unsere Frage hin, woher sie denn kommen, antworten sie ausweichend: „Da hinten von der Grenze.“ Das verstehen wir seit gestern nun ohne weitere Erklärungen.

Immer noch sehr besorgt um uns, warnen sie uns  noch, bevor sie weiterfahren: „Passt in diesen Wäldern gut auf! Es ist gerade Jagdsaison, hier sind überall Jäger unterwegs. Verlasst am besten die Straße nicht.“ In der Tat hören wir den ganzen Tag über, während wir uns langsam die Schotterpiste hocharbeiten, in der Ferne immer wieder Schüsse. Kaum ein Straßenschild, wie übrigens fast überall hier im Westen von Amerika, das nicht zerschossen ist. Sicher können wir uns nur in den paar Minuten fühlen, in denen wir das unerklärliche Schild „No shooting for one mile“ passieren. Um unsere Würde zu schützen, haben wir kein Foto davon gemacht, was ich Euch hier aber erzählen will: Für den Toilettengang hinter den nächsten Baum haben wir lieber eine Warnweste angezogen.

Ein Schild auf 50 Meilen Schotterpiste
Ein Schild auf 50 Meilen Schotterpiste – und alle schießen darauf

Dieser Tag dauerte länger als gedacht. Die letzten Kilometer zum Grand Canyon fuhren wir im Dunklen, dank unserer beiden tollen Dynamos zum Glück mit hellem Licht. Ziemlich ausgepumpt erreichten wir den Campingplatz am North Rim und waren froh, überhaupt einen Platz für unser Zelt zu bekommen. Im Licht der Stirnlampen bauten wir mit steif gefrorenen Fingern rasch unser Zelt auf und krochen sofort in unsere Schlafsäcke, denn hier oben auf 2500m war es schon wieder ziemlich kalt.

„Imke! Wach auf! Komm schnell raus! Das musst du sehen!“ Es war kaum hell, und normalerweise bringt mich um diese Uhrzeit nichts aus meinem Schlafsack, in dem ich wie verpuppt warm eingewickelt liege und den ich am liebsten nie mehr verlassen möchte. Doch der eindringliche und zugleich begeisterte Klang von Ralphs Stimme bewegt mich dazu, den Kopf aus dem Zelt zu stecken. – Was ich da erblicke, ist größer als das, was Worte fassen können. Direkt vor meinen Augen öffnet sich der gähnende Abgrund des Grand Canyon. In der Schwärze der gestrigen Nacht haben wir unser Zelt direkt an die Abbruchkante gestellt. Jetzt fällt mein Blick vom Schlafsack aus auf die grün und weiß leuchtenden Felsschichten, die von der orangenen Morgensonne angestrahlt werden und steil  in eine noch dunkle Tiefe abfallen, deren Grund zu weit ist, als dass man ihn mit bloßem Auge erkennen kann. Sprachlos vor Glück und Ergriffenheit trinken wir unseren Morgenkaffee auf einer kleinen Holzbank am Felsrand und sehen zu, wie das Sonnenlicht immer tiefer in die gewaltige Schlucht fällt und die vielen Farben der Gesteinsschichten zum Leuchten bringt.

Auf dieser kleinen unscheinbaren Holzbank wurde eine große Idee geboren. Durch den aus unseren Bechern aufsteigenden Dampf blicken wir auf den 20km Luftlinie entfernten Südrand des Grand Canyon, von wo aus wir weiter durch Arizona nach Kalifornien fahren wollen. Der Weg zum Südrand führt aber in einem 400km weiten Bogen aus dicht befahrenen Straßen weit um den Canyon herum. Mein Hirn arbeitet vor Kälte und Schläfrigkeit noch langsam, es ist vollauf damit beschäftigt, die Wärme des Kaffees und den atemberaubenden Ausblick auszukosten. So ist es Ralph, der es zuerst ausspricht:

„Warum sollen wir einen so großen Umweg fahren, wenn unser Ziel hier direkt vor uns liegt? Wir laufen da durch! Wir wandern auf die andere Seite des Grand Canyon!“

Diese Idee packt uns beide sofort. Aus der friedvollen, meditativen Sonnenaufgangsstimmung spülen uns die sich überstürzenden Ereignisse in eine begeisterte Geschäftigkeit. Wir finden heraus, dass es am Fuße des Grand Canyon zwei winzige, einfachste Campingplätze gibt. Um dort zu übernachten, braucht man allerdings ein „Back Country Permit“, auf das man normalerweise mindestens vier bis fünf Tage warten muss. Diane aus dem Back Country Office ist von unserer Idee allerdings auch so begeistert, dass wir wenige Stunden später das Permit in Händen halten. Steve, der „Ranger-Guru des Grand Canyon“, würde am liebsten gleich mit uns mitlaufen und ist so beeindruckt von unserer Fitness, dass er uns nur den Tipp mit auf den Weg gibt: „Ihr seid so durchtrainiert und werdet so schnell sein, dass ihr fast nichts mitnehmen müsst – the lighter you travel, the more fun you have.“

Greg verdanken wir neben vielen Infos unser bestes Mittagessen seit Wochen und zwei alte Rucksäcke
Greg verdanken wir neben vielen Infos unser bestes Mittagessen seit Wochen und zwei alte Rucksäcke

Sicherlich fragt Ihr euch: Aber was wollen die denn mit ihren Rädern machen? Das taten wir auch, aber nur kurze Zeit. Dann schloss Ralph Freundschaft mit Greg, dem Fahrer der Belegschaft, die am North Rim arbeitet. Greg nahm Ralph gleich mit in seinen Bus und zeigte ihm alles, was am North Rim wirklich wichtig ist: Die Duschen, die Kantine, wo nur die Mitarbeiter für fünf Dollar essen dürfen („Sagt einfach, ihr kennt Greg, dann könnt ihr essen was und soviel ihr wollt!“ – und das taten wir!) und „Trans Canyon“, die Shuttlebus-Organisation, die normalerweise Menschen oder Rucksäcke ans South Rim transportiert. Es dauerte nicht lange, bis wir auch Maggie auf unserer Seite hatten und unsere Räder sicher verstaut in einem kleinen Trailer standen, in dem sie von Maggie selbst an den Südrand des Grand Canyon gefahren werden und dort auf uns warten sollten. Trotz dieser hervorragenden Lösung fühlte es sich ein wenig merkwürdig an, plötzlich so ohne Fahrrad dazustehen, nachdem wir nun fast drei Monate lang keine Nacht weniger als drei Meter von unseren Pferden entfernt geschlafen hatten.

Jetzt fehlten eigentlich nur noch – Rucksäcke, genau! Trotz aller Fitness sind der Abstieg und der Aufstieg aus der Schlucht des Grand Canyon so anspruchsvoll, dass wir Zelt, Isomatten, Wasser und Essen schlecht in unseren Satteltaschen wie die Sherpas auf dem Nacken tragen können. Doch wir hatten nicht mit Greg gerechnet, der in Windeseile aus dem „Liegengeblieben – Fundus“ der Kantine zwei sehr bemerkenswerte und einzigartige Rucksäcke für uns zauberte. Ralph durchquerte den Grand Canyon stolz mit einem restlos abgerissenen himmelblauen Tagesrucksack in Kindergröße und auf meinem Rücken hüpfte ein schwarzes Stoffrucksäckchen mit Lederriemen, das besser in eine Shoppingmeile gepasst hätte. Unsere Vorräte für die kommenden drei Tage passten nicht mehr hinein, so dass an meiner Hand zusätzlich eine Plastiktüte baumelte. So ausgestattet machten wir uns am nächsten Tag fröhlich auf den Weg und hatten weniger Gepäck als jeder Tageswanderer.

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Es ist ein beeindruckendes und schwer zu beschreibendes Gefühl, 1700 Höhenmeter in die Tiefe eines solchen Naturwunders hinabzusteigen. Der Wechsel der Gesteinsschichten, an die sich der schmale Wanderweg klammert, erzählt die geologische Geschichte der 1,8 Milliarden Jahre, die hier übereinander liegen, und der ca. sechs Millionen Jahre, die der Colorado River brauchte, um sich durch sie herunterzuarbeiten. Die Farben der Felsen wechseln stetig und leuchten in Orange, Rot, Braun, Lila und Grün. Fünf Klimazonen durchschreiten wir in diesen drei Tagen. Haben wir gerade noch gefroren, wird es jetzt heißer und heißer, je tiefer wir kommen. Abends schlagen wir unser Zelt am Colorado River auf. Ungläubig staunend blicken wir die endlosen Wände hoch, die uns umgeben, und können uns kaum mehr vorstellen, dass dort oben gestern noch unser Zelt stand. Hier unten sind wir in einer anderen, von dem touristischen Gewurschtel völlig abgeschlossenen Welt, auf einem anderen Planeten. Die Grillen zirpen ohrenbetäubend, die rottrübe Gewalt des Colorado River rauscht beruhigend und zugleich ein wenig gruselig. Als über all dem noch der Vollmond aufgeht und sein klares Licht über die roten Felsen gießt, werden wir ganz still und wünschen uns, dass die Zeit still steht.

Noch vor der Morgendämmerung sehen wir die Lichter der Stirnlampen der ersten Wanderer wie aufgereihte Glühwürmchen an unserem Zelt vorbeiziehen. „Wie auf dem Mount Everest“, witzeln wir noch im Schlafsack, „bestimmt gibt es am Hillary Step einen Stau.“ Obwohl es natürlich sinnvoll ist früh zu starten, denn es sind 1500 Höhenmeter Aufstieg bis zum Südrand, und der Weg liegt voll in der Sonne und bietet keinen Schatten. Wir werfen zum Frühstück Erdnüsse ein. Wir haben zu wenig Brot dabei, und die wenigen Lebensmittel, die die Phantom Ranch am Ufer des Colorado River verkauft, sind so teuer, dass wir uns für Erdnüsse entschieden haben – das beste Kalorien-Preis-Verhältnis. Wir reihen uns in die Glühwürmchenschlange ein und haben schnell auch die ersten Frühaufsteher überholt. Die von oben kommenden Wanderer empfangen uns anerkennend: „Ihr seid die Ersten, die heute hochkommen!“

Oben angekommen nehmen wir unsere Räder wieder in Empfang, und es fühlt sich nach drei Tagen Wandern wunderbar an, wieder im Sattel zu sitzen.

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Spontane, kraftvolle Langstreckenbikerparty auf der Route 66 – drei Nationen treffen sich in der Wüste von Arizona

Nun sind wir auf dem Weg nach Kalifornien. Vor uns liegt ein großer Abschnitt NICHTS. Wir werden mal wieder durch Wüste fahren – den Joshua Tree Nationalpark, die Mojave Wüste und das Death Valley. Die Weiterfahrt Richtung Kalifornien verspricht interessant zu werden: Wir kommen durch drei Ansiedlungen mit den Namen Siberia, Bagdad und Mars. Nehmt es uns deshalb nicht übel, wenn es eine Weile dauert, bis wir uns wieder bei Euch melden können.

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