Hier geht es zur neuen Fotogalerie (bitte klicken):
In den schrecklichen Bergen
Als im 8. Jahrhundert vor Christus König Rusa I., von der heutigen Osttürkei kommend, auf der Suche war, welche Siedlungen er noch erobern und unterwerfen könne, begab er sich in die Gegend um den Sevansee. Dort hatte schon sein Vorgänger einigen Erfolg mit Unterwerfungen gehabt, dann aber die Lust daran im rauen Klima wieder verloren. Jetzt, mit neuem Elan, eroberte Rusa I. südlich und östlich des Sees. Von seinen Bemühungen ist nicht viel erhalten und noch weniger interessiert es hier auf den Dörfern irgendwen, wer sich schon vor rund 3000 Jahren hier abmühte. Hätte nicht Rusa I. eine Inschrift an einen Felsen anbringen lassen, in der er seine Eroberungen rühmte, wäre er wohl komplett vergessen. Hätten wir diese Inschrift früher gelesen, wären wir gewarnt gewesen, denn sie beginnt mit den Worten: „Auf der anderen Seite des Sees, in den schrecklichen Bergen…“
Bei der kärglichen Besiedlung dieser Bergregion bezweifle ich, dass Rusa I. wirklich dort auf der anderen Seite des Sees 23 Völker gefunden hat, deren Unterwerfung er sich rühmt. Womit er aber nicht übertrieben hat: Diese Berge, die sich uns hier im südlichen Armenien in den Weg stellen, sind wirklich schrecklich. 90% der Landfläche Armeniens liegt auf über 1000 Metern Höhe, und die mittlere Höhe des Landes beträgt 1800m. Die Berge sind nicht nur schrecklich steil, sie sind auch schrecklich kalt. Wir haben nun wirklich nicht blauäugig einen frühlingshaften Picknickausflug in den Kaukasus erwartet. Schon der Name „Kaukasus“ verband sich in unserer Vorstellung mit etwas Rauem. Aber dass es so rau werden würde, haben wir nicht angenommen. Vielleicht lag es zu einem guten Teil am trüben Wetter, das uns schon seit unserer Einreise nach Armenien begleitete. Selten sahen wir blauen Himmel und die Temperaturen waren meist deutlich unter 10 Grad. Aber es war natürlich auch noch Winter. Wer versucht schon mit dem Fahrrad im Winter durch Armenien zu fahren? Immerhin mussten wir selten durch Regen fahren.
Was uns aber mehr noch als das Wetter auf die Stimmung drückte, waren die grauen, heruntergekommenen, vermüllten Siedlungen. Nicht nur im städtischen Bereich dominierte Hässlichkeit, auch auf dem Land, in den Dörfern, ist die Unansehnlichkeit überall bedrückend.
Das Wort „Unansehnlichkeit“ trifft ziemlich gut, denn wir wollten gar nicht hinschauen, so deprimierend waren die Ansichten. Wir blendeten aus, wir übersahen, schauten woanders hin und mussten doch innerlich damit kämpfen, denn gleichzeitig begegneten wir den warmherzigen Armeniern und konnten uns nicht vorstellen, dass nicht auch sie diese Hässlichkeit empfinden. Wir merkten, dass die Ansicht des Hässlichen uns teilweise mehr anstrengte als das Radfahren. Es sind die Zeichen weniger der Vernachlässigung als der Not, des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach der Sowjetzeit, der Armut. Wieder erfuhren wir, was wir schon in Marokko festgestellt hatten: Armut ist nicht idyllisch. Armut ist hässlich. Armut ist unmenschlich. Abends unterhielten wir uns öfters darüber, ob es vertretbar wäre, diesen unseren bestimmenden Eindruck von Armenien auch in Bildern an Euch weiterzugeben oder darüber zu schreiben. Einerseits wollen wir Euch natürlich unsere Eindrücke von den Ländern möglichst unverfälscht weitergeben. Andererseits starrt man ja nicht auf eine peinliche Entblößung, sondern „schlägt die Augen nieder“, um den Anderen nicht bloßzustellen. Sollten wir das dann nicht auch mit unserer Beschreibung von Armenien so halten? Auf die Freundlichkeit und die Warmherzigkeit der Menschen hier achten und die Tristesse übergehen? Das Schöne fotografieren und die Hässlichkeit, auch wenn sie unser bestimmender Eindruck hier war, im Dunkeln lassen? Wir haben uns dafür entschieden, darüber zu schreiben, die schlimmsten Bilder aber unfotografiert zu lassen.
Überraschung am Meghri-Pass
Damals, als wir in Merzouga in Marokko beim Frühstück mal wieder die weltpolitische Sicherheitslage und die Krisengebiete diskutierten, um unsere weitere Route zu planen, fiel unsere Entscheidung. Wir würden nicht durch die Osttürkei fahren, das war uns schließlich doch zu heikel geworden: der eskalierende Konflikt um die kurdischen Autonomiebestrebungen, der Syrienkrieg und der sich zunehmend autokratisch gebärdende, wütende Präsident (Erdogan, nicht Trump). All das hätte uns auf dem Rad quer durch die Türkei mehr betroffen als die Touristen in den Mittelmeerhotelburgen. So entstand unsere Alternativroute durch Armenien. Schon beim Blick auf die Landkarte war uns klar, dass es nur einen engen Korridor geben würde und meistens nur eine Straße in Frage käme. Das ist im Süden die M17, die schließlich an den einzigen internationalen armenisch-iranischen Grenzübergang mündet. Diese M17 führt, nachdem wir den gesamten südlichen Kaukasus durchquert haben würden, über den Meghripass. Eine Gebirgsstraße, die auf 40 Kilometern 1800 Höhenmeter überwindet und auf eine Höhe von 2535 Metern führt. Es gab schon auf dem Weg dahin einige Pässe über 2000 Meter, aber der Meghripass hatte den übelsten Leumund.
Erst später erfuhren wir, dass die Meghri-Passstraße auf der Liste der gefährlichsten Straßen der Welt stand. Wir würden die Türkei umgehen, dabei aber noch den Winter im Kaukasus treffen. Das war uns von vornherein klar. Wir hatten uns informiert, alle Radfahrer, die diese Strecke genommen hatten, waren im Sommer gefahren. Wir fanden schließlich, nach langen Recherchen ein Weltradlerpaar, das diese Strecke Ende März bewältigt hatte. Aber ganz konnten auch diese sich nicht aufs Radfahren verlassen, denn Schnee blockierte das Durchkommen. Wir waren also gewarnt und uns des Problems bewusst. Andererseits, darum auch die Alpenüberquerung im Februar, wollten wir im Sommer im Pamir und Himalaya sein und unter uns entwickelte sich ein geflügeltes Wort, wenn die Kälte mal wieder zu sehr unter die Haut ging: „Lieber die Alpen und den Kaukasus im Winter als den Pamir und den Himalaya.“
Jeder Abend endete und jeder Morgen begann deswegen immer mit dem ausführlichen Studium des aktuellen Wetterberichts für die Region. Wir planten unsere Tagesetappen mehr nach der Wetterlage als nach Übernachtungsmöglichkeiten. Kälte war dabei unser ständiger Begleiter und über das Frieren könnten wir eine kleine Abhandlung schreiben. Hier nur kurz: Es gibt das langsame von der Kälte Durchdrungenwerden, das von uns so genannte „Einfrieren“, wie das Einstimmen auf die Kälte. Dabei merkt man nach einiger Zeit gar nicht mehr so dringend, dass es einem schon lange kalt ist. Dann gibt es das „Teilfrieren“, bei dem es insgesamt ganz ok ist, aber bestimmte Körperteile ziemlich kalt werden, meist Hände oder Füße. Dann gibt es das „Paradoxe Frieren“, meist beim steilen Berganfahren, bei dem man, um nicht zu viel zu schwitzen, so viel Kleidungsschichten ablegt, dass man während des Schwitzens gleichzeitig friert. Schließlich, das ist eindeutig das grauenhafteste, gibt es das „Schockfrieren“, man kommt z. B. aus dem kuschelwarmen Schlafsack, stößt mit dem Kopf an die gefrorenen Socken, die über einem im Zelt hängen, entscheidet sich dagegen diese anzuziehen (sind sowieso zu hart dafür) und schlüpft barfuß in die ebenfalls gefrorenen, weil vom Vortagregen noch nass gewesenen Schuhe, um dann zu leicht bekleidet hinaus in den Schnee zu stapfen, weil einen ein dringendes Bedürfnis nachts überfällt. Wenn man so draußen steht und die Wärmeerinnerung noch auf Schlafsack eingestellt ist, erwischt einen die Kälte wie eine Schraubzwinge um die Brust: „Schockfrieren“.
Dabei ist die Kälte gar nicht so sehr das, was uns die größten Sorgen bereitet. Viel mehr Respekt hatten wir vor Schneefällen, die uns zur Unzeit erwischen. Wenn wir an den Pässen einschneien, wären wir auf unsere Lebensmittelvorräte angewiesen, die wir immer mit uns führen. Wasserfilter und Benzinkocher würden uns mit geschmolzenem Schnee versorgen und früher oder später müssten wir dann einen Lastwagen anhalten, der uns mitnimmt – insofern diese dann überhaupt noch durchkommen. Auf den Hauptverkehrsrouten gibt es natürlich auch einen gewissen „Winterdienst“, der ist aber hier in Armenien nicht so vorzustellen wie unsere Räumfahrzeugkolonnen. Für den Meghripass, die Hauptverkehrsverbindung zwischen Armenien und Iran und wichtige Güterroute, gibt es einen Schaufelbagger und einen Straßenhobel (oder Planierer), keine Schneepflüge wie wir sie kennen.
Was es heißt, unsere schweren Fahrräder durch den Schnee zu schieben, erfuhren wir am Tag vor dem eigentlichen Pass. Wir hatten den Weg zum berühmten Kloster Tatev, das auf einem imposanten Felsen thront, gerade hinter uns gebracht, als der Schneefall einsetzte. Am nächsten Tag wollten wir die direkte Route nach Süden nehmen, die aber nicht geteert ist und deren wirklichen Zustand wir nur sehr ungenügend in Erfahrung bringen konnten. Trotz weiterer Schneefälle in der Nacht entschieden wir uns am Morgen den Versuch zu wagen. Was uns dann den ganzen Tag über beschäftigt hielt, war eine saumäßige Schlammschlacht, die nur durch schwere Schneeschiebepassagen unterbrochen wurde.
In großen, zähen Wellen, die mein Rad nochmal um einige Kilo schwerer machten, wälzte sich der Schlamm zwischen den Bremsen und unter dem Schutzblech hervor, so dass beide Räder blockierten und sogar Schieben unmöglich wurde. Weit und breit nur dornige Brombeeren, kein Stock, mit dem ich den Schlamm irgendwie von den Reifen kratzen konnte. Mich überfiel leichte Panik, wie ich auf diese Weise die Strecke schaffen sollte, die heute vor uns lag. Um mir Mut zu machen, dachte ich an das Treffen mit der freundlichen Bankangestellten in Martuni, die uns vor ein paar Tagen gefragt hatte: „Warum um alles in der Welt kommen Sie denn nach Armenien?!“ Wir antworteten, dass Armenien ein sehr interessantes Land sei. „Und vor allem: die Armenier haben ein großes Herz!“ Diese Antwort gefiel ihr, und sie fügte hinzu: „Wenn Sie durch Armenien mit dem Fahrrad fahren, müssen Sie aber einen starken Willen haben.“ Ja, den müssen wir wohl haben.
Am Ende des Tages waren wir fertig und hatten dennoch nur 50 Kilometer und 700 Höhenmeter geschafft. Die Beine waren leer und die Arme schmerzten. Morgen stand uns der Meghri-Pass im Weg, rund 1800 Meter Höhendifferenz und knapp 90 Kilometer. Uns war klar, dass das mit den leeren Beinen vom Vortag schwer werden würde. Für den Meghripass hatten wir drei Tage gutes Wetter angesagt bekommen. Wir könnten also am Pass übernachten und hätten immer noch einen extra Tag Puffer, bevor die heftigen Schneefälle angekündigt waren. Wir machten uns am 20. März, dem iranischen Neujahrsfest, zuversichtlich mit einem langen Atem früh morgens auf und fuhren kalt in die 40 Kilometer lange Steigung. In der unteren Hälfte des Passes bewegten sich die Steigungsprozente meist zwischen sechs und acht, „so dass man zwar gut zu tun hat, aber es doch noch irgendwie ging“, so Imkes Originalton. Nach dem ersten Drittel des Passes begannen die steileren Rampen, die einem so viel abverlangten, dass man jeweils bis zur Kante denkt und sich dann über „nur noch“ 5 Prozent Steigung freut, weil man sich während des Tretens ausruhen kann.
Insgesamt gesehen, sind wir in solchen Steigungen natürlich sehr langsam unterwegs und es bleibt viel Zeit um sich seine Gedanken zu machen. Meist sind das nicht besonders anspruchsvolle Überlegungen: Wie lange brauchen wir mit diesen sechs Stundenkilometern bis zum Gipfel? Wie viel Pausenzeiten muss ich da dann noch draufrechnen? Wie viel Zeit bleibt uns dann noch für die Abfahrt? Wann geht die Sonne unter? Fahr ich bei dem LKW, der gleich von hinten kommt, kontrolliert in den Straßengraben oder weicht er mir aus? Was für ein Tag ist heute eigentlich? Bis zu welcher Höhe können wir noch zelten, weil der Schnee noch nicht zu hoch ist? Vor allem die letzte Frage beschäftigte uns, denn spätestens nachdem wir Sören am Nachmittag trafen, der mit seinem Fahrrad aus dem Iran kam und auf dem Weg nach Leipzig war, hatten wir unseren ausgeklügelten Zeitplan verloren. Jetzt war nur noch die Frage, wo wir campen würden, vor oder hinter der Passhöhe. Schon ab 1700 Metern Höhe lag zuverlässig Schnee, und der würde je weiter wir steigen immer höher werden, so dass wir bald abseits der Straße darin versinken würden. So wäre es unmöglich einen Zeltplatz etwas abseits zu finden, und seien es auch nur 20 Meter neben der Straße. Wir würden also bald einen Platz finden müssen oder ganz über den Pass fahren, um dann auf der anderen Seite ordentlich weit abzufahren. Dann aber würden wir schon in die Dämmerung kommen und wir mussten ja noch das Zelt aufstellen, Schnee schmelzen, Wasser filtern, kochen, Betten machen, eben den ganzen Haushaltskram erledigen. Außerdem sind wir mit der Suche unserer Zeltplätze anspruchsvoll, da es immer auch eine Sicherheitsfrage ist, wo man schläft. In diesem Fall mussten wir auch auf einen lawinensicheren Platz achten, denn die Meghripassstraße ist im Winter für ihre Lawinenhänge berüchtigt.
Wir entdeckten auf 2200 Metern Höhe ein kleines Plätzchen, einigermaßen sichtgeschützt, und entschieden uns, die Fahrräder dorthin durch den Schnee zu wuchten und das Zelt dort aufzubauen. Dabei versank ich bis zur Hüfte im Schnee und stand mit beiden Füßen in einem zugeschneiten Bach. Ab da waren meine Schuhe voll mit Wasser und das führte am restlichen Abend zum „Teilfrieren“ und späteren „Schockfrieren“ (s. o.). Zum ersten Mal in Armenien hatten wir strahlend blauen Himmel, und wir genossen trotz Kälte das gewaltige Panorama der verschneiten Gipfel. Hier in dieser unwirtlichen Schneewelt fühlte es sich besonders gut an alles Notwendige dabei zu haben: Zelt, warme Schlafsäcke, Daunenjacken, Kocher, Wasserfilter, Kaba. Bald erstarb auch der ohnehin nicht besonders heftige Verkehr auf der Straße, und allein das Sirren der Hochspannungsleitung war zu hören, mit deren Strom Armenien sein Erdgas aus dem Iran bezahlt, das über die Pipeline aus Täbris kommt.
Satt, zufrieden, erschöpft, legten wir uns zur Dämmerung in unsere dicken Daunenschlafsäcke. Die Temperatur betrug unterdessen minus fünf Grad. In der Thermoskanne hatten wir heißes Wasser und es gab als Schlummertrunk noch eine Tasse Kaba – und, Dekadenz pur, gleich noch eine zweite Tasse hinterher, heiß! Draußen war es unterdessen dunkel, das Zelt knatterte als gemütliche Hintergrundmusik im aufkommenden Wind und wir unterhielten uns über die begeisterten armenischen Auto- und LKW-Fahrer, die fast alle zur Begrüßung hupen (wie die Marokkaner und doch charakteristisch anders). In unsere Unterhaltung vertieft, merkten wir nicht, dass sich leise ein neues, unbekanntes Geräusch in die Windgeräusche einflocht. Dann, in einer Gesprächspause, hörten wir es beide in derselben Sekunde an der Außenzelthaut, und Schreck stand in unsere Gesichter geschrieben. Das ist ein Geräusch, das man sehr selten hört, wir mussten uns also täuschen. Welche andere Deutung gäbe es dafür noch? Das konnte nicht sein, wir hatten den Wetterbericht, verschiedene Wetterberichte, genau studiert. Uns gruselte und ohne weiteres Zögern griffen wir zu den Stirnlampen, wendeten uns gleichzeitig dem Zelteingang zu und rissen den Reißverschluss auf. Eine Schneewand fiel uns entgegen und im Strahl der Lampen war die Dunkelheit der Nacht dicht mit dicken Schneeflocken erfüllt. Im starken Wind wirbelten sie in alle Richtungen. Was sich gerade noch wie ein gemütlich-romantischer Campingabend anfühlte, könnte in Wirklichkeit sich unbemerkt in eine gefährliche Situation verwandelt haben. Eine Bedrohung hat sich unbemerkt herangeschlichen und sofort spielten wir in Gedanken die Szenarien durch: Was, wenn es die ganze Nacht durchschneit? Könnte es so viel schneien, dass wir gar nicht mehr mit Sack und Pack zur Straße zurück kämen? Wenn die Straße unpassierbar wird, wie weit ist es zurück zur tiefergelegenen Kupfermine? Schaffen wir die zweistelligen Steigungsprozente, die in den nächsten Kilometern zum Gipfel kommen, wenn Schnee liegt? (Natürlich nicht) Wie viel Essen haben wir noch? Dann die Relativierung der Situation durch Späße: „Müssen wir schon wieder kehren im Vorzelt! Haben doch gerade erst gestaubsaugt.“ Die ergiebigen Schneefälle sind ja erst für Donnerstag angesagt. Welcher Tag ist heute nochmal? Kann nicht sein, haben ja den Wetterbericht gecheckt. Erstmal schlafen. Wird wohl bald wieder aufhören mit schneien. Wir legten uns etwas bedrückt schlafen mit dem Gedanken, dass es ein schmaler Übergang zwischen einem unterhaltsamen Abenteuer und einer gefährlichen Situation ist.
Es hörte nicht auf zu schneien, die ganze Nacht nicht. Wir schliefen nicht tief, hatten immer wieder Alpträume und hörten mit einem Ohr die ganze Nacht das leise, aber bedrohliche Knistern der Schneeflocken auf der Zelthaut. Immer wieder klopften wir von innen die dicke Schneeschicht vom Zeltdach, das sich unter dem Gewicht eindrückte. Wie hoch würde der Schnee wohl am Morgen liegen? Daneben immer wieder lauschen auf die Geräusche von der Straße. Wie gerne hätten wir dort jetzt durchfahrenden Verkehr gehört! Aber es kam kein einziges Fahrzeug durch. Das war ein schlechtes Zeichen.
In der ersten Morgendämmerung erwachte ich und begann sofort meinen Kopf aus der Schlafsackkapuze zu befreien, um besser hören zu können. Ich lauschte. Nichts. Ich freute mich, denn das könnte bedeuten, dass der Schneefall aufgehört hatte. Aber da fiel mir ein, dass das Zelt ja mit einer dicken Schneeschicht bedeckt sein musste, die jedes Geräusch isoliert. Ich klopfte gegen das Zeltdach und tatsächlich, eine große Ladung Schnee rutschte an der Außenhaut herunter und es wurde gleich deutlich heller im Zelt. Auch jetzt hörte ich nichts. Ich machte den Reißverschluss des Zelteingangs auf und eine hohe Schneewehe fiel mir entgegen.
Im grauen Morgenlicht konnte ich die Wolken sehen, es hatte aufgehört zu schneien. Dazwischen waren sogar kleine Stücke blauen Himmels zu sehen, welch eine Erleichterung. Ich zog den Schlafsack wieder über mich, in diesem Fall ist es wohl das Beste abzuwarten. Abzuwarten bis die Sonne vielleicht scheint und die Straße wieder auftaut, oder der erste Lastwagen durchkommt und uns eine Spur legt. Wie gerne hätte ich jetzt den heulenden Motor eines iranischen LKWs gehört. Aber es blieb alles still. Ich spielte im Kopf nochmal die Möglichkeiten durch und war mir sicher, abwarten und Kaffeetrinken wäre nicht nur die beste Taktik, sondern auch diejenige, die Imke am allermeisten gefallen würde. Zwei Gründe, um an diesem einfachen Plan festzuhalten. Wir würden schauen, was sich auf der Straße tut und am späten Vormittag entweder in Richtung Pass oder in die Gegenrichtung aufbrechen. Ich hoffte. Nach sehr langem Lauschen hörte ich, eine gefühlte Stunde später, ganz leise ein fernes Heulen. Ja, das war der Motor eines schweren Lastwagens im ersten Gang. Ich wand mich aus dem Schlafsack, zog alle erreichbaren Schichten an und zwang meine Füße in die gefrorenen Schuhe. Das Motorengeräusch wurde lauter und genau in dem Moment, als ich die etwa 300 Meter entfernte Straße in den Blick bekam, schlich der Sattelschlepper um die Serpentine. Ganz langsam kroch er voran, begleitet vom Rasseln der aufgezogenen Schneeketten. Es war, wie ich befürchtet hatte, die Straße war ganz vom Schnee bedeckt und kein Räumfahrzeug war bisher durchgefahren. So würden wir nicht durchkommen. Auch der Sattelschlepper schien nicht durchzukommen, denn er stand jetzt in der Kurve. Wenn der noch nicht mal mit Schneeketten durchkommt – ich beendete den Gedanken nicht. Der Plan hieß: abwarten und Kaffeetrinken.
Die Sonne ist heute unser Freund. Gemütlich und doch nervös kochten wir Kaffee und Grießbrei mit Rosinen, immer die Straße im Blick. Der Lastwagen stand auch nach zwei Stunden noch in der Kurve, unterdessen waren aber rund ein Dutzend andere Fahrzeuge durchgekommen. Wir schöpften Hoffnung, konnten aber erst nach dem mühsamen Durchschieben des Neuschnees mit den Fahrrädern zurück zur Straße feststellen, dass der Pass auch für uns befahrbar sein würde. Mit großer Erleichterung fuhren wir gerne auch die steilen Abschnitte bis zur Passhöhe und machten in der Kälte ein Schneegipfelfoto. Wir waren froh. Aber auch noch in der ganzen langen Abfahrt begleitete uns der Beigeschmack des „es-hätte-auch-anders-kommen-können“. Wir haben den armenischen Kaukasus im zu Ende gehenden Winter durchquert, und zuletzt haben wir deutlich gemerkt, dass uns das nur vergönnt war durch das gnädige Wetter.
Armenische Herzlichkeit
Jetzt sind wir in Agarak, direkt an der Grenze zum Iran, im Dreiländereck Armenien, Aserbaidschan und Iran. Heute sind wir schon einige Kilometer am Fluss, der die Grenze bildet, an hohem Stacheldraht und Grenzwachposten entlang gefahren. Wir hätten heute gleich einreisen können, wollten aber mit Armenien, diesem seltsamen Land, erst noch abschließen und eine kleine Pause einlegen, um uns auf den Iran vorzubereiten. Es fühlt sich seltsam an, sich zwischen zwei so unterschiedlichen Ländern zu befinden. Armenien hat es uns nicht leicht gemacht.
Die Kälte, die Berge, die Hässlichkeit der Siedlungen waren kräftezehrend – physisch und mental. Und gleichzeitig stimmt das doch auch nicht, denn immer wieder erfreut hat uns die große Freundlichkeit der Menschen. Auch wenn die Männer auf den ersten Blick oft recht furchterregend aussehen, plötzlich winken sie wie Kinder (heftiges Schütteln im Handgelenk), und alle düsteren Befürchtungen des Touristen sind weggewinkt. Deswegen hier zum Schluss unserer Zeit in Armenien eine Geschichte, die beispielhaft für die Herzlichkeit steht, die wir hier erfahren haben:
Bei unserer ersten Nacht in Armenien im Bergdorf Haghpat, unter dem Küchentisch von Nadja und Armen, bekamen wir zum Abschied von Nadja zwei kiloschwere Einmachgläser mit Aprikosen und Brombeeren geschenkt. Zwei Tage danach sind wir noch nicht dazu gekommen sie zu essen, und es geht schon wieder in den nächsten Pass hinein. Da tut jedes Kilo mehr am Rad besonders weh. Wir entscheiden uns: Wir werden heute irgendeinen Menschen treffen, der genau der Richtige sein wird. Dem werden wir die Gläser schenken.
Kurze Zeit später ist es soweit: Wir hängen in einer Steigung, die durch ein matschiges, graubraunes Dorf führt, und sehen aus dem Augenwinkel einen alten Mann mit Puschkinbart, der vor seinem Hof steht und uns zuwinkt. Nein, er winkt nicht, er reißt beide Arme in die Luft, führt die Hände über dem Kopf zur Faust zusammen, schüttelt sie, feuert uns an, lacht über das ganze Gesicht. Das ist genau der Richtige! Ralph nimmt beide Einmachgläser aus der Satteltasche, läuft den Erdpfad hinunter und überreicht ihm, die Hand aufs Herz legend, unser kleines Geschenk. Puschkins Überraschung ist groß, zum Dank nimmt er Ralphs Hände in seine rissigen Pranken, schleudert sie auf und nieder und küsst Ralph auf die Wange. Das hat er nicht erwartet und jetzt ist auch Ralph überrascht.
Wir freuen uns, dass Nadjas Früchte einen so netten neuen Besitzer gefunden haben und wir das Gewicht los sind und wollen gerade weiterfahren, als der Bauer die 200 steilen Meter zur Straße wieder hochgerannt kommt. Im Arm hält er heftig keuchend ein mindestens fünf Kilogramm schweres, riesenhaftes Glas mit Birnenkompott und übereicht es uns strahlend. „Hier! Für die Reise! Gott sei mit euch!“
Morgen werden wir in den Iran einreisen. Viel habe ich schon über dieses Land gelesen, auf das ich mich schon lange besonders freue. Neugierde, Aufregung und auch ein bisschen Nervosität erfüllen mich. In Goris habe ich mir, mit der Hilfe von sehr um mich bemühten armenischen Verkäuferinnen, ein Kopftuch und eine lange Bluse gekauft und kam mir ein wenig verkleidet vor, als ich da in dem kleinen Damenmodengeschäft stand, inmitten all der kurzen Glitzertops und engen Röhrenjeans, die um mich herumhingen.
Der Iran hat sich uns in den letzten Tagen schon angekündigt, und zwar durch einen Massenexodus der Iraner nach Armenien. Wir hatten schon davon gelesen, dass zum persischen Neujahrsfest Nowruz, das am 20. März beginnt und ein bis zwei Wochen dauert, die Iraner zu Tausenden nach Armenien kommen, um das zu tun, was sie sonst nicht oder nicht so einfach können: Party machen auch mit Alkohol. Während wir den Meghri-Pass hoch und wieder runter fahren, kommen uns Kolonnen von iranischen Autos entgegen, voll gut gelaunter Männer und Frauen ohne Kopftuch, die uns auch wieder zuwinken und uns den Daumen nach oben zeigen. Das nimmt mich gleich für die Iraner ein, doch ich frage mich zugleich, innerlich schmunzelnd: Wenn die alle hierher zum Urlaub machen kommen – ist es dann im Iran noch schlimmer als in Armenien?
Wir werden es ab morgen herausfinden.