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Derjenige wird vom Wolf gefressen, der sich von den anderen Menschen separiert.
Kirgisisches Sprichwort
Es gibt eine kurze Zeit, in der der Tag keine Schatten mehr wirft, die Nacht aber noch nicht die schwere Decke der Dunkelheit ausgebreitet hat. Wenn die blaue Stunde verblasst und die Welt ihre Farbe ins Grau aushaucht. Dann haben die Geräusche des Tages sich gelegt und die Nacht holt Atem. Zwischenstille liegt über der Landschaft. Dann nimmt das Auge nicht mehr so sehr die Konturen der Dinge wahr, sondern reagiert auf Veränderungen in dieser kurzen Spanne der Verlangsamung. Im Höhepunkt dieser Zwischenzeit bemerkte ich die Veränderung. Ich weiß nicht, ob es ein Geräusch, eine Farbveränderung oder die Bewegung war. Ich blickte auf und sah und wusste sofort. Sein Schritt haftete nirgends, fast schwebte er tänzelnd. Kein Stein wurde angestoßen oder berührte klackend den anderen. In kühler Stille strebte er seinem Ziel zu. Grau war er, wie die Stunde, durch die er sich bewegte. Ein Schatten, in dieser jetzt gänzlich schattenlosen Hochgebirgswüste, weniger Lebewesen als geisterhafte Bewegung. Ein leichtfüßiger Moment in der schweren Steinödnis. Kein Anzeichen, dass er uns wahrnahm. Kein Zögern in seinem Streben nach Vorn. Ein Wolf passierte unseren Zeltplatz. Eine kurze Begegnung mit der anderen Sphäre, dann schloss sich die Wirklichkeit wieder hinter ihm und die Stille kippte um in die Nacht.
Als wir Korogh, das auf 2000 Metern Höhe liegt, verließen, war uns klar, dass wir einen anderen Raum betreten würden. Wir würden einen Schritt in Richtung Weltraum machen. Ein kleiner Schritt zwar im Vergleich zur Unermesslichkeit des Alls, aber einen doch beachtlichen Schritt im Vergleich zur dünnen Erdatmosphäre, in der der Mensch überleben kann. Der Koitezek-Pass, der vor uns lag, führte über 4271 Meter und brachte uns auf die Hochebene des Pamir, die auf 550 Kilometer bis ins kirgisische Sari-Tash uns nie tiefer als 3500 Meter über Meer lassen würde. Weitere fünf Pässe, je deutlich höher als 4000 Meter, lagen auf unserem Weg, davon ist der mit 4655 Metern hohe Akbaital Pass der berühmteste. Diese Hochgebirgswüste wird nur durchkreuzt von der M41, die auf diesem Abschnitt Pamir Highway heißt und in großen Abschnitten eine banale Schotterpiste ist. „Highway“ ist also in diesem Fall nicht wie üblicherweise angenommen die Bezeichnung für eine gut ausgebaute Schnellstraße, sondern bedeutet schlicht wörtlich einen sehr hoch gelegenen Weg. Auf den 550 Kilometern der Hochfläche liegen drei erbärmlich arme Dörfer: Alichur, Murgab und Karakul. Wir hatten jedes Mal den bedrängenden Eindruck, dass die lebensfeindliche Einsamkeit des Hochgebirges leichter zu ertragen war als die trostlose Armut der Dörfer.
Jedes Mal, beim Einreiten aus der erhabenen Kargheit der Berge in die haltlose Hässlichkeit der Lehmgebäudeansammlung dieser drei Siedlungen, schauderte uns und wir fragten uns, in was für einer Fremde wir unterdessen angekommen sind. Wir waren jedes Mal erneut froh, das Dorf wieder verlassen zu können, nachdem wir die elementarsten Lebensmittel aufgestockt und das Wasser am Dorfbrunnen in unsere Säcke gefüllt hatten. Dann verblasste die Armut bald wieder hinter uns am Horizont und wir waren wieder umgeben von der menschenleeren Stille der Berge. Wir würden später unzufrieden sein mit den Fotos, die wir von diesem Abschnitt unserer Reise machten. Die dichte Stimmung, die uns die Höhe und die Berge aufprägten, konnten wir durch sie nicht festhalten. Es ist eine unwirkliche Prägnanz, die diese stille Steinhöhe ausstrahlt. Es fällt uns kein besseres Bild für die Stimmung dieses fremden Anderswo ein, in dem wir für kurze Zeit geduldet waren, als unsere Begegnung mit dem Wolf an unserem Schlafplatz auf dem Koitezek-Pass.
Wir sind nur geduldet
Die lebensfeindliche Welt da oben duldete unseren Durchzug und zeigte uns nicht ihre Zähne und Klauen. Wir wussten aber zu jeder Zeit, dass hier nicht der Mensch die Spielregeln diktiert, sondern die Wucht der Natur alles Menschengemachte in einer Nacht wegwischen kann. Wir sahen täglich die Spuren davon. Wie in surrealistischen Gemälden eines Salvador Dali lagen in der Weite der Landschaft verstreut Ruinen oder Stahlbetonquader. Meist weit entfernt von ihren ursprünglichen Bestimmungsorten, von Bergrutschen oder Schwemmland deplatziert, weggerissen aus der Straße, überschwemmt, vom Sandsturm begraben. Ein Dorf auf dem Weg zur Hochebene war ganz versunken in einem Fluss, der vor drei Jahren durch eine Muräne aufgestaut wurde. Die Straße versinkt im Blau des Sees und taucht auf der anderen Seite wieder auf. Jeder Verkehr muss seither einen improvisierten Schotterweg hart am Felsabsturz entlang nehmen. Ja, wir waren uns immer bewusst, dass die Wildnis hier einen Fahrradfahrer in dieser Weite nur im günstigen Moment passieren lässt. Es war denn auch nur ein leises, beiläufiges Knurren der Hochgebirgsnatur, das wir zu spüren bekamen: ein kleiner Sandsturm zum Abend, der uns das Zelt aus der Hand reißt; ein Schnee zur Nacht, der am Morgen wieder taut; und immer wieder kurze Momente der Panik im Schlaf, wenn der Atem nicht ausreicht in der dünnen Höhenluft und in einer Sekunde der Gedanke ans Ersticken auftaucht.
Der Sarez See ist ein Beispiel für die Wucht der Wildnis in dieser Höhe. Am 18. Februar 1911 verursachte ein schweres Erdbeben einen gigantischen Bergrutsch, der einen See aufstaute. Der Bergrutsch begrub das Dorf Uzoi vollständig unter sich. Der nach dem Dorf benannte Uzoi Damm gilt heute unter Geologen als gefährlich instabil. Nach deren Prognosen ist es in näher liegender Zeit nicht unwahrscheinlich, dass der Damm bricht. Dann wird eine anfänglich 150 Meter hohe Flutwelle zunächst das Bartang Tal und dann ab Roushon das Pjandsch Tal hinabrasen und das Leben von rund fünf Millionen Menschen bedrohen. Die Ausläufer dieser zukünftigen Katastrophe würden bis ins Schwemmland des Aralsees spürbar sein, über tausend Kilometer entfernt vom Sarez See, der hier im Nachbartal noch still und idyllisch eingebettet im Pamirhochplateau ruht. So still und zahm, wie wir das Hochplateau bei unserer Durchfahrt auch erlebten, jederzeit konnte die jetzt ruhige Natur ganz schnell in ein lebensbedrohliches Wüten umschlagen. Dementsprechend vorsichtig bewegten wir uns hier und wählten unsere Zeltplätze sorgfältig.
Pamir
Wir erarbeiten uns den Weg über die Schotterpisten und Pässe in dieser Höhe mit dem wenigen Sauerstoff, der uns zur Verfügung steht. Wir nehmen uns Zeit zum Aufstieg und stiegen in vorsorglichen 500-Höhenmeter-Schritten auf. Das dauerte rund vier Tage, bis wir das Hochplateau erreichten. Aber wir konnten so jegliche Symptome der Höhenkrankheit vermeiden. Nicht einmal Kopfweh plagte uns. Wir waren sehr erleichtert, denn schon auf 3500 Metern hat der Mensch nur noch halb so viel Sauerstoff zur Verfügung wie auf Meereshöhe. Also müssen wir schon im Ruhezustand doppelt so viel atmen. Oft schmerzen unsere Lungen, wenn wir in dieser dünnen Luft die schweren Räder über grobe Kiesel und Wellblechpiste die in den letzten Kilometern sehr steilen Pässe hochdrücken. Ja, es fühlt sich an wie auf dem Dach der Welt, sehr dünnluftig. Ursprünglich wurde der Begriff „Dach der Welt“ im 19. Jahrhundert populär und ausschließlich auf das Hochland von Pamir angewendet. Das persische Wort, von dem Pamir abgeleitet ist, soll „Dach der Welt“ heißen. Erst später, im 20. Jahrhundert, brachte man mit diesem Begriff dann auch das Hochland von Tibet in Verbindung. Dabei ist es einleuchtender, dem Pamir diesen Ehrentitel zu belassen, treffen sich doch in ihm die höchsten Gebirge der Welt wie in einem Knotenpunkt: Hier begegnen sich die Gebirgssysteme des Tienshan, des Kun-lun, des Karakorum, des Himalaya und des Hindukusch.
Das fühlt sich natürlich toll an, hier in der blendenden Höhensonne unter den beeindruckenden roten Felsen und den weißvergletscherten Gipfeln sein Rad durch die Hochgebirgssteppe zu treten: Auf dem Pamir Highway! Über das Dach der Welt! Das geht nicht nur uns so. Auf keinem Abschnitt unserer Reise haben wir mehr Radfahrer getroffen. Im Verhältnis zur Abgeschiedenheit des Ortes sind es so viele, dass wir diesen Streckenabschnitt schon bald den „Donauradweg Zentralasiens“ nennen. Wir genießen es und finden doch immer genug Einsamkeit in dieser kargen Weite, um unser Zelt weit abseits aller menschlichen Spuren aufstellen zu können. Es ist auch schön, mit Ähnlichgesinnten zu plaudern, mit Iris und Stefan, mit Jens und Berthold, mit den beiden Psychotherapeuten, denen wir immer wieder begegnen, dem Tandempärchen und den Polen. Immer weiß irgendwer, wo gerade die anderen sind: haben einen halben Tag Vorsprung; sind in Alichur im Homestay geblieben; mussten Pause machen wegen Panne… In der unglaublichen Weite funktionierte die Hörensagen-Kommunikation sehr gut. Schließlich waren es doch nicht so viele, dass man sie nicht alle mit Namen kennen würde. Hin und wieder kam einer oder eine dazu – verloren ging uns keiner. Das allerdings war nicht zu jedem Zeitpunkt selbstverständlich. Tindara nämlich machte uns echte Sorgen und eine schlaflose Nacht.
Schlaflose Nacht
Wir hatten unsere heutige Etappe schon zur Mittagszeit beendet, denn wir wollten mit Iris, Stefan, Jens und Berthold einen Abend verbringen. Die waren in Karakol im Homestay abgestiegen. Also taten wir das, was wir sonst so ungern machten: Wir gaben unser selbstbestimmtes Nomadendasein, in dem wir die Welt zum Wohnzimmer machen, auf und passten uns ins häusliche Leben ein. Wir saßen tratschend auf dem Sofa des Familienraums, als Tindara ankam. Eine kleine, energetische Sizilianerin, die sehr gut in unsere Runde passte. Allerdings machte Tindara einen eher gehetzten Eindruck auf uns. Sie habe schlecht geschlafen, eigentlich gar nicht, genaugenommen. Ja, sie sah auch so aus, als wäre sie frisch aus dem Bett gekommen – etwas zerknautschtes Gesicht und ein bisschen orientierungslos. Wir ließen sie erstmal in Ruhe ankommen. Klar, wer durch diese Wildnis mit dem Rad fährt, kann schon mal bei Ankunft etwas derangiert sein. Allerdings legte sich Tindaras Unruhe nicht, im Gegenteil, sie schüttelte immer wieder unvermittelt den Kopf, als wollte sie etwas abwerfen. Ihre fröhlichen Versuche an unserem Gespräch teilzunehmen waren überdreht, und gelegentlich entglitt ihre Mimik in den Ausdruck des Gequältseins. Unterdessen war es dunkel geworden, und da kein Zimmer im Haus mehr frei war, sollte Tindara im Haus einer anderen Familie schlafen. Tindara machte allerdings keine Anstalten aufzubrechen.
In einer Gesprächspause setzte ich mich neben sie und fragte unumwunden, ob es ihr schlecht ginge. Ich erwartete ein nichtssagendes Abwiegeln als Antwort. Was folgte erstaunte und beschämte mich, denn wir hätten es längst schon wissen können. Ja, es gehe ihr elend. Seit gestern schon. Ihr Kopf zerplatze vor Schmerzen, sie könne nachts nicht schlafen, weil sie husten müsse und keine Luft mehr bekomme, sie blute ständig aus der Nase und nicht nur ihre Augenlider, auch ihre Hände und Beine seien stark geschwollen. Sie habe ständiges Herzrasen. Sie fürchte sich vor der Nacht und den Erstickungspanikanfällen. Mit einem Mal wurde uns klar: Tindara hatte alle alarmierenden Anzeichen der Höhenkrankheit! Wir waren entsetzt, als wir erfuhren, dass die drei Jungs, mit denen sie von Osch aus aufgebrochen war und innerhalb kurzer Zeit ins Basecamp des Pic Lenin, dem mit rund 7100 Metern höchsten Gipfel des Pamir, aufgestiegen war, sie in diesem Zustand allein gelassen hatten. Tindara konnte natürlich nicht mehr im Sattel sitzen, also schickten die Jungs sie voraus, per Anhalter mit dem Jeep. Sie hatte schon die Höhenkrankheit und ihre Begleiter schickten sie noch höher, auf das Plateau des Pamir. Wo sie auf über 4000 Metern gefangen sein würde und in jede Richtung über einen noch höheren Pass klettern müsste, der sie eventuell das Leben kosten könnte, bevor sie in rettende Tiefen absteigen könnte. Hier, wo es wenig Rettungsmöglichkeiten gibt, wo selbst normale Hubschrauber zu wenig Luft unter den Rotorblättern haben, um so weit aufzusteigen. Was für Idioten!
Gerade eben unterhielten wir uns noch über die erhabene Schönheit der Hochgebirgswüste, und jetzt sahen wir vor uns die gefletschten Zähne dieser Wildnis. Eine Falscheinschätzung, etwas Unwissen, Gedankenlosigkeit ergeben plötzlich einen tödlichen Cocktail. Tindara war sichtlich erleichtert, als wir ihr anboten bei uns im Zimmer zu übernachten. Allerdings drängten wir sie mit intensiven Worten dazu, noch jetzt gleich einen Jeep mit Fahrer zu mieten und ins 110 Kilometer entfernte, rund 1000 Meter tiefer gelegene Sari-Tash abzufahren. Wir erklärten ihr, dass die Höhenkrankheit ohne weitere Ankündigung tödlich sein kann. Sie schien nicht darüber informiert zu sein. Wir drängten sie, konnten sie aber nicht davon überzeugen, dass sie gerade mit ihrem Leben spielt. Sie wollte auf ihre Freunde bis zum nächsten Tag warten. Was sollten wir tun? Wir konnten sie nicht gegen ihren Willen zum Abstieg zwingen. Vor dem Schlafen versicherten wir, sie könne uns jederzeit aufwecken, falls es ihr schlechter ginge. Es war ein überflüssiges Angebot, denn wir durchwachten die ganze Nacht, immer alarmiert durch das Husten und Röcheln, das laute Atmen und gelegentliche laute Seufzen.
Gegen zwei Uhr muss es gewesen sein, als ich meine Stirnlampe nahm (es gab keinen Strom im Dorf) und mich neben Tindaras Matratze auf den Boden setzte. Ich war entschlossen, die Hausmutter aufzuwecken und sofort einen Jeep zu organisieren. Ich erklärte es und stellte mit Entsetzen fest, dass Tindara unterdessen klare Anzeichen von Verwirrung zeigte. Ich hatte nicht mehr den Eindruck, dass der Ernst der Lage zu ihr durchdrang. Erst als ich mich dazu entschloss zu sagen, dass wir (ich hatte mich flüsternd vorher mit Imke verständigt) fürchteten, dass sie in dieser Nacht sterbe und wir die Verantwortung nicht ertragen, sie einfach so liegen zu lassen, und dass sie an ihre fünfjährige Tochter denken solle, ging ein kurzer Blitz der Klarheit durch sie hindurch. Dennoch konnten wir sie nicht zu einer Einwilligung bewegen. Es war vermutlich nicht ihre Leichtfertigkeit, sondern schon Auswirkungen der Verwirrung, die ebenfalls ein Symptom der fortgeschrittenen Höhenkrankheit ist Die restliche Nacht lag ich wach mit dem Gedanken, ob es nicht meine Pflicht wäre, sie zur Abfahrt zu zwingen. Aber wie sollte das aussehen? Körperliche Gewalt, eine Art Entführung? Aber was wäre, wenn sie jetzt neben uns stirbt? Absurd! Wir waren froh, als das erste Dämmerlicht den Tag ankündigte. Wir fanden einen Jeep, der mit anderen Touristen zurück nach Osch fuhr, das auf unter 1000 Meter liegt. Wir verluden Tindaras Rad auf den Dachgepäckträger und waren erleichtert, als wir Tindara schließlich abfahren sahen.
Der neue Tag hatte trotz der strahlenden Höhensonne einen dunklen Schatten für uns. Wir fühlten noch die bedrückende Situation der Nacht, auch wenn wir sehr erleichtert waren, dass nicht das Schlimmste eingetreten war. Trotzdem waren wir uns bewusst, wie nah die Katastrophe vor uns stand. Endlich saßen wir wieder im Sattel und fuhren hinaus in die Weite. Noch zwei Pässe um 4300 Metern Höhe lagen vor uns, dann ging es hinunter nach Kirgistan in ein Hochtal auf „nur“ 3000 Metern gelegen. Es bestätigte sich wieder einmal, dass wir gut vorbereitet und umsichtig reisten – zu Recht! Für unseren Aufstieg auf die Höhe von über 4000 Metern von Korogh aus, haben wir uns drei Tage Zeit genommen. Ab 2500 Metern sind wir ins jeweils nächste Nachtlager nur 500 Meter aufgestiegen, so brauchten wir für rund 100 Kilometer ganze drei Tage. Wir wussten, warum wir uns diese Zeit nahmen. Die Akklimatisierung in dieser Höhe kann eine Frage von Leben oder Tod sein. Wir hatten keine Probleme, noch nicht einmal ein leichtes Kopfweh in den folgenden acht Tagen auf dem Dach der Welt.
So fuhren wir gedankenverloren und etwas übernächtigt hinaus in die großartige, erhabene Natur. Wir wurden nur unterbrochen durch zwei Begegnungen. Kurz hinter Karakol hielten wir an, im Straßengraben saßen drei junge Belgier, die sich mit ihren Rädern von einem Jeep auf die Hochebene mitnehmen ließen – ihnen war kotzübel und sie hatten heftiges Kopfweh. Wir wiesen sie darauf hin, dass die Höhenkrankheit tödlich sein kann und empfahlen ihnen auch mit dem Jeep sofort wieder dahin zurückzufahren, woher sie kamen, nach Osch, auf 800 Meter. Eine Entgegnung warteten wir nicht ab und fuhren weiter. Auch die „Freunde“ Tindaras, die uns in der zweiten Tageshälfte entgegenkamen, wollten wir nicht sprechen. Wir grüßten schmallippig und murmelten ein unhörbares „Idioten“ in den jetzt aufkommenden heftigen Wind.
Von Tindara haben wir unterdessen eine Email erhalten. Sie schreibt, dass die heftigsten Symptome schon während der Abfahrt mit dem Jeep verschwanden und dass sie sich im Krankenhaus in Osch behandeln ließ. Sie brach ihren Urlaub ab und nahm das erste Flugzeug zurück nach Italien. Sie schloss ihren Bericht über ihre Besserung mit den Worten: „Per fortuna ho avuto le vostre cure e la vostra attenzione: non lo dimenticherò mai!“ – „Zum Glück hatte ich Eure Fürsorge und Vorsicht: Das werde ich Euch nie vergessen!“
Bergfest
Es geschah an einem Abend, an dem wir auf dem Dach der Welt einen besonders schönen Zeltplatz am Fuße eines großen Felsens fanden. Wir hatten unsere Picknickdecke ausgebreitet auf einem vereinzelten kostbaren Stück Wiese, inmitten von ein paar blühenden Büschen, mit Blick auf die gelbe Steppenweite der ausgezogenen Landschaft. Obwohl der Wind immer wieder in Böen über uns hinwegfegte und alles, was wir nicht irgendwie beschwert hatten, mitriss, hatte Ralph den Kocher zum Laufen gebracht. Das ist für mich immer einer der schönsten Momente des Tages: Wenn die Sonne langsam hinter den Schneerücken des Pamir verschwindet, in den letzten Sonnenstrahlen dasitzen, eine Tasse heißen Tee in der Hand, und einfach nur Schauen. Die Anstrengungen des Tages, die alle Aufmerksamkeit bündeln, sind vorbei, alles wird still und die Gedanken können frei wandern.
Dieser Abend war es, an dem uns klar wurde, dass wir nun genau seit einem Jahr unterwegs sind. Heute feierten wir das „Bergfest“ unsere Radreise um die Welt – wir waren auf dem „Gipfel“ unserer Tour angekommen, zeitlich und örtlich. Unsere Erinnerungen spazierten zurück zu unserem Abschied von Biberach Ende Juli 2016 und zu unserer Verabschiedung vor der Martinskirche und der Schule im Februar. Es entspann sich eine intensive Unterhaltung zwischen uns.
Wir stellten fest, dass es oft eine irritierende Selbsterfahrung ist, so sehr zwischen den Welten zu leben wie wir es gerade tun. Jeden Tag, wenn wir die Landschaft oder die Lebensumstände der Menschen in der Fremde so unmittelbar erfahren, fährt uns mehrmals der Gedanke durch den Kopf: Mann, sind wir weit weg von Zuhause! Dann erscheint es uns kurz wie eine unüberbrückbare Entfernung zu Euch. Und doch sind wir mit unseren Gedanken jeden Tag bei Euch, unseren Freunden und Lieben zu Hause. Ihr denkt vielleicht manchmal, wir würden so viel erleben, dass wir gar keine Zeit hätten, an Euch zu denken. Ihr denkt vielleicht, dass wir, weil wir unseren Alltag, den wir mit Euch geteilt haben, hinter uns gelassen haben, auch die Anknüpfungspunkte an Euer Leben verloren hätten. Dass wir in jeder Hinsicht weit weg von Euch sind. Aber das Gegenteil ist der Fall. An diesem Abend wurde uns das besonders intensiv bewusst.
Wir sind immer noch von Herzen gerne unterwegs und freuen uns jeden Tag, hinaus in die Welt zu reiten, die vor uns liegt. Gleichzeitig sind unsere Gedanken und Herzen jeden Tag bei Euch, die uns von Daheim so innig und liebevoll begleiten und bedenken. Wir sind dankbar dafür, dass wir beides zugleich erleben dürfen: Neugier auf die Welt und Menschen zu Hause zu kennen, die wir lieben. Uns ist bewusst geworden, dass es nicht der Alltag ist, der uns mit Euch verbindet und den wir nun für lange Zeit nicht mehr mit Euch teilen, sondern dass unsere Verbindung zu Euch viel tiefer und wesentlicher ist. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie oft wir uns über Euch unterhalten, wie sehr wir uns über Eure Nachrichten freuen und wie sehr sie uns tragen hier draußen in der Fremde.
Wir wollen jetzt noch nicht zurückkommen. Aber wir haben an diesem Abend mit tiefer Vorfreude daran gedacht, wie es sein wird, Euch alle wiederzusehen. Wir freuen uns schon jetzt darauf, wieder bei Euch zu sein und unser Leben mit Euch zu teilen, denn wir vermissen Euch sehr! Aus diesem Gefühl heraus entwickelten wir schon einen Plan für unser Ankommen bei Euch zu Hause, eine Idee für ein Fest des Wiedersehens, auf das wir uns schon heute freuen.
Wir möchten Euch nach einem Jahr auf der Straße danken für alle Eure Nachrichten, für Euer Hinterherdenken und Mitfahren auf dem Gepäckträger, für Eure Herzenswünsche und Eure Gebete. Wir haben uns zwar gewöhnt daran zu kämpfen hier draußen, und wir wissen, dass wir gemeinsam fast alle Widrigkeiten, die sich uns in den Weg stellen, irgendwie bewältigen können. Aber uns ist bewusst, dass wir ohne Euch vom Wolf gefressen werden. Ihr seid es, die wir in unseren Herzen mit über die Berge tragen und Ihr seid es, die uns tragen. Dank Euch haben wir einen Ankerpunkt außerhalb unserer Selbst, der uns hält und der verhindert, dass wir uns in den Weiten der Welt verlieren. Wenn wir mit Liebe an Euch zu Hause denken, dann haben wir ein wenig Heimat und Zuhausesein in uns.
Ihr seid ein großer Teil unseres Kontinuums, wenn uns jeden Tag neue Eindrücke überschwemmen. Das gibt uns Kraft. Denn, „die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die im Ungeborgenen sich geborgen wissen“ (Pablo Picasso, siehe die Rubrik „Warum?“ auf dieser Internetseite)
Wir danken Euch von Herzen dafür, dass Ihr uns begleitet! Wir freuen uns schon heute darauf, Euch wiederzusehen. Das wird ein Fest!