„Thank you for visiting my country!“

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Beim roten Halbmond

Vom armenischen Grenzort Agarak aus fahren wir an Stacheldraht vorbei, überqueren den Fluss und werden von einer großen wehenden iranischen Fahne begrüßt. Die Einreise verläuft problemlos und schnell: unsere Visa werden kurz angeschaut, die Fahrradtaschen durchleuchtet, eine kleine Stichprobe bei der harmlosesten aller Taschen, meiner Kleidertasche, gemacht, und schon sind wir im Iran! Alle Aufregung umsonst, alles völlig unspektakulär. Statt umständlicher Grenzkontrollen hören wir von allen Seiten: „Welcome to Iran!“

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Unsere Iranfahne, die wir zusammen mit der deutschen Fahne immer auch als Abstandhalter am Rad tragen, löst im Iran Begeisterungsstürme aus.

Gleich am Grenzposten wechseln wir unsere nun schon lange mitgetragenen Euro. Da wir im Iran kein Geld am Bankautomaten abheben können, mussten wir unsere Euro von zu Hause mitbringen. Nun sind wir Millionäre! Für einen Euro bekommen wir etwa 35000 iranische Rial. Da können einem beim Kauf einer Mineralwasserflasche schon mal die Nullen vor den Augen tanzen. Was das Ganze aber noch gemeiner macht: die Preise werden in der alten Währung Tuman ausgezeichnet, die eine Null weniger hat. Oft lässt man der Einfachheit halber jedoch auch gleich alle Nullen weg und zeigt uns auf dem Taschenrechner oder mit den Händen nur z.B. eine fünf, und dann beginne ich fieberhaft zu rechnen: Meint er jetzt 5000? 50000? 500000? Tuman? Das kann eigentlich nicht sein, sind es Rial? Wieviel Euro sind das…? Um alles noch etwas interessanter zu machen, mussten wir natürlich auch die persischen Zahlen lernen, um überhaupt Preise lesen zu können. Ganz zu schweigen davon, dass wir uns Farsi beibringen. Während wir die ersten Kilometer auf iranischem Boden rollen, schwirrt mir durch den Kopf, dass sich die ersten Tage in einem neuen Land stets so anfühlen, als würde mich jemand in einem Theater hinter dem Vorhang weg auf die Bühne schubsen. Das Publikum sitzt schon da, das Stück ist in vollem Gange, ich habe meinen Einsatz, habe aber keine Ahnung, was gerade aufgeführt wird und wie mein Text wohl lauten könnte. In Sekundenschnelle muss ich die Situation erfassen, erfühlen, was zwischen den Menschen auf der Bühne vorgeht, ohne Worte verstehen, welches Verhalten angemessen oder sinnvoll wäre, und dann überzeugend mitspielen. Kein Wunder, dass ich mich am Ende eines langen Tages voller neuer Eindrücke manchmal frage: Wo sind wir heute früh eigentlich nochmal losgefahren?

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Doch diese Gedanken werden plötzlich von etwas anderem weggewischt: Mir fällt auf, dass Ralph vor mir immer langsamer wird. Er, der sonst gerne über jeden Hügel kraftvoll drüberdrückt, kurbelt nur noch im leichtesten Gang. Von hinten sieht es aus, als hätte jemand die Luft aus ihm herausgelassen. Da hält er plötzlich am Straßenrand und übergibt sich in hohem Bogen in den Straßengraben. Erschrocken überlege ich, was jetzt am besten zu tun ist. Anscheinend ist Ralph irgendetwas unserer letzten armenischen Mahlzeit nicht gut bekommen. Doch ich kann Ralph noch nicht davon überzeugen, ein Auto anzuhalten. Er versucht weiterzufahren, doch es ist offensichtlich, dass das keinen Zweck mehr hat. Es sind aber noch zwei weitere Pausen, in denen Ralph sich übergibt, nötig, damit auch er einsieht, dass wir jemanden bitten müssen, uns nach Jolfa, die nächste Ortschaft, mitzunehmen.
Auf unser Winken hin hält recht bald ein kleiner Pickup. Drinnen sitzt ein Bauernehepaar auf dem Weg zum Feld. Ich bedeute ihnen in Zeichensprache, dass mein Mann krank sei und wir nicht mehr weiterfahren könnten. Ob sie uns und unsere Räder auf der Ladefläche mit nach Jolfa zu einem Hotel nehmen könnten? Sie nicken freundlich, weisen nach hinten, nicken wieder – doch als wir uns gerade freudig erleichtert bedankt haben und unsere Räder hochwuchten wollen, fahren sie weiter. Entgeistert sehen wir ihnen hinterher. Und ich war so sicher, dass ich mich verständlich gemacht hatte! Doch offensichtlich haben wir nicht deutlich machen können, was wir möchten, denn ganz sicher war das keine böse Absicht.
Leider wiederholt sich genau dasselbe Schauspiel noch ein weiteres Mal. Mein Farsi reicht eben noch nicht über „Hallo!“ und „Guten Tag“ hinaus. Da fällt mir plötzlich auf, dass nicht weit entfernt von uns am Straßenrand eine Station des roten Halbmondes, des iranischen roten Kreuzes liegt. Genau dort, wohin alle Leute, die wir anhielten, auch gewiesen haben: Nicht „da hinten auf die Ladefläche“, sondern „dahinten ist der rote Halbmond“. Sören, der Weltradler aus Leipzig, den wir in Armenien trafen, gab uns noch den guten Tipp, dass man dort jederzeit um Hilfe bitten und auch problemlos übernachten könne. Die Jungs dort seien immer sehr nett und hilfsbereit. Also schieben wir unsere Räder dorthin, und ich bedeute ihnen, was unser Problem sei. Sofort sind vier junge Männer rührend um Ralph bemüht. Mittlerweile geht es ihm richtig schlecht, sein Blutdruck ist stark gesunken, er friert und ist völlig ausgepumpt und schwach. Es ist erschreckend, in wie kurzer Zeit plötzlich alle Kraft aus einem weichen kann. Die Sanitäter messen Blutdruck, reichen ihm isotonische Lösung, legen ihm eine Decke um, bringen Kekse, diskutieren die richtige Medikamentierung.

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Mir war schlecht, mir war kalt und ich wollte keine Kekse.
Mir war schlecht, mir war kalt und ich wollte keine Kekse.

Parallel dazu bekomme ich Kekse und Früchte angeboten, Emailadressen werden ausgetauscht, ich verteile unsere Dankeskarten, wir werden fotografiert, die Kinder aus dem nahegelegenen Dorf versammeln sich und beobachten mit einem Sicherheitsabstand die seltsamen Fremden. Am liebsten würden die vier Jungs Ralph gleich mit dem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankenhaus transportieren, und ich soll einfach solange hierbleiben, weiter fotografiert werden und mich ausruhen. Doch Ralph und ich haben uns am Beginn unserer Reise vorgenommen: Wir trennen uns nicht! Mittlerweile geht es Ralph auch schon wieder ein klein wenig besser, sein Blutdruck ist wieder etwas gestiegen. Wir entscheiden uns, dass ins Krankenhaus zu fahren doch eine Nummer zu groß sei und fragen die vier vom roten Halbmond, ob sie für uns ein Auto anhalten könnten, dass uns nach Jolfa in ein Hotel bringt. Nur schwer können wir sie davon überzeugen, und sie lassen uns nach geschlagenen drei Stunden nur sehr ungern und unter heftigem Winken, nach gefühlt zig Fotos und vielen weiteren Keksen, ziehen.
So endet unser erster Tag im Iran in einem Hotel in Jolfa, wohin uns ein freundlicher Abschleppwagenfahrer gebracht hat. Ralph sinkt erschöpft ins Bett, während ich die Anteilnahme der gesamten Familie des Hoteliers entgegennehme, die uns auch sofort alle Hilfe anbieten und Ralph jederzeit ins Krankenhaus fahren würden. Kein guter Beginn, und doch auch ein guter Beginn. Denn schon am Ende des ersten Tages im Iran habe ich das beruhigende Gefühl: die Iraner würden uns jederzeit und überall helfen.

Fatima und ihre Söhne bringen uns die ersten Worte Persisch (Farsi) bei.
Fatima und ihre Söhne bringen uns die ersten Worte Persisch (Farsi) bei.

Zwei Tage machen wir Pause in Jolfa. Ralph erholt sich wieder, während ich mit Fatima, der Frau des Hotelbesitzers, und ihren Söhnen Farsi lerne und wie ich mein Kopftuch ordentlich umlege. Es ist Nowroz, das iranische Neujahrsfest, und das ganze Land ist zwei Wochen lang auf Achse, um Verwandte zu besuchen und den Frühling mit Picknicks zu begrüßen (die Iraner sind Weltmeister im Picknicken). Überall sind kleine Tische mit den „Haft Sin“ (sieben „S“) aufgebaut, sieben Gegenstände, die mit „S“ beginnen und symbolisch für die guten Wünsche für das kommende Jahr 1396 stehen. „Sib“, der Apfel, steht zum Beispiel für Gesundheit, „Sir“, Knoblauch, für Schutz und „Serkeh“, Essig, für Fröhlichkeit.

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Die muslimische Welt befindet sich jetzt im Jahr 1396.
Die muslimische Welt befindet sich jetzt im Jahr 1396.

Gut gelaunt sitzen wir also im Frühstücksraum, ich bekomme zuckersüßen Cappuccino und selbstverständlich Kekse vorgesetzt, und zum großen Spaß auch der anderen Hotelgäste sehen wir unser Fotozeigebüchlein an. Die Söhne schreiben mir auf Farsi hilfreiche Sätze wie „Darf ich hier mein Zelt aufstellen?“, „Wir sind Lehrer aus Deutschland.“ oder „Ist hier ein sicherer Platz zum Schlafen?“ auf, die wir, wenn nötig, vorzeigen können. Wir sind angekommen im Iran.

„I love you so much!”

Als wir uns ausgeruht und wieder gesund nach der Zwangspause aus Jolfa aufmachen, um endlich wieder ein paar Kilometer herunterzureißen und in Richtung Orumiyeh-See weiterzukommen, stellt sich uns ein ganz anderer und doch auch sehr vertrauter Feind in den Weg: ein brutaler Gegenwind. Zwei Tage lang arbeiten wir gegen den Sturm, der uns konsequent direkt von vorn anschreit, geben alles und sinken abends kaputt nach 50 Kilometern in den Schlafsack. Es ist wie verhext! Wir wollten doch durchfahren bis Isfahan, das auf unserer 1:1,5 Millionen –Karte des Irans noch so weit weg liegt.
Erschöpft und ein wenig deprimiert stehen wir am Straßenrand und essen Kekse. Da hält ein himmelblauer Lastwagen neben uns. Ah, den kennen wir schon, der kommt heute genauso langsam vorwärts wie wir. Der Fahrer des Lastwagens hat Probleme, verliert Öl und steigt immer wieder aus, öffnet die Motorhaube und hantiert mit einem riesigen Schraubenschlüssel im Innenraum herum. Schon drei Mal haben wir ihn und er uns überholt. Jetzt kommt der junge Fahrer lächelnd auf uns zu und bedeutet uns, dass er uns mitnehmen könne nach Khoy, den nächsten Ort. Geht es uns sonst gegen die Ehre, uns ohne Not mitnehmen zu lassen – heute nehmen wir dies freundliche Angebot gerne an. „Dann sparen wir uns die 20km nach Khoy, essen dort Mittag und fahren dann noch weiter, um uns einen schönen Platz für unser Zelt zu suchen“, denken wir, heben die Räder auf die Ladefläche und klettern zu Hadi ins Führerhaus.

Hadi und sein Lastwagen
Hadi und sein Lastwagen

Auch mit Hadi sind wir langsam unterwegs, denn er muss immer wieder anhalten und an seinem Lastwagen herumschrauben, aber im Vergleich zu unserem Rudern mit Windmühlenflügeln gegen den Sturm rauscht die Landschaft nun nur so an uns vorbei. Hadi dreht die Musik laut, wir stellen uns vor, schnell entspinnt sich eine Unterhaltung, da Hadi Englisch spricht, und ehe wir es uns versehen sind wir zu ihm und seiner Familie nach Hause eingeladen. Da wir für heute ohnehin noch keinen Plan hatten, sagen wir uns: Go with the flow! Mal sehen, was noch passiert.
Kaum haben wir die Räder vom Lastwagen abgeladen und schieben sie auf Hadis Zuhause zu, kommt uns schon seine Mutter entgegengelaufen, umarmt mich und küsst mich auf beide Wangen. Keine halbe Stunde später sagt sie: „Imke ist meine Tochter. Ralph ist mein Sohn.“

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Wir werden herzlich willkommen geheißen, hereingebeten, mit Tee, Früchten und Süßigkeiten bewirtet, immer mehr Familienmitglieder erscheinen. Es herrscht ganz offensichtlich große Freude über die unerwarteten Gäste. Keine Spur der Überraschung, des Zögerns oder etwa kurzer Unsicherheit, wie man mit diesen beiden Fremden umgehen sollte – eben all das, womit ich bei uns zu Hause gerechnet hätte. Wir sind überwältigt von der spontanen Herzlichkeit, die uns wie eine Welle überspült und mit sich trägt.
Schließlich bleiben wir den ganzen Tag bei Hadi und seiner Familie und übernachten auch bei ihnen.

Iraner lieben Familienaufstellungsbilder.
Iraner lieben Familienaufstellungsbilder.

Wir lernen alle verfügbaren Familienmitglieder kennen, essen gemeinsam, werden noch während des Essens von seiner Schwester zur nächsten Mahlzeit eingeladen, Hadi zeigt uns die Stadt und das schicke neue Einkaufszentrum, lädt uns zum Saft ein, stellt uns seinen Freunden vor, die brennen CDs mit türkisch-iranischer Musik für uns und wollen uns sofort, trotz Essensverabredung mit seiner Schwester, zum Essen abwerben. Bevor wir noch einen Moment Zeit finden, einen Wunsch zu verspüren, wird er uns von den Augen abgelesen. Fühlt euch wie zu Hause! Ihr seid doch bestimmt verschwitzt und müde, ruht euch aus und duscht erst einmal! Braucht ihr Handtücher, Shampoo, Föhn? Wollt ihr etwas waschen? Esst! Trinkt!

Unser Zeigebüchlein mit wichtigen Fotos, wenn mal die gemeinsame Sprache fehlt. Das Hochzeitsfoto gefällt den Schwestern am besten.
Unser Zeigebüchlein mit wichtigen Fotos, wenn mal die gemeinsame Sprache fehlt. Das Hochzeitsfoto gefällt den Schwestern am besten.

Es ist einfach unbeschreiblich. Einerseits können wir vor lauter Liebe, mit der wir überschüttet werden, keinen klaren Gedanken fassen und uns schwirrt der Kopf, denn schon wieder lernen wir jemand Neues kennen, tauschen Emailadressen aus, werden fotografiert. Andererseits ist die Herzlichkeit der Menschen sehr zurückhaltend, unaufdringlich, fast kindlich freudig-neugierig und sehr rücksichtsvoll und höflich. Einfach angenehm, natürlich, zum Wohlfühlen. Ich ertappe mich bei dem Gefühl, als säße ich schon immer hier auf dem Teppich vor der gedeckten Tischdecke und fühle mich in all dem Trubel tatsächlich entspannt, wie zu Hause, ganz selbstverständlich herzlich angenommen als Teil der Familie. Hätte ich Zeit, würde ich über dieses Wunder nachdenken, wie ich in einer völlig fremden Kultur bei mir unbekannten Menschen sitzen kann und zugleich empfinden: Dies ist meine neue Familie, dort sitzt meine Schwester, hier ist mein Bruder, die alles für mich tun würden und nichts lieber hätten, als dass wir hier bei ihnen bleiben. Aber bevor ich weiterdenken kann, werde ich, wohl noch nicht beschenkt genug, von Neuem beschenkt. Jedes Familienmitglied übereicht uns etwas. Für Mrs. Imki! Für Mr. Ralph! Hier nur eine kleine Auswahl:
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Ich bin tief bewegt und, das ist die Wahrheit, zu Tränen gerührt.
Mit unserem Gastgeber Hadi ist die Stimmung in den letzten Gesprächen etwas gedrückter geworden. So gerne würde er einmal Europa bereisen oder uns in Deutschland besuchen. „Es macht mich traurig, dass so viele Menschen denken, wir seien Terroristen. Wir Iraner mögen euch Europäer, und wir lieben auch die amerikanischen Menschen. Wir wünschen uns Kontakt mit der Welt.“ Auf unsere Frage hin, ob er sich von den Präsidentschaftswahlen am 19. Mai denn eine Verbesserung verspreche, zuckt Hadi nur mit den Schultern.
Im Iran gibt es viele Verbote, aber noch mehr Möglichkeiten, diese zu umgehen. Manche Internetseiten wie z.B. Vimeo oder You Tube sind offiziell gesperrt, so dass wir euch während unserer Zeit hier leider keine Videos mehr hochladen können. Auch Facebook ist im Iran offiziell nicht erreichbar, aber jeder junge Iraner ist auf Facebook. Unsere deutsche Simkarte funktioniert nicht, iranische Simkarten bekommt man jedoch nur mit iranischem Pass. Wir haben trotzdem eine Möglichkeit gefunden, dieses Problem zu lösen. Wir stellen eine große Diskrepanz zwischen der freundlichen Weltaufgeschlossenheit der Iraner und der offiziellen Haltung der Regierung fest.

DSC03716Wir verspüren echte Traurigkeit, als wir nach einem langen Frühstück, zu dem wieder alle Familienmitglieder erschienen sind, uns am nächsten Tag von allen verabschieden. Hadis Mutter holt den alten Familienkoran hervor und berührt jeden von uns segnend damit am Kopf. Sie scheint gar nicht darüber nachzudenken, dass wir einen anderen Glauben haben könnten, das spielt wohl auch gar keine Rolle, sie will uns unter Gottes Schutz stellen. Dann knotet sie zwei kleine grüne Bändelchen, die Farbe des Korans, energisch an unsere Lenker, eine iranische Tradition für Reisende. Nun ziert eine kleine grüne Schleife mein Fahrrad, und ich stelle mir vor, wie ich mit dieser grünen Schleife am Lenker nach vielen Tausend Kilometern zurück nach Hause kommen werde.
Nie werde ich vergessen, wie Hadis große Schwester Someye auf der Straße steht, nicht aufhört mir hinterherzuwinken und zu rufen: „I love you so much!“

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Herr Amids Fotoalbum oder Das Paradies

Wir saßen etwas abseits der Asphaltstraße an der Abzweigung zu einer Staubpiste auf einem nicht fertiggebauten Betonfundament eines Brückenpfeilers und machten Mittag. Es gab Fladenbrot und Schafskäse. Wir beugten uns über die Karte, um herauszufinden, wo wir heute Nacht einen guten Platz für unser Zelt finden könnten. Wir hätten den alten staubigen Wagen kaum wahrgenommen, der die Staubpiste entlanggezuckelt kam, wäre er nicht langsamer als Schritttempo an uns vorbeigefahren, während der Fahrer dringend mit uns Blickkontakt suchte, um daraufhin freundlich zu nicken und heftig aus dem Handgelenk heraus zu winken. Ein Feldarbeiter auf dem Weg nach Hause. Wir grüßten zurück und beugten uns wieder über die Karte. So merkten wir nicht, dass das Auto einige Meter hinter uns ganz anhielt und Herr Amid zaghaft, mit wiegenden Storchentritten der Verlegenheit sich langsam uns näherte. Offensichtlich fürchtete er sehr zu stören. Als wir ihn schließlich zur Kenntnis nahmen und freundlich lächelnd uns zur Begrüßung erhoben, ergriff er meine beiden Hände und küsste mich rechts, links, rechts auf die Wangen. In Imkes Richtung deutete er eine höfliche Verbeugung an – Frauen und Männer geben sich im Iran nicht die Hand. Man merkte, dass es Herrn Amid große Überwindung kostete, seine natürliche Zurückhaltung beiseite zu schieben, er nahm sich sozusagen ein Herz. Dann fragte er uns, halb auf Persisch, halb mit Gesten andeutend, ob wir nicht zu ihm zum Essen nach Hause kommen wollten, er wohne in Orumiyeh. Wir bedankten uns sehr, wiesen aber darauf hin, dass wir gerade drei lange Stunden gebraucht hätten um uns gegen den Wind von Orumiyeh hierherzukämpfen und dass wir gerade gegessen hätten, auf unser Brot und den Käse zeigend. Er wiederum verstand uns nur halb und deutete das als Essenseinladung unsererseits. Und obwohl er offensichtlich keinen Hunger hatte, bedankte er sich überschwänglich, setzte sich neben uns und empfing Brot und Käse, nein, bitte nicht zu viel, ja vielen Dank, das reicht, sehr freundlich.
Dann begann sich über die nächsten mindestens zehn Minuten eine Stille auszubreiten, in der Herr Amid zunächst höflich sein Brot und den Käse (höchstens drei Bissen) aß und dann still neben uns saß und vielleicht mangels gemeinsamer Sprache zufrieden schwieg, den Blick zurückhaltend vor sich hingewandt. Ich wunderte mich über mich selbst, denn diese Still, die sonst als Gesprächspause schon nach Sekunden peinlich werden kann, war nicht peinlich. Es war eine zufriedene, freundschaftliche, innige, ja nach dieser Begrüßung eine vertrauensvolle Stille. Neben uns begannen die Obstbaumplantagen, und die Stille zwischen uns Dreien neben der belebten Straße hatte etwas tief Friedliches. Ich dachte in dieser Stille darüber nach, dass da neben mir ein etwa 55 jähriger Fremder saß, der mit uns hier still und sanft seine Zeit teilt. Ich dachte an die vielen Warnungen vor dem Iran, dem Schurkenstaat, die uns mit auf den Weg gegeben wurden, vor allem von Amerikanern. Ich dachte an das riesige Plakat von Chomeini, das wir gerade passiert hatten und das „Down with USA“ fordert. Hier saßen wir nun neben dem sanftest vorstellbaren Menschen und schwiegen ein friedliches Miteinander jenseits von jeder geopolitischen Verwerfung. Vielleicht löste das lange Schweigen eine etwas pathetische Stimmung in mir aus, denn mir kam die Melodie aus Beethovens 9. Sinfonie in den Sinn, und Schillers Gedicht dazu in einzelnen Fetzen: „Freude, schöner Götterfunken, … Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter Flügel weilt…wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein…unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt.“

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Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen vom Aufschrecken Herrn Amids. Er sprang auf und hastete zu seinem Wagen – ein Einfall schien ihn anzutreiben. Er kam mit einer feinen kleinen Plastikmappe zurück und setzte sich wieder. Darin, gelbstichige Familienfotos: Herr Amid in der 7. Klasse, Herr Amid als Jugendlicher mit seinem Schulfreund auf einem Baum, er und seine Mutter bei der Einschulung, bei der Ausbildung im Klassenzimmer, beim Ausflug in die Provinzstadt als junger Mann. Es war rührend. Sinnend und lächelnd gab er uns jedes einzelne Bild so vorsichtig in die Hand, als sei es ein lebendes Küken. Am Ende erhob er sich, machte noch einmal einen Versuch uns zum Essen einzuladen und ob unserer erneuten Ablehnung verabschiedete er sich herzlichst und etwas traurig von uns. Im Schritttempo fuhr er los, heftiges Winken, einfädeln in den vierspurigen Verkehr auf der Nationalstraße, dann gleich wieder anhalten auf dem gegenüberliegenden Seitenstreifen. Dort stieg Herr Amid noch einmal aus, warf beide Arme in die Höhe und winkte über die vier Fahrspuren hinweg als säßen wir nicht auf einem Mäuerchen, sondern auf einem Ozeandampfer, der uns für immer wegtrüge. Dann löste sich sein kleines staubig weißes Auto in der Menge staubig weißer Autos auf.
Wir waren durch diese einfache stille Begegnung in einen besonderen Gemütszustand versetzt. Vielleicht auch nur, um das Erlebte handhabbarer zu machen, fragten wir uns, ob wohl Herr Amid in einem der ummauerten Gärten dort hinten bei den Obstplantagen gearbeitet haben könnte. Ach ja, von solchen ummauerten persischen Gärten waren auch schon die griechischen Söldner beeindruckt, die vor zweieinhalbtausend Jahren hier durchzogen. So sehr waren sie davon beeindruckt, dass sie das persische Wort dafür nach Griechenland mitnahmen und es dort zu einem geläufigen Begriff machten: Paradeisos – Paradies. Ja, Herr Amid muss wohl aus einem Paradies gekommen sein.

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Willkommen im möglicherweise freundlichsten Land der Welt!

Königsetappe der Tour de France. Nur noch einen Kilometer bis zur Bergankunft auf dem Mont Ventoux. Die Ausreißer fahren die letzten Kehren bis zum Gipfel hinauf. Rechts und links jubelnde Zuschauer, die eine enge Gasse bilden und erst im letzten Moment ein wenig zurückweichen, um die Radfahrer durchzulassen. Die Luft ist heiß vom Rufen, begeisterten Schreien, euphorischen Anfeuern. Das Publikum klatscht, hüpft auf und nieder, rennt neben dem Radprofi her, klopft ihm auf die Schultern, reicht Wasserflaschen an, weht mit Fähnchen, winkt, lacht, tobt.
Willst du so eine Stimmung einmal am eigenen Leib erleben? Dann fahr Rad im Iran!
Es ist unglaublich. Wir haben auf unserer Reise ja schon viel Freundlichkeit erfahren, aber der Iran übertrifft alles. Es trifft zu, wie der Lonely Planet seinen Reiseführer Iran beginnt: „Willkommen im möglicherweise freundlichsten Land der Welt!”
Ralph sagte gestern: “Im Iran ist es völlig egal, wo wir hinfahren. Die Iraner selbst sind das eigentliche Erlebnis!“ Ein Tag mit dem Rad auf der Straße im Iran sieht so aus: Wir haben morgens unsere Räder von unserem versteckten Zeltplatz hinter einem Hügel noch nicht ganz auf die Straße geschoben, da steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine gesamte Familie von ihrer Picknickdecke auf, alle winken und rufen uns herüber. Wir winken zurück, aber steigen doch auf unsere Räder, denn eigentlich wollen wir losfahren und ein paar Kilometer machen. Denken wir.
Kaum sind wir auf der Straße, beginnt das Hupkonzert. Fast kein Auto, auch nicht die aus der Gegenrichtung, passiert uns ohne zu hupen und ohne dass alle Insassen heftig winken. Von überall tönt es: „Welcome to Iran! Thank you for visiting my country!“ Ungefähr alle halbe Stunde hält ein Auto vor uns an, winkt uns an den Straßenrand, lädt uns zu Tee, Früchten, Süßigkeiten ein.

Nur eines von gefühlt 348 Fotos am Straßenrand mit iranischen Familien.
Nur eines von gefühlt 348 Fotos am Straßenrand mit iranischen Familien.

Wir werden höflich gefragt, ob sie ein Foto mit uns gemeinsam machen dürften. Nachdem wir unsere Telefonnummern und Emailadressen ausgetauscht haben (zur großen Enttäuschung der meisten Iraner sind wir nicht auf Facebook), noch eine Tasse Tee getrunken und den letzten Keks gegessen haben, werden wir nur sehr ungern ziehen gelassen. Wir können nirgendwo einen Kaffee trinken oder ein Kebab essen, ohne dass wir eingeladen werden oder dass schon jemand unbemerkt für uns bezahlt hat. Fragen wir jemanden nach einem Restaurant, bringt er uns persönlich hin, auch wenn das zwanzig Minuten Fußmarsch bedeutet. Jeder fragt uns, wo wir herkommen, und immer werden wir willkommen geheißen: „Thank you for visiting my country!“ Wir können nirgendwo auch nur einen Moment anhalten, um kurz den Pulli auszuziehen, ohne dass wir eine Tüte mit Nüssen und Rosinen geschenkt bekommen. In Orumiyeh überreichte mir aus dem fahrenden Auto heraus ein junger Mann, dem man ansah, dass er nicht besonders viel Geld hatte, eine rote Plastikrose. Natürlich gab er sie Ralph, der sie an mich weiterreichte. Heftiges Winken, und dann fuhr er weiter und ließ uns tief gerührt über dieses spontane Geschenk zurück. Ich konnte noch nicht einmal Danke sagen.

DSC03753Wenn wir alle Einladungen zum Tee, zum Essen und nach Hause annähmen, würden wir im Iran in zwei Monaten keine 500 Kilometer weit kommen. Wir könnten schon nach einer Woche hier in einem Dutzend Städte neue Freunde besuchen, die uns mit Freude in ihre Familie aufnehmen, herumführen und alles zeigen würden. Diese offene, herzliche Zugewandtheit und Begeisterung trägt uns jeden Pass hoch. Wir surfen auf einer Welle und können es jeden Tag kaum erwarten, wieder aufs Rad zu steigen – ausnahmsweise mal nicht wegen des Radfahrens, sondern wegen unserer Fans. Radfahren im Iran – das ist Stage Diving im möglicherweise freundlichsten Land der Welt!

Alle Arbeiten stehen still, wenn wir passieren.
Alle Arbeiten stehen still, wenn wir passieren.

In der Hauptstadt des kurdischen Nationalismus

Wir wollten nicht nach Mahabad. Etwa 20 Kilometer, bevor die Straße in das enge Tal einbiegt, in dem die 150.000-Einwohner-Stadt Mahabad sich in die Berge schmiegt, wollten wir abbiegen und den direkten Weg nach Miandoab nehmen. Es war ein sonniger Frühlingstag und wir genossen auf der Ebene Kilometer runterzureißen. Bis zur nächsten wirklich größeren Stadt waren es weitere 400 Kilometer. Alles lief gut und als wir vom Picknick am Straßenrand zur Mittagszeit wieder im Sattel saßen, hätte es auch weiter so laufen können, wäre da nicht ein plötzliches Haken und Rasseln gewesen. Ich wusste sofort, was das ist, es war mir allzu vertraut: An meiner Hinterradnabe blockierte der Freilauf. Wir standen am Straßenrand und konnten es nicht glauben. Schon wieder war der Freilauf der Shimano XT-Nabe kaputt. Dabei hatte ich ihn extra vorsorglich noch in Biberach durch einen neuen ersetzten lassen. Wir verloren gar nicht viele Worte, wussten wir ja, was jetzt kommen würde. Immerhin hatten wir diesmal ZWEI Ersatznaben dabei. In Sekunden änderten wir alle Pläne für die nächsten Tage. Wir standen mal wieder am Straßenrand und hielten Autos an. Dank unserer neuen, illegalen iranischen Sim-Karte konnten wir herausfinden, dass Mahabad die größte der erreichbaren Städte ist, also schlossen wir daraus, dass es dort eventuell ein Fahrradgeschäft geben könnte. Googeln hilft nichts, denn wenn überhaupt gibt es nur Informationen auf Farsi, Persisch. Wir hielten also einen Pritschenwagen an. Im Iran ist es übrigens beim Autostopp so, dass jedes Auto anhält, dem man ein Zeichen macht, wirklich jedes! Wir fragten, ob der Wagen nach Mahabad fahre, also da vorne rechts. Der Herr zögerte. Ich las heraus, dass er wohl nicht dorthin gefahren wäre, sondern nach Miandoab. Aber nach dem Zögern bejahte er meine Frage und war dann, ob meiner sichtbaren Erleichterung, auch erfreut und lud uns ein die Fahrräder auf die Ladefläche zu legen. Imke saß mit dem älteren Ehepaar vorne in der Fahrerkabine, ich saß hinten auf der Ladefläche. Doch bis wir losfuhren, stieg der ältere Bauer noch dreimal aus und erkundigte sich, ob wir wirklich nach Mahabad wollten und nicht nach Miandoab. Während der etwa halbstündigen Fahrt hatte ich Zeit darüber nachzudenken, was diese dreimalige Nachfrage wohl bedeuten könnte. Ich kam zum Schluss, dass er gar nicht nach Mahabad gefahren wäre und uns nur aus Freundlichkeit dort jetzt hinfährt und beschloss, ein üppiges Trinkgeld zu geben (worüber er sich später auch offensichtlich sehr freute). Allerdings kam mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn, was die Frage vielleicht auch noch anderes bedeuten wollte. Ich hätte es aber eigentlich wissen können, denn wir waren schon einmal in einer ähnlichen Situation kurz vor Colorado City.
Selbstverständlich lud der Bauer uns nicht irgendwo ab, sondern brachte uns direkt vor ein Hotel, in das er persönlich hineinzugehen und sich über freie Zimmer für uns zu erkundigen unbedingt bestand. Als das alles geklärt war, verabschiedete er sich überschwänglich und seine Frau schenkte uns noch Süßigkeiten. Wir waren also in Mahabad. Morgen war das Ende des Neujahrsfestes und alle Geschäfte in der Stadt würden geschlossen haben. Mir fehlte für die Montage des Freilaufs eigentlich nur ein schwerer 14er Inbusschlüssel und Kugellagerfett. Ich hatte den Wechsel selber noch nicht gemacht, wusste aber wie es ging, denn ich habe vorsorglich in Biberach und in Vernal dem Fahrradmechaniker über die Schulter geschaut. Gegenüber dem Hotel war eine Autowerkstatt, vielleicht könnte ich dort den schweren Schlüssel ausleihen. Wir erkundigten uns nach Radläden, und tatsächlich, es gab einen. Ein Iianischer Radladen ist allerdings nicht vergleichbar mit unseren Radläden. Dort werden vorwiegend rosafarbene Kinderplastikbobbycars angeboten und meist gibt es gar keinen Werkstattbereich und noch weniger Ersatzteile. Dort im „Fahrradladen“ brachen sie mir auch gleich beim Öffnen der Verschlussschraube einen Zahn aus dem Ritzel. Zerknirscht dachte ich ans Selbermachen. Verblüfft stellte ich allerdings fest, dass, sobald das Ritzelpaket abgenommen war, der Freilauf sich wieder frei drehte. Das verwunderte mich, ich wollte aber nicht an das Schlimmste glauben und freute mich drüber und nahm mein Hinterrad einfach wieder mit. Als wir wieder zurück im Hotelzimmer waren, kamen mir allerdings Zweifel. War es nicht auch schon in den USA so, dass der Freilauf sich phasenweise verabschiedete. Ich glaubte nicht mehr an eine Wunderheilung. Und drehte nochmal zur Probe und alles war wie schon vorher blockiert. Na super. Morgen ist Feiertag und da geht gar nichts. Wir hatten also zwei weitere Ruhetage verordnet bekommen.
Ich nutzte den Tag, um ein bisschen mehr über Mahabad zu erfahren, und das war vielleicht ein Fehler. Denn war mir schon am ersten Nachmittag unserer Ankunft aufgefallen, dass die Stimmung hier in der Stadt etwas weniger freundlich, ein bisschen haariger war, wurde mir jetzt plötzlich klar, wo wir waren. „Mahabad“ googeln bringt folgende Ergebnisse: „Hauptstadt des kurdischen Nationalismus“, „2015 – Kurden zünden Hotel an.“, „Iran verhaftet dutzende kurdische Oppositionelle in Mahabad – Dez. 2016“, „Kurdische Rebellen greifen iranische Revolutionsgarden an in der Nähe von Mahabad – Mai 2016.“ Wir waren in der inoffiziellen Hauptstadt Kurdistans angekommen. Und nicht nur das, wir saßen mit einem defekten Freilauf hier heute und morgen erstmal fest. Nun fiel mir ein, was die dreimalige Nachfrage des Bauern noch hätte bedeuten können, der uns hier absetzte: „Wollt Ihr wirklich da hin? Seid Ihr euch sicher? Nicht doch lieber nach Miandoab? Na gut, wenn Ihr unbedingt wollt…“

Hier in Mahabad auf dem Tschuar-tschira-Platz wurde der bisher letzte kurdische Nationalstaat 1946 ausgerufen der ebenfalls hier ein knappes Jahr später mit der Hinrichtung seiner Führer endete.
Hier in Mahabad auf dem Tschuar-tschira-Platz wurde der bisher letzte kurdische Nationalstaat 1946 ausgerufen, der ebenfalls hier ein knappes Jahr später mit der Hinrichtung seiner Führer endete. Deswegen gilt Mahabad für alle Kurden als Hauptstadt ihrer Nationalstaatswünsche.

Am Montag nahmen wir wieder ein Taxi quer durch die Stadt, und wieder setzte es uns vor einem Radladen ab, was allerdings angesichts der fehlenden gemeinsamen Sprache zwischen uns und dem Taxifahrer ein kleines Wunder war. Aber es war nicht mehr der uns schon bekannte Radladen, sondern eine noch kleinere Klitsche, die nur rosa Plasikkinderräder verkaufte und gar keinen Werkstattbereich hatte. Schon beim ersten Laden dachte ich daran, die ganze Reparatur selbst zu machen, hier aber dachte ich nicht daran, mein Rad in fremde Hände zu geben. Die vier anwesenden jungen Männer stürzten sich allerdings gleich hilfsbereit mit allen möglichen und unmöglichen Werkzeugen auf mein Hinterrad und es schien so eine Art Ehrensachenwettbewerb zu sein, wer schneller irgendwelche Schrauben entfernt und da konnte ich einfach nicht zuschauen. Ich griff mir mein Hinterrad und komplimentierte mich selbst hinaus, irgendwelche Ausreden erfindend. Als wir dann wieder draußen im Schneeregen standen, merkten wir, dass wir den uns schon bekannten Laden weiter unten in derselben Straßen suchen mussten. Dort angekommen, stellte sich allerdings heraus, dass der Besitzer heute frei hatte und sein Gehilfe zeigte bei meinem Anliegen, den Freilauf austauschen zu lassen, nur blankes Entsetzten. Mit Engelszungen beschwor er uns, ja in einen anderen Laden zu gehen und zählte uns existente und erfundene Konkurrenten auf, die alle des Problems besser Herr werden würden. Ich glaube, er hatte schlicht Angst davor, weil er sich nicht auskannte mit dem Freilaufproblem, denn als ich vorschlug, die Sache mit seinem Werkzeug in der Werkstatt selbst zu machen, war er sichtbar erleichtert und legte mir alles bereit, was ich selbst auch schon dabei hatte, außer den riesigen 14er-Inbusschlüssel.

Operation am offenen Kugellager, im Hintergrund scheppert beruhigende Kurdenmusik aus dem Transistorradio.
Operation am offenen Kugellager, im Hintergrund scheppert beruhigende Kurdenmusik aus dem Transistorradio.

Ich zerlegte also so weit ich, konnte, nahm die Kugeln aus dem Lager und packte sie (ich wollte keine einzige davon verlieren) in ein mitgebrachtes Schälchen. Dann stellte ich fest, dass auch die „Fahrradwerkstatt“ keinen 14er-Schlüssel besaß. Unterdessen war auch der Besitzer des Ladens wieder zurück und wir machten uns in der Stadt auf der Suche, kreuz und quer mit dem Auto von Autowerkstatt über Eisenwarenhandel, bis Schrottplatz. Auf meinem Schoß das zur Operation geöffnete Laufrad mit dem offen liegenden Kugellager, von dem es in verschiedenen Fachanleitungen hieß, dass man peinlich darauf achten sollte in einer sauberen Umgebung das Lager zu öffnen… Schließlich fanden wir den Schlüssel genau in der Autowerkstatt gegenüber unseres Hotels, die ich von Anfang an als mein Notfallpartner ausgewählt hatte, falls ich keinen Radladen finden würde. Ich kaufte dem Mechaniker kurzerhand den Schlüssel ab und wir fuhren zum Radladen zurück, in dem Imke auf die zweite Hälfte des zerlegten Nabenlagers aufpasste. Dort war der Rest der Arbeit ein Kinderspiel. Gemütlich in der Ecke auf dem Boden sitzend, zerlegte ich Stück für Stück mein Hinterrad, während mir beide Herren, der Besitzer und dessen Angestellter, genau zusahen und mir dies oder jenes Werkzeug begeistert, wissend, männerbündisch anreichten. In 15 Minuten war alles erledigt. Allerdings musste ich mich zusammennehmen, denn als ich den alten Freilauf in Händen hielt, hätte ich diesen gerne unter einem steinzeitlichen Kampfschrei mit aller Gewalt hinaus in die Wüste geschleudert. Das verkniff ich mir in dieser Situation und bedankte mich höflich für die Hilfe und versuchte dem Besitzer ein Trinkgeld aufzunötigen, was mir natürlich nicht gelang. Also versteckte ich es im überschwänglichen Verabschiedungsgewurschtel heimlich unter der Kugellagerfettdose. Vor zwei Tagen am Straßenrand fühlten wir uns niedergeschlagen im lächerlich sinnlosen Kampf gegen defekte Kleinteile – wie vermessen zu glauben, man könne mit dem Fahrrad um die Welt fahren. Als wir jetzt wieder in den Schneeregen hinaustraten, erfüllte uns die Zuversicht von Helden – was man mit Werkzeugen reparieren kann, wird uns nicht aufhalten.

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