Am Ende ein See

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Am Pass vor dem Song-Kul See
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Nach über zehn Tagen harter Schotterpiste endlich der Song-Kul See auf 3000 Metern Höhe.

Am Ende ein See

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Er blickte auf mich herab, der etwa zwölfjährige Kirgise und ich versuchte mir so wenig vom Gesicht ablesen zu lassen wie möglich. Schon als er die letzten Meter im Galopp angeritten kam, bemühte ich mich, nicht vor dem großen Pferd zurückzuweichen und blieb auf der Stelle stehen, gewiss, dass er wie wir es schon kennen, sein Pferd nur wenig Zentimeter vor mir zum Stehen bringen würde. Ich lächelte innerlich über dieses Männlichkeitsspielchen, wusste aber, dass das erste Auftreten und der feste Händedruck wichtig sind für das, was kommt. Das Begrüßungsritual hatten wir hinter uns. Jetzt fletschte er die Zähne, schnappte zu, riss Fleischstücke aus meinem Leib, indem er den Kopf heftig hin und her warf. Gleichzeitig knurrte und bellte er und schmetterte mir wilde Blicke entgegen. Dann ließ er plötzlich von mir ab, nur um sogleich in ein gruseliges Heulen einzustimmen, so würde er seine Artgenossen herbeirufen. Von ihnen allen zusammen gejagt, in Todesangst versetzt, würde ich fliehen, wäre aber niemals schnell genug und müsste schließlich gehetzt im weiten Grasland jämmerlich zugrunde gehen, das war sicher. Würde ich jetzt endlich begreifen, dass meine einzige Rettung vor diesem elenden Schicksal die Übernachtung in ihrer Touristenjurte sei? Nur 800 kirgisische Som die Übernachtung pro Person, inklusive Frühstück, sei mir das nicht mein Leben wert? Ich solle mir bewusst sein, dass ich außerhalb der Jurte unweigerlich von den Wölfen gefressen werde.

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Die Pferde grasen tagsüber frei und werden abends zurück zu den Jurten getrieben, wo die Stuten gemolken werden.

Lächelnd beteuerte ich ihm wie schon vor seinem gekonnt aufgeführten Theaterstück, dass wir vor Wölfen keine Angst hätten und wir unbelehrbar unser Zelt hier in den grünen Auen der Schlucht aufstellen würden und nicht in ihrer Jurte schlafen wollten. Ungläubig hielt er inne, scheinbar sind nur wenige Touristen von seiner Theateraufführung so unbeeindruckt wie wir. Er wollte gerade noch einmal anheben mit gefletschten Zähnen zuzubeißen, es kann ja eigentlich nicht sein, dass sein gespielter Wolfsauftritt gar keine Wirkung hinterlässt, da wendete ich mich abrupt ab. Unser Nudelwasser kochte über und drohte den Benzinkocher auszulöschen. Jetzt hatten wir genug Theater. Ich klopfte seinem Pferd kräftig auf die Flanke, wies mit der Hand in Richtung seiner Jurte und sagte Doswidanje. Wir hatten uns angewöhnt mit Kirgisen Klartext zu reden. Er war aber jetzt offensichtlich beleidigt, vermutlich nicht wegen des ausgesprochenen Rauswurfs, sondern weil seine Theateraufführung erfolglos blieb. So stand er noch eine weitere Viertelstunde neben unserer Picknickdecke. Nein, sein Pferd stand direkt neben der Picknickdecke und er saß schweigend im Sattel. Wir fingen unterdessen an unsere Nudeln zu essen. Hätte es geregnet, wären wir fast so nah unter dem Bauch des Pferdes gesessen, dass wir trocken geblieben wären. Wir aber ignorierten ihn und er ignorierte uns. Länger als wir dachten hielt er es durch, dann wurde ihm doch langweilig und er galoppierte zurück zur Jurte, von wo er vermutlich geschickt wurde, um die Touristen einzufangen. Böse Blicke schickte er zu uns über die Schulter zurück. Wir hatten uns einen kleinen Feind geschaffen.

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Mein neuer kleiner Feind, der Wolfsschauspieler.

Nach dem Essen, mit dem traditionellen Heißgetränk in der einen Hand auf die Picknickdecke hingestreckt, der Blick in die Ferne auf den See gerichtet, unterhielten wir uns über die Kirgisen. Wir konnten an dieser Begegnung viele unserer bisherigen Erfahrungen anbinden. Ja, die Kirgisen. Ganz interessant, dass es da für uns gefühlte, deutliche Unterschiede zu den Tadschiken und Usbeken gibt. Hier sind wir jetzt unter den Reitervölkern. Man brüllt hier lauter, um erstmal die Aufmerksamkeit der Durchreitenden zu gewinnen. Auch die Frauen sind deutlich forscher, nach so viel Höflichkeit und Zurückhaltung des persischen Kulturkreises, sind wir immer wieder sprachlos. Gleich in unserem ersten Dorf, in Sary Tash, wir waren noch die Stille des Pamir Highway gewöhnt, überraschen mich die Kirgisinnen. Ich trete in den Dorfladen, fröhliche, sehr laute Unterhaltung erfüllt den dämmerigen kleinen Raum. Auf der Kassentheke lehnen drei ältere Damen aufgestützt mit den Ellenbogen und unterhalten sich brüllend und lachend mit der jungen Frau an der Kasse. Ich will nur Brot kaufen und dränge mich an sie heran. Räuspernd versuche ich Aufmerksamkeit von der Kassiererin zu gewinnen,  gewöhnt, dass bei meinem Eintritt meist alle Gespräche verstummen und die Blicke mir, dem hier seltenen Touristen gelten. Jetzt hingegen nimmt mich niemand wahr. Erst jetzt sehe ich, dass auf dem Kassentresen drei große Wassergläser stehen und aufgeschnittenen Tomaten und Salz. Die Kassiererin schenkt gerad eine neue Runde Wodka für die Damen aus. Es ist 11:15 Uhr. Die Stimmung ist gut. Schmunzelnd stelle ich fest, dass ich in den letzten Monaten vorwiegend Frauen verschleiert, mit Kopftuch und vornehmer Zurückhaltung gesehen habe. Dabei sind über 80 Prozent der Kirgisen Muslime, aber das Angebot der kleinen Läden besteht hier meist zu einem beeindruckenden Teil aus Wodka und anderen harten Spirituosen. Getrunken wird hier viel. Trinken in der Öffentlichkeit ist zwar verboten, aber die Folgen des Alkoholkonsums sehen wir öfters im Straßengraben oder vor den Läden liegen, den Rausch ausschlafend. Es dauert auch noch eine zweite und eine dritte Runde Nachschenken, bis ich mich dann, die lustigen Damen sanft aber bestimmt beiseitedrängend, an die Kasse heranarbeiten kann und zahlen darf. Sie sind eindeutig anders hier und wir wundern uns.

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Auf diesen bescheidenen Pisten ist es gut, alles mit einer Fahrt zu erledigen – wer weiß, wie lange der LKW noch hält.

Sie sind lauter. Sie möchten halt mehr Aufmerksamkeit, die Kirgisen. Natürlich muss man lauter sein, um von Sattel zu Sattel über die Steppe hin sich verständlich zu machen. Dann, wenn wir uns im Sattel umwenden, schmettert man uns das „Kandei“ zu, man könnte meinen es hieße „Verschwinde!“, so raubautzig wird es an den Kopf geworfen. Es heißt aber „Wie geht’s?“ und wir antworten mit einem beherzten „Tschachsche!“. Wir müssen allerdings noch üben – alles muss hier lauter und wilder klingen als im höflichen persischen Einflussbereich. Man brüllt sich an – und meint es innig. Das ist unser erster Eindruck von Kirgistan. Gleichzeitig legt man gelegentlich immer noch die Hand aufs Herz, oder gibt sich kräftig die Hand und legt die Linke fast zärtlich auf den Handrücken der Rechten des Gegenübers. Wenn man das auch als Durchreisender so hält, dann kann man förmlich das Erstaunen in den Gesichtern lesen und erhält als Gegenwert eine Tasse Respektvorschuss. Außerdem können wir nach einem Jahr Straße, Staub und Schweiß auch ganz gut Härte und Raubauzigkeit! Und da reicht uns der eine oder andere Kirgise schon auch mal die Hand vom Pferd herab, während er auf dem Weg neben uns her reitet.

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Seit Usbekistan ist das Brot so kunstvoll verziert und die Bäckerinnen freuen sich immer über ein charmantes Lob von Ralph.

Vielleicht sind sie auch deswegen etwas raumeinnehmender von ihrer Persönlichkeit, weil es dort draußen so Wenige gibt. Hier in Zentralkirgistan leben drei Einwohner pro Quadratkilometer. Das ist viel bergiges Grasland und wenig Mensch! Es wundert uns nicht, denn um hierher ins Zentrum des Landes zu kommen muss man einiges auf sich nehmen. Zentralkirgistan ist eine fast menschenleere Weite gemischt aus Himmelsbergen und grünem Auenland. Wir verließen den Pamir um fast ohne Übergang in das Gebirgssystem des Tien-Shan (wörtlich „Himmelsberge“) hineinzufahren. Allerdings ist diese Gegend nicht gemacht für das „Fahren“. Hier wird geritten. Und das hat seine guten Gründe. Denn durch Zentralkirgistan führt keine asphaltierte Straße. Hier gibt es improvisierte Staubpisten, die aus Fahrspuren entstehen. Es gibt im Grunde nur eine Schotterpiste, die offiziell die „Hauptstraße“ durch das Herz des Landes ist. Diese Rüttelpiste über Jalal-Abad und Kazarman zum Song-Kul See haben wir jetzt unter die Räder genommen und es hat sich nicht wie Fahren, sondern meist wie Reiten, öfter auch wie Schieben oder Kriechen angefühlt. Wir waren sehr langsam unterwegs und dennoch hatten wir das Gefühl, die Kilometer müssten dreifach gezählt werden. Denn zusätzlich zur groben und gröbsten Schotterpiste bremsten uns die vielen Steigungen und Pässe aus, die wir überwinden mussten. Der Verlauf der Piste wurde nicht an die Höhenlinien angepasst, sondern über das weite Gebirge hingeworfen und blieb da liegen, wo der Zufall es wollte. So dass von uns jeder Hügel und Bergriese überquert werden musste, der im Weg stand. Seit unserem Start vor einem Jahr haben wir über 115.000 Höhenmeter bewältigt. Allein in den letzten zwei Wochen sind rund 15.000 Höhenmeter dazugekommen. Sowohl der Zustand der Pisten als auch die Höhenmeter sind damit weit schlimmer als auf dem berüchtigten Pamir Highway, der uns aus Sicht Zentralkirgistans gar nicht mehr so entbehrungsreich vorkam.

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Schwalbereifen trifft auf „Kazarman Road“. Einerseits müssen die Reifen voll aufgepumpt sein, um nicht durch die spitzen Steine ständig Plattfüße zu riskieren – andererseits versinkt man dann eher in den lockeren Kieseln und verliert die Kontrolle. Der Kirgise würde sagen: „Man kann auf beiden Seiten vom Pferd fallen…“

In Jalal Abad bogen wir ab von der M41, der wir über 1000 Kilometer gefolgt waren und nahmen die kleinen Schotterpisten, die ins Herz Kirgistans führen. In Richtung des Sees Song Kul, der in Zentralkirgistan liegt. Song Kul heißt „Am Ende ein See“ und das war auch schon das gesamte Programm für die nächsten Tage: Der Song Kul See liegt auf rund 3000 Metern Höhe und auf dem Weg dahin mussten wir über einen Pass von weiteren 3500 Metern, und dann wieder ganz runter auf unter 1000 Meter und dann wieder hoch auf 3200  – alles auf Schotterpisten. Am Ende dann ein See.

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Von hier sind es noch 1000 Höhenmeter bis zum Moldo-Ashuu-Pass auf 3346 Metern: Ab 8% Steigung ist es auf dieser Piste echte Arbeit.

Wir fuhren die Straße über Kazarman, die Provinzhauptstadt, die aber nur ein Dorf ist. Man hatte uns gewarnt. Die Straße sei „fürchterlich“, „das Schlimmste, was ich je gefahren bin“, „katastrophal“. Wir fragten dann immer nach: „Ist sie sandig?“, „Eine Schlammpiste?“ Beides wurde verneint und wir dachten, dann könne es ja so schlimm nicht sein. Wir täuschten uns.

Der Begriff „the Kazarman Road“ hat sich nach zwei Wochen Schotterpiste in unser Hirn eingerüttelt und eingebacken in Staub zur Heldenstrecke verdichtet. Unerklärlich bleibt uns der Eindruck, dass wir besonders dort so viel Freude am Radfahren hatten, wie seit Monaten nicht mehr. Die Landschaft war weit und grün aber insgesamt unspektakulär. Die Temperaturen ideal, Regen traf uns kaum. Wir hatten wenig Verkehr, der uns grobe Kieselsteine ins Gesicht schleuderte und jeden Abend die Aussicht auf den besten Campingplatz der Welt.

Überhaupt, Kirgistan ist Wildcampingland. Was wir ohne Probleme und in großer Schönheit vorfanden: Campingplätze wie aus dem Werbekatalog für Outdoorfans. Am Abend kam dann zu Pferde immer der nächstgelegene Jurtennachbar dahergeritten, wir erhoben uns von unserer Picknickdecke, reichten die Hand zum Gruß, stellten uns vor, erklärten den Benzinkocher, der immer großes Interesse auslöste, besprachen das Wohinwoher und lobten die Schönheit des Pferdes. Dann gemeinsames Schweigen – die Kirgisen scheinen auch nicht sehr gesprächig zu sein – und das stumme Handreichen zum Abschied. Dann reitet der Nomade gen Horizont und wir blicken ihm nach, gestützt auf die Ellenbogen, liegend auf der Picknickdecke, ein Heißgetränk in der freien Hand. Dieser Ablauf war fast so regelmäßig, dass er zum allabendlichen Kirgistanritual für uns wurde. Wir waren dann meist auch vorbereitet. Kleine Geschenke aus dem bescheiden ausgestatteten Dorfladen des Vortages oder einfach mal wieder unsere bewährte Dankeskarte. Wir achteten darauf, dass die nachbarschaftlichen Beziehungen gutgestellt waren, bevor wir uns schlafen legten. Auch wenn meist der nächste Nachbar seine Jurte weit weg am Horizont stehen hatte, einige Kilometer entfernt, die Nomaden haben ein sehr gutes Auge für kleine Veränderungen im Weit ihrer Weiden. Und so gelang es uns nie, unbemerkt unser Zelt aufzustellen, immer kam genau zur Essenszeit wie zufällig ein Nachbar vorbeigeritten.

So dehnte sich zum Abend die Weite des Himmels über den Weiden in den Himmelsbergen noch mehr und wir sind zufrieden mit den spärlichen Ereignissen des Tages. Fans der Kirgisen sind wir allerdings bisher nicht so richtig geworden. Zu fern sind sie in ihrer Art von allem, was wir so aus unserem Kulturkreis kennen und für Gepflogenheiten halten. Allerdings sehen sie zu Pferd meist recht pittoresk aus, wenn sie am Horizont vorbeireiten.

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Den einzigen Kirgisen, den wir grob wegkomplimentieren mussten, war der zwölfjährige Wolfsschauspieler. Wir wussten nicht, wie nachtragend die stolzen Nomadenreiter auch schon im jungen Alter sein können und so fühlten wir uns in dieser Nacht etwas exponiert beim Schlafengehen in der weiten Ebene. Aber es kam anders als wir befürchteten. Die Nacht verlief ereignislos, kein böser Streich und natürlich auch kein Wolfsangriff. Am nächsten Morgen allerdings kam ein Reiter aus der Richtung in der wir gestern den nervenden Besucher verscheucht hatten. Nein, es waren zwei Reiter auf einem Pferd, ein großer mit weißem Kirgisenhut und hinter ihm sitzend ein kleiner mit der roten Kapuzenjacke, die wir schon kannten. Ah, wir ahnten schon was jetzt kommen würde: Wir kriegen einen Anschiss vom Papa, der seinen Sohn in Schutz nimmt. Das zumindest wäre wohl in Deutschland die übliche Vorgehensweise. Aber es kam anders. Es war nicht der Papa, es war der Opa, das älteste männliche Familienmitglied. Derjenige, der die wichtigen Familienangelegenheiten mit seinem Wort bestimmt und dem nicht widersprochen werden darf – in keinem Fall. Wir kannten das schon von der Mongolei. Schleichend langsam kam das Pferd näher, das Familienoberhaupt wählte den majestätischen Auftritt und blieb in gebührendem Abstand von unserem Zelt stehen. Wir erhoben uns grüßten und ich trat ans Pferd heran und reichte dem Großvater die Hand zum Gruß und legte die Linke kurz auf seinen Handrücken. Er lächelte. Wir unterhielten uns über das Übliche, luden zum Tee auf unsere Picknickdecke und nannten unser Tagesziel. Die Einladung wurde dankend abgelehnt und fröhlich die Gegeneinladung ausgesprochen hinten auf dem Pferd Platz zu nehmen, damit er uns nach Kochkor, unserem Tagesziel, bringe. Kochkor war etwa 100 Kilometer entfernt, unten, hinter dem Pass in der Ebene des Izzyk-Kul Sees. Wir lächelten unsererseits, hielten es für einen Witz. Er bestand aber weiter darauf. Man könne auch noch ein zweites Pferd für unser Gepäck holen, das sei ja recht viel, was wir da mit uns schleppten. Die Räder würden wir dann ja nicht mehr brauchen – wozu man überhaupt mit dem Fahrrad sich abmüht, wenn man auch auf einem Pferd reiten könnte, das hatten uns schon mehrere Kirgisen vorher gefragt und still ihre Schlüsse über unsere Intelligenz gezogen. Wir lächelten weiter, es war wohl ein scherzhafter Mensch, der Großvater. Wir lehnten dankend also noch ein zweites und ein drittes Mal ab und dann verabschiedete man sich. Der Großvater und sein Enkel ritten sehr langsam weiter in Richtung Pass, begleitet von einem kleinen schwarzen Hund. Aufgeräumt und jetzt wieder ganz Kind winkte uns der kleine Wolfsdarsteller noch mehrmals glücklich zu. Kein Anzeichen von der Verstimmung des Vorabends. Zur Mittagszeit, wir hatten den Pass unterdessen überwunden und befanden uns in der sehr schlechten mit groben Kieseln und kleinen Felsbrocken blockierten Abfahrt sahen wir vor uns weit entfernt im breiten Steppental ein Pferd mit Reitern, ein kleiner schwarzer Hund trottete ihnen voraus. Vielleicht war es ja gar kein Witz und er hätte uns wirklich nach Kochkor auf seinem Pferd mitgenommen.

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Die Monumente aus der Sowjetzeit werden in Kirgistan sorgfältig gepflegt. Kaum eine Leninstatue, die nicht einen fast neuen goldenen Anstrich trägt. Wir kommen auf unserem Weg durch die Ansiedlungen „Lenin“ und „Karl Marx“. Sie sind nicht wirklich repräsentativ für die großen Namen, die sie tragen. Wer findet sie in der Fotogalerie?

Etwas Neues, Großes

Wir mussten über uns selbst lachen. So viel wie in den letzten Tagen haben wir bisher auf der Tour kaum gejammert: „Eine Tortur ist das, völlig lebensmüde.“; „Wie man sich sowas antun kann?“; „Zweimal sieben Stunden, auf dieser Schlaglochpiste…“; „Das ist doch kein Urlaub, warum machen die Touristen das?“ Uns war schlecht und wir mussten uns erholen, mindestens noch ein zusätzlicher Tag im gemütlichen, ruhigen Hostel in Karakol. Wir mussten über uns selbst lachen, denn wir beschwerten uns nicht übers Radfahren, sondern über die Fahrt im Kleinbus nach Bischkek.  Wir haben Kirgistan jetzt hinter uns. Karakol liegt im Dreiländereck Kirgistan, Kasachstan, China. Noch einen Tag haben wir bis zur Grenze. China liegt unmittelbar vor uns. Hier, von Karakol aus nahmen wir vorgestern den Kleinbus, Marschrutka, nach Bischkek und wieder zurück, denn dorthin zur Deutschen Botschaft hat Imkes Schwester unsere Pässe mit dem Chinavisum geschickt. Das war kein einfacher Akt, ein 90-Tage-Visum zu erhalten. Jetzt halten wir die Pässe mit dem Visum in der Hand und können es immer noch nicht glauben.

Lange Zeit war es unsicher, ob wir es schaffen würden, den längsten Aufenthaltszeitraum für Touristen zu erhalten. Alles darunter hätte uns nicht genügend Zeit gelassen. Denn unsere Route führt uns quer durch China, ein riesiges Land. Wir wollten eigentlich gar nicht da durchfahren. Wir wollten nach Tibet! Genauer gesagt wollten wir durch das westtibetische Hochland fahren nach Lhasa und von dort weiter über das Basecamp des Mount Everest nach Nepal, um von dort nach Indien zu unserer Schule zu fahren. Aber das ist nicht möglich. China setzt die Hürden für Individualtouristen in dieser Region so hoch, dass uns die zweimonatige Durchfahrt rund 25.000 Dollar gekostet hätte. Irrsinn. „Wir können nicht durch Westtibet fahren. Mmh? Dann fahren wir halt durch Osttibet!“, dachten wir. Und das ist jetzt auch unser Plan. Erst ein paar Ruhetage hier, dann reisen wir weiter nach Kasachstan, noch rund 300 Kilometer dann kommt China (es gibt hier nicht viel Grenzübergänge). Wir haben jetzt genug Stanstaaten durchfahren. Jetzt freuen wir uns auf etwas Neues, etwas Großes. China. Dort werden wir uns zunächst zwischen den riesigen Wüsten der Gobi im Norden und der Taklamakan im Süden in Richtung Südosten bewegen. Wir wollen uns dann ab Golmud nach Süden ins osttibetische Himalayagebirge hocharbeiten. Dort werden uns wieder – wen wunderts – 4000er und 5000er-Pässe im Weg stehen. Die Strecke durch China wird etwa 4500 Kilometer lang sein. Das Höhenprofil sieht mal wieder furchterregend aus.

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Wir dürfen uns (ausnahmsweise) von einem Bundesbeamten vor der Deutschen Botschaft fotografieren lassen. Dorthin ließen wir unsere Pässe mit dem Chinavisum schicken.

China wird uns vor seine eigenen, uns neuen Herausforderungen stellen. Nicht nur werden wir sicher Probleme mit dem Internet haben und auch schwerer unsere Homepage versorgen können. Besonders in der flächenmäßig größten Provinz Xinjiang, in die wir jetzt einreisen werden, könnte es für uns schwierig werden. Dort herrschen besondere Sicherheitsmaßnahmen, weil, ähnlich wie die Autonome Provinz Tibet, auch Xinjiang ein Gebiet ist, in dem ethnische Konflikte in den letzten Jahrzehnten schwelen und immer wieder ausbrechen. Die ursprüngliche Bevölkerungsmehrheit der Uiguren möchte sich von China unabhängig machen. Die Regierung versuchte dies mit brutalen Mitteln zu unterbinden. Wir haben von Reisenden gehört, dass vor jedem noch so kleinen Dorf Sicherheitscheckpoints der Polizei und des Militärs aufgebaut wurden. Dort wird, mitten auf dem Land, mit Gesichtserkennungs-Scannern und Hightech jede Person erfasst. Ein gigantisches Überwachungsnetz scheint hier über das Land gelegt zu sein. So rigide, dass sogar Radfahrer berichten, dass ein Vorankommen nur sehr langsam möglich ist. Dabei ist die Strecke, die wir in China vor uns liegen haben, besonders lang. Wir sind gespannt und gewarnt und haben unterdessen viel Übung in Geduld. Auf was wir uns unbedingt freuen und von was ausnahmslos alle Radfahrer schwärmen ist das Essen. Zentralasien wird in unserer guten Erinnerung nicht aufgrund seiner Kochkünste bleiben. Wenn wir an China denken, dann bekommen wir schon jetzt Hunger.

Wir verabschieden uns von Kirgistan und erinnern uns an eine der ersten Begegnungen, als wir vom felsigen Pamir in die weite Graslandschaft hinabfuhren. Auf dem Pass hinter Sary-Tash, mit dem Blick auf die vergletscherte Felswand des über 7000 Meter hohen Pic Lenin, verkaufen zwei Kinder selbstgemachten Joghurt aus alten Colaflaschen an Fernfahrer und Durchreisende. Wir sind nicht ihre Zielgruppe. Auf dem kirgisischen Nationalgetränk „Kumys“ schwimmen schwarze Flecken (Schimmel, Würzflocken, Kuhmist? – wir wollen es gar nicht genau wissen). Aber schon von Ferne sehen sie uns kommen – wir sind langsam, zumal wieder auf dreieinhalbtausend Metern uns der Atem schwer geht. Sie laufen los in die Wiese und sammeln uns zwei kleine Blumensträußchen. Echten Enzian und irgendwelche rosa Blümchen. Wir vermuten Geschäftstüchtigkeit dahinter und sind mal wieder beschämt, weil keine Gegenleistung gefordert wird von ihnen. Sie möchten wissen, wie wir heißen, etwas neugierig und doch ganz verschämt. Sie freuen sich (wie Kinder?), als sie sehen, dass wir die Sträußchen ganz sorgfältig und zart an unseren Lenkern befestigen. Wir haben das schon öfter beobachtet, mit welcher Freude Kinder unsere Sorgfalt beobachten, mit der wir ihre Geschenke behandeln. Wir sehen wieder die Haut, die sich von den Backen pellt aufgrund von Dauersonnenbrand und überreichen den beiden zum Abschied eine der beiden Sonnencremes, die wir noch dabei haben. Imke macht heute noch den Zwischenhopser nach, den das Mädchen auf dem Weg über die Straße zurück zur ihren Joghurtflaschen machte. Die Sonnencreme trägt sie mit erhobenen Händen, wie eine Kostbarkeit vor sich her.

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