Hier findet Ihr die erste Marokko-Bildergalerie!
Den ganzen Tag schon befanden wir uns in der Steigung zum Tizi-n-Test, dem Pass, der uns über den Hohen Atlas führen sollte. Den ganzen Tag schon waren wir mit unseren Gedanken allein und arbeiteten uns Serpentine um Serpentine höher. Jetzt aber fiel mir die Email ein, die mir meine Mutter gestern geschrieben hatte. Sie endete mit dem unvermittelten Hinweis, wir sollten Nachtfahrten in Marokko unbedingt vermeiden. Ich lächelte in mich hinein. Zuerst war ich überrascht, dann aber wusste ich gleich woher sie diese Idee hatte. Auch Mütter, besonders besorgte Mütter, googeln im Internet. Sie zitierte die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes für Marokko: „Nachtfahrten sollten vermieden werden. Auch auf Autobahnen ist mit Fußgängern und Tieren zu rechnen.“ Völlig abwegig, als ob wir mit dem Fahrrad vorhätten nachts zu fahren – Mütter eben und ihre Sorgen. Schmerzlich wurde ich wieder daran erinnert, dass mein Nabendynamo seit Death Valley kaputt ist. Ich hatte ja noch nicht einmal Licht am Rad. Den sollte ich bei SON in Tübingen im Februar reparieren lassen, muss ich einen Termin abmachen. Was einem alles durch den Kopf geht, wenn man den ganzen Tag so vor sich hinfährt. Stream of Consciousness. Ab und zu kam die Außenwelt kurz vor in den Gedanken, dann wieder erschien es mir, als könne ich stundenlang auf Autopilot fahren. Irgendetwas hatte mich allerdings abgelenkt von meinem heutigen Lieblingsgedanken. Der war nämlich heute vor allem Selbstmitleid. Zum ersten Mal in meinem nicht unwesentlich durch das Fahrradfahren bestimmten Leben tat mir mein Knie (ein bisschen) weh. Was hatte mich abgelenkt? Auf den Pfützen in den Schlaglöchern bildete sich schon eine Eisschicht. Ich fror, während ich gleichzeitig schwitzte. Seltsam, dass es beim Pässefahren nur eine hauchdünne Temperaturzone gibt, in der man nicht entweder friert oder schwitzt. Gerade eben war es noch zu heiß gewesen. Jetzt hatten wir unter Null Grad. Das lag sicher daran, dass es unterdessen dämmerte, die Sonne war schon länger hinter den Gipfeln verschwunden. „Nachtfahrten unbedingt vermeiden!“ Natürlich, das war es. Dies würde vermutlich eine Nachtfahrt werden. Weit und breit gab es keine Möglichkeit an diesen felsigen, steilen Hängen das Zelt aufzustellen. Wir hatten, vermutlich durch zu viel Routine, die irre Idee die 120 km über den 2100m hohen Tizi-n-Test in einem Rutsch durchzufahren, um dann in der nächsten Ortschaft eine Unterkunft zu suchen. Das war aber schon zu Beginn des Tages durch die vielen Teilabfahrten und die dadurch sich summierenden extra Höhenmeter als bescheuerte Idee entlarvt worden.
Unterdessen standen auf der Tagesanzeige des Fahrradcomputers 1600 schon gefahrene Höhenmeter. Wir waren zwar unterdessen auf 2000 Metern Höhe angelangt, da vorne gab es aber schon wieder eine kurze Abfahrt und dann bog die Straße an der Horizontlinie um den Felsvorsprung. Dort war auch keine Passhöhe zu erkennen. Wir bauten jetzt unsere ganze Zuversicht auf die vage Aussage, es gäbe auf der Passhöhe ein einfaches Café und da könne man auch „zur Not“ übernachten. Die Straße war in der vergangenen Stunde wesentlich schlechter geworden. Zum Teil hatte sich der Asphalt durch Sturzbäche, die über die Straße flossen ganz aufgelöst und in Schlaglochmatsch verwandelt. Zum Teil lagen größere Blöcke von Felsstürzen auf der Fahrbahn. Immer wieder hörten wir Steinschläge fallen und rechts gleich neben der Straße fiel die Schlucht ohne Begrenzung steil ab. An solche Gefahren hat das Auswärtige Amt sicher nicht gedacht mit seinem Nachtfahrtenhinweis. Verkehr gibt es hier praktisch keinen. Zwei, drei Autos und ein Lastwagen haben uns wohl pro Stunde im Lauf des Tages passiert. In der vergangen Stunde waren wir niemandem mehr begegnet. Besiedlung gibt es in dieser Höhe kaum mehr. Die wenigen Lehmhäuser kleben so unauffällig weit abseits der Straße an den Felsen, dass wir sie meist nur durch Zufall entdeckten. Zwei Schulkinder begleiteten uns mit ihren Fahrrädern fast zwei Stunden zur Mittagszeit. Dann machten wir Pause. Später am Tag pfiff es zu uns herüber, irgendwie wussten wir, dass wir gemeint waren. Die zwei schoben ihre Räder auf der anderen Seite des Tals einen halsbrecherischen Fußweg bergan zu einer völlig abgelegenen Siedlung. Sie ruderten wie wild mit den Armen, „hier wohnen wir, wir kennen Euch“ sollte das wohl heißen. Wir pfiffen zurück.
Jetzt aber waren wir allein und die Nacht und die Kälte holte uns ein. Endlich, kurz bevor unser Ritt tatsächlich zu einer Nachtfahrt werden würde, zeichnete sich an der Kammlinie ein viereckiges Gebäude ab. War dies das besagte Café? Eine witzige Vorstellung, diesen Bau so zu bezeichnen. Aber wir waren froh. Die Passhöhe war gerade bei Einbruch der Nacht erreicht und gleich würde sich herausstellen, ob wir hier auch einen Schlafplatz finden würden. Aiman und sein Freund begrüßten uns schon vor dem Haus. Dort stand ein alter Renault, dessen Radio auf voller Lautstärke Disko simulierte. Die beiden rauchten, was „anständige“ Araber natürlich nicht tun, so wurde uns gesagt. Aber kein Problem, die Araber seien die anderen, sie hingegen seien Berber und ließen keinen Zweifel daran, dass dies natürlich das bessere der beiden Schicksale sei. Jetzt erstmal war großes Willkommen und Preisverhandeln bezüglich Übernachtung. Wir waren in einer offensichtlich schlechten Position, denn eine Alternative gab es für uns nicht. Man einigte sich und Aiman kündigte an, heute Abend für uns zu kochen. Wir waren skeptisch, trauten wir ihm doch einiges zu, nicht allerdings Küchenarbeit. Unser Zimmer war so kalt und feucht wie die überfrorenen Schlaglochpfützen.
Kein Wunder, dass wir nicht nur heute Abend die einzigen Gäste waren, sondern auch sonst hier nicht zu viel Publikum vorbeizukommen schien. Die restliche Herberge bestand aus einem Raum, der gleichzeitig Sofaecke, Tresen, Küche und offene Feuerstelle war. Der Teekessel war praktischerweise in den Kamin eingemauert, so dass man über einen kleinen Messinghahn immer heißes Wasser hatte. Und das war gut so, denn kalt war es drinnen wie draußen, kein Wunder, denn die Bude hatte keine Türen. Die dafür vorgesehenen Löcher in der Wand des Raumes gähnten schwarz in die Dunkelheit der Passhöhe und das Heulen des Windes war jetzt die Hintergrundmusik, denn die Batterie des Renault war wohl am Ende. Strom? Gab es natürlich keinen und so saßen wir beim schummerigen Licht einer Kerze, als die erste Gestalt in Kampfanzug grußlos aus der Dunkelheit in den Raum trat. Es folgten drei weitere gewiss nicht der offiziellen Staatsmacht angehörige Kampfanzugtypen, denn die zerfetzten Hoheitsabzeichen an den Ärmeln waren spanisch. Die Frage, was es wohl zum Abendessen geben würde, mit der sich meine Gedanken gerade noch beschäftigt hatten, trat jetzt ganz plötzlich in den Hintergrund. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich den beeindruckenden Patronengürtel des Anführers und dessen Gewehr, das neben ihm an der Wand lehnte. Nachtfahrten vermeiden, na Klasse, da fragte ich mich jetzt, ob es nicht besser gewesen wäre einfach weiter zu fahren anstatt hier mit einer Truppe Guerillieros am Kamin zu sitzen.
Aimans Freund baute sich neben mir währenddessen in aller Ruhe einen Joint aus einer Filterzigarette und war offensichtlich der einzig Gutgelaunte hier im Raum. Dass eine Gesprächspause nach einiger Zeit peinlich werden kann, sagt man so leicht dahin. Diese Situation war unterdessen schon längst der Inbegriff einer bedrückend wirkenden Gesprächsabwesenheit. Ich suchte nach einem Ausweg. Schneller als ich dachte, war jetzt also die Situation gekommen, alle drei Worte der Berbersprache Tamazigh auszuprobieren, die mein Nebensitzer mir vor einer halben Stunde beizubringen versuchte. Dabei hatte ich keine Ahnung, was ich gleich sagen würde, denn Französisch ist zwar offizielle erste Fremdsprache in den Schulen Marokkos, die Landbevölkerung spricht aber in der Regel nur arabisch ober eben einen der Berbersprachendialekte. Auch Aimans Freund war zwar in meinem Fall begeisterter Tamazigh-Lehrer, konnte mir aber nur andeutungsweise bedeuten, was ich da nachsprach. Ich versuchte darum umso mehr Nachdruck hineinzulegen in das, was ich da in die in die dunkle Stille auf gut Glück hineinsagte. Selten hatte ich als Schüler einen so großen Lernerfolg verspürt. Ich erntete großes Lachen und viel unverständliche Antwort von der ganzen Runde und Schulterklopfen vom Patronengürtelmann. Plötzlich fingen alle an auf Tamazight auf uns einzureden. Einzelne Worte Französisch waren sogar auch dabei. Plötzlich war lustige Runde und mein Nebensitzer, den ich den anderen als meinen professeur vorstellte, lehnte sich stolz zurück und begann breit grinsend sein Zigarettchen zu rauchen. Später erfuhr ich, dass ich mich für die sehr unpassende Verabschiedung: „Na dann gute Nacht!“ entschieden hatte.
Radfahren in Marokko
Nach sechs Tagen harter Bergetappen sind wir in Tafraoute im Antiatlas angekommen. Eine Woche Marokko aus der Fahrradperspektive – nach dieser Zeit haben wir ein Gefühl für dieses Land entwickelt. Die Menschen in Marokko haben uns sehr freundlich aufgenommen.
Die Fans
Noch in keinem Land, das wir mit dem Fahrrad bereisten, erlebten wir so viel Begeisterung von den Menschen am Weg. Jedes Auto, das uns passiert, verlangsamt seine Fahrt, alle Insassen (und das sind oft sehr viele!) hängen sich aus den Fenstern, um uns zuzuwinken, den Daumen nach oben zu zeigen und „Bienvenue au Maroc! Bon courage!“ zu rufen. Frauen winken vom Feld und ein alter Herr, der im Schatten eines Olivenbaumes sitzt und seine Ziegenherde bewacht, steht auf, legt seine rechte Hand aufs Herz und ruft mir zu: „Bonjour Madame!“ Wenn wir durch ein besonders kleines abgelegenes Dorf fahren, wo die Frauen, die vor den Lehmhäusern sitzen, vollständig verschleiert sind bis auf einen kleinen Sehschlitz und ich mich gerade noch ein wenig unwohl fühle in meinem T-Shirt, springen diese auf und werfen mir Kusshände zu. Besonders an den Steigungen, die hier im Atlas meistens 6% oder mehr betragen, was mit unseren schwer bepackten Fahrrädern ganz schön wehtut, ist das eine tolle Motivation.
Nach einer Woche auf dem Fahrrad können wir auch die Sprache der marokkanischen Straße verstehen: das Hupen. Wer ein Land aus dem Fahrradsattel erlebt, lernt schnell, dass jedes Land seine eigene Hup-Sprache hat. Die ist sehr differenziert und weitaus vielschichtiger als nur unser „HUUUP! Aus dem Weg!“ Es gibt das freudige „Achtung, ich überhole euch und möchte euch begrüßen!“-Hupen, die mehrtönige trötende Hup-Melodie „Toll, dass ihr da seid! Macht weiter so!“, das deutliche, aber keineswegs aggressive Hupen der Lastwagenfahrer, das bedeutet: „Ich komme und kann leider nicht ausweichen, weil Gegenverkehr kommt oder weil ich keine Bremse habe oder weil ich vergessen habe, wo sie ist! Bitte geht von der Straße!“ Dieses Hupen wird nach dem Überholen stets von einem sanften „Dankeschön! Gute Weiterfahrt“-Hupen gefolgt. Viele Marokkaner sind allein oder mit ihren gesamten Familien auf Mopeds unterwegs. Die erkennen wir am hohen, fröhlichen „Ich bin zwar auch nur ein Zweirad, aber ich sitze auf einem Zweitakter und bin schneller als ihr, ätsch!“ –Hupen. Überholt wird allerdings nie ohne mehrmaliges weiteres Hupen und Winken: „Ich wollte euch auf jeden Fall auch grüßen!“ Die Hupe, die uns am meisten gefällt, ist allerdings die „Ich habe übrigens eine Hupe und freue mich, sie benutzen zu können!“-Hupe.
Die Frauen
Eigentlich müsste ich auch eine neue Rubrik einführen: Länder aus der Frauenperspektive. Natürlich herrscht hier in Marokko ein sehr traditionelles Männer-Frauen-Bild, obwohl auch viele Marokkanerinnen berufstätig sind. In den Cafés sitzen nur Männer, auch die kleinen Läden werden von Männern betrieben, fast alle Frauen tragen Kopftuch und viele sind verschleiert und man sieht sie im Dorf eher nur von Ferne. Da ist es sehr passend, dass Ralph, weil er am Berg immer schneller ist, vor mir herfährt und ich hinterdrein komme. Das hat aber auch den Vorteil, dass die Fußgänger auf den Straßen (und im Gegensatz zu Amerika gibt es hier viele Menschen, die zu Fuß gehen!) immer schon die Überraschung, dass da ein sehr merkwürdig aussehender Fremder auf dem Fahrrad durch ihr Dorf fährt, verdaut haben und schon lockerer geworden sind, bis ich dann durchfahre. So erlebe ich dann, dass Frauen auf dem Weg zum Feld, die nur Arabisch sprechen, mir kichernd in Zeichensprache zu verstehen geben, dass das doch viel zu schwer sei, mit dem Fahrrad diesen Berg hochzufahren, und ob sie mich nicht besser anschieben sollten. Lachend und winkend verabschieden wir uns, und ich fühle mich sehr wohl als Frau auf dem Fahrrad in diesem männerdominierten Land. Denn eigentlich, so dachte ich heute früh, ist doch die Arbeit der Frauen in jedem Land fast dieselbe. Da ließ ich mir von Naima, Jamals Frau, in dessen Herberge „Hotel des Amis“ wir hier in Tafraoute untergekommen sind, auf der Dachterrasse die Funktion ihrer Waschmaschine erklären. Natürlich mit Händen und Füßen, und die marokkanische Spezialkonstruktion hätte ich ohne ihre Hilfe nie durchblickt – aber jetzt wehen unsere Fahrradhosen neben ihren Kopftüchern friedlich im Wind. Wir lächelten uns gegenseitig verbunden über unserer Wascharbeit an. Ohne eine gemeinsame Sprache sind menschliche Begegnungen schwer und manchmal gar nicht möglich. Ich hatte in dieser Situation das schöne Gefühl, dass eine echte Begegnung zwischen einander völlig fremden Menschen nicht nur durch Sprache stattfindet, sondern vor allem dann, wenn der eine Hilfe braucht und der andere bereit ist zu helfen.
Das Essen
Für Fahrradfahrer immer das wichtigste Thema neben Schlafen: Essen! Die Zeit von Doritos, Snickers und asiatischen Tütensuppen ist zum Glück vorbei. Das marokkanische Essen schmeckt uns sehr gut! Als wir in Ouirgane bei einer netten Familie übernachteten, die gerade die Geburt des ersten Enkelsohnes mit großem Getrommel und Gesang feierte, bekamen wir zum Abendessen ein typisches marokkanisches Menue: Zur Vorspeise Oliven und Fladenbrot. Dann Nudeln mit Rosinen, Puderzucker und Zimt.
Als Hauptspeise das Nationalgericht Tajine: meist Gemüse, Oliven, Kartoffeln und etwas Truthahn- oder Hühnerfleisch, das in einem Tontopf mit spitzem kegelförmigen Deckel im Feuer gegart und brodelnd heiß serviert wird.
Zum Nachtisch essen wir täglich Mandarinen. Zwischen dem hohen Atlas und dem Antiatlas sind wir kilometerlang durch Mandarinen- und Orangenplantagen gefahren. Jeder Laster, der uns überholte, hatte Mandarinen geladen. Wir freuten uns über den Gedanken, dass die Mandarinen, die ihr jetzt zu Weihnachten kauft, vor einer Woche an uns vorbeigefahren sind.
Ein Land kulinarisch kennenzulernen ist für uns Fahrradfahrer, die wir immer hungrig sind, ein echtes Erlebnis. Auf dem Frühstückstisch in der bitterkalten Herberge oben auf dem Tizi-n-Test-Pass baute der von uns in seinen Kochfertigkeiten sehr unterschätzte Aiman viele kleine gefüllte Untertassen auf, die wir zuerst alle für Honig hielten. Eine stellte sich auch als sehr leckerer Rosmarinhonig heraus, in den beiden anderen befanden sich jedoch Olivenöl und das walnussartig schmeckende Argan-Öl (dazu später mehr). Dort hinein tunkt man das Fladenbrot und trinkt süßen Pfefferminztee dazu. Zum Aufwärmen gibt es salzige Grießbrei-Suppe mit drei Datteln daneben.
Unser Picknick mittags am Straßenrand besteht jetzt aus Fladenbrot, Oliven und Datteln. Manchmal finden wir den französischen Kiri-Käse oder eine Halal-Mortadella aus Truthahn dazu (nach den muslimischen Reinheitsgeboten hergestellte Wurst). In der Konsistenz und Farbe gewöhnungsbedürftig, aber sehr lecker. Um an dies Essen zu kommen, müssen wir allerdings einige Hürden überwinden. Die Dörfer, durch die wir auf dem Land hier im Süden Marokkos fahren, sind so klein, dass sie selten einen für uns erkennbaren „Laden“ haben. Nur durch Gespräche mit Händen und Füßen finden wir den Weg zu dem braunen Lehmhaus, durch dessen Fenster man in den kleinen Kramladen blicken kann, der dann aber stets sehr gut sortiert ist. Hat man ihn mal gefunden, finden wir dort alles: Wurst, Oliven, Kekse aus Saudi-Arabien und Tunesien, Shampoo, Batterien und natürlich Sardinen aus Safi (die meisten Sardinen dieser Welt scheinen aus der kleinen marokkanischen Hafenstadt zu kommen – schaut doch mal auf den Herkunftshinweis eurer Sardinenbüchse!). Heute fragte ich in Tafraoute nach Brot und bekam zur Antwort: „Sucht ihr eine Boulangerie mit so merkwürdigem Baguette? Oder wollt ihr unser echtes Berberbrot?“ Keine Frage, wir wollen das echte Brot der Berber kaufen, die hier im Süden leben. Eine freundliche verschleierte Frau führt uns um drei Ecken in eine kleine Gasse, wo ein alter zahnloser Herr seinen Kopf aus einer Öffnung steckt und uns anlächelt. Hinter ihm brennt ein Feuer in einem großen Holzofen. Wir bedeuten ihm, dass wir Brot kaufen wollen, und er schlägt uns sehr mühe- und liebevoll die nach Anis duftenden Fladen in winzige Papierstücke ein. Nur den Preis kann er uns nicht nennen, weil wir kein Arabisch und er kein Französisch versteht. Da greift er in seine kleine Gelddose und legt die Münzen vor uns hin, die wir ihm schuldig sind. Wir lachen und verstehen, er zeigt uns wieder den Daumen hoch und winkt zum Abschied. Ein tolles Einkaufserlebnis! Hier kommen wir morgen nochmal her.
Ihr merkt, es ist Erfindungsreichtum und viel kulturelles Einfühlungsvermögen gefragt. Zum Beispiel ist es hilfreich, dass ich in dem kleinen Café, in dem wir Fladen mit kleinen Lamm-Hackbällchen essen, sofort erkenne, dass hier keine Toiletten im System vorgesehen sind. Das erspart mit und dem Besitzer eine peinliche Situation. Aber auch der Gang ins Gebüsch ist gar nicht so einfach. Immer wenn man denkt, jetzt sei man wirklich allein, kommt hinter einem Olivenbaum garantiert ein Mensch hervor. Irgendwo sitzt eigentlich immer jemand am Straßenrand, unter einem Baum oder auf einem Felsen im Schatten in dieser steinigen, dürren Landschaft – manchmal ist es wie ein Suchbild. Selten finden wir einen Platz, wo wir allein am Straßenrand unser Mittagspicknick essen können. Die fahrradfahrenden Kinder und am Handy hängenden Jungen sind so gut untereinander vernetzt, dass in jedem Dorf stets schon bekannt ist, dass wir kommen. Da ist der glücklich, der gerade nicht mit den Schafen unterwegs sein muss und sein Fahrrad neben unserem Picknickplatz in gebührendem Abstand parken kann, um das Spektakel zu verfolgen, wie da zwei Europäer sitzen und Fladenbrot mit Oliven essen. Dennoch sind unsere Beobachter sehr zurückhaltend, sie wenden uns rücksichtsvoll den Rücken zu und blicken scheinbar wie gebannt in den Himmel, nur ab und zu werfen sie uns über die Schulter einen neugierigen Blick zu.
Dürre, Armut, Arganöl
Unterdessen sind wir in Tafraoute angekommen, einem 6000-Einwohner-Städtchen im südlichen Antiatlas. Hier ist das Handelszentrum der weiteren Umgebung, die ausschließlich durch karge Landwirtschaft geprägt ist. Die Menschen hier haben seit Jahrtausenden von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen in dieser Halbwüstenlandschaft leben können. Allerdings, wie wir im Gespräch mit dem Mann von der Auberge Les Amis, in der wir untergekommen sind, erfahren, wird sich dies in den nächsten Jahren wohl ändern. Landwirtschaft ist natürlich von Regen abhängig und dieser ist in den letzten Jahren einfach ausgeblieben. Seit über eineinhalb Jahres hat es gar nicht mehr geregnet. Der Klimawandel, den wir auch schon in den USA auf unserem ganzen Weg beobachten konnten, hat hier für die Bevölkerung dramatische Folgen. Landwirtschaft als Lebensgrundlage zu betreiben ist praktisch nicht mehr möglich. Hier im südlichen Antiatlas begegnen wir denen, deren Leben durch den Klimawandel zerstört wird – und die Ärmsten sind davon am brutalsten betroffen. Das Familieneinkommen der Landbevölkerung versiegt im Staub der Trockenheit und um Lebensmittel kaufen zu können, muss man Kredite aufnehmen bei den Händlern hier in Tafraoute. Die Männer müssen, sofern sie dafür überhaupt noch finanziell in der Lage sind, in die Städte der Küstenregion ziehen und dort Arbeit suchen. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen auch dort in Marokko extrem hoch. Die meisten kleinen Dörfer, durch die wir fahren sind fast menschenleer. Wir treffen vor allem Alte auf den Straßen. Männer im Alter zwischen 16 und 50 sind selten zu sehen.
Unser Herbergsvater erzählt, wie seine Familie versuchte in den letzten Jahren ökonomisch zu überleben und schaut dabei hinauf zu den Wolken, die morgens immer aufziehen, sich aber dann zur Mittagszeit in der Kraft der Wintersonne auflösen. Eigentlich ist Winterzeit Regenzeit, aber er schüttelt den Kopf und bezweifelt, dass dieses Jahr Regen kommen wird. Ich werde wütend, wenn ich in der New York Times abends lese, dass Donald Trump in den USA gerade eine Regierungsmannschaft zusammenstellt, die vor allem aus Klimawandel-Skeptikern besteht. Hier geht es nicht mehr darum, das Auto weniger oft zu waschen oder den Rasen nur noch dreimal wöchentlich zu bewässern, wie wir es in Californien erlebt haben. Hier trifft der menschengemachte Klimawandel die Menschen in ihrer Lebensgrundlage.
Eine kleine Hoffnung gibt es für einige Familien hier in der Region und diese Hoffnung steht in Form eines klaren, aprikosenfarbenen Öls in einem kleinen Schälchen auf unserem Frühstückstisch. Dieses Öl stammt von einer Pflanze, die vor rund 80 Millionen Jahren den ganzen Mittelmeerraum bewuchs, heute aber fast nur noch hier im Antiatlas vorkommt: Der Arganbaum. Eigentlich ist hier fast jedes größere grüne Gewächs eine Arganie. Etwas anderes wächst hier kaum noch. Besonders auffällig ist daran, dass der Baum mit einem kurzen Stamm im unteren Kronenbereich wie mit dem Lineal beschnitten zu sein scheint. Schnell merkt man aber, dass dabei nicht Menschenhand im Spiel war. Arganbaumblätter sind sehr begehrte Speise der zahlreichen Ziegen hier. Mir scheint, dass es sonst nicht viel zu fressen gibt in dieser trockenen Landschaft. Daher wird alles abgenagt, was erreichbar ist und das führt zu einem linealgeraden Abfraß in Ziegenkopfhöhe. Allerdings sind die Ziegen hier sehr geschickt und klettern auf die Bäume, so dass es zu absurden Landschaftsbildern führt, in denen mehr Ziegen auf den Bäumen stehen als auf dem Erdboden.
Warum aber ist dieser Baum eine Hoffnung für die Menschen hier, deren Felder alle vertrocknen? Der Arganbaum hält extreme Trockenheit und sehr hohe Temperaturen ohne Probleme aus und ist daher schlicht die letzte Nutzpflanze, die der Verwüstung dieser Region standhält. Aus seinen Früchten kann man unter aufwändiger Handarbeit das Öl gewinnen, das walnussig schmeckt und bei uns heute auf dem Frühstückstisch steht. Eine Hoffnung vor allem für die Frauen, so scheint es, denn immer wieder steht auf Gebäuden an unserem Weg ein Schild, das auf Frauenkooperativen hinweist, die Arganöl produzieren, oft auch in zertifizierter Bioqualität. Es gibt wohl auch ein europäisches Förderprojekt dazu und einige Fairtrade Initiativen. Darüber freue ich mich natürlich besonders. Manchmal aber, die rücksichtslose Energieverschwendung in den USA noch lebhaft vor Augen, überwältigt mich der Gedanke an den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen, trockenen Antiatlasgranit.