Dem Anderen begegnen

 

“Celui qui voyage sans rencontrer l’autre, ne voyage pas; il se deplace.”

“Jener, der reist ohne dem Anderen zu begegnen, der reist nicht, sondern begibt sich nur an einen anderen Ort.“

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Leider haben wir hier in Marokko wenig Fotos gemacht, die Menschen zeigen, obwohl wir so viele bewegende Erlebnisse mit Menschen am Straßenrand hatten. Das liegt zum einen daran, dass sich die Leute hier nicht gerne fotografieren lassen, wofür wir auch Verständnis haben. Andererseits lässt sich das alltägliche Leben hier in Marokko, das wir vom Fahrradsattel aus sehr unmittelbar erleben und beobachten, auch schwer in Bilder einfangen. Denn oft sind es nur kurze Momentaufnahmen von Szenen, die aber unser Bild vom Land prägen.

Immer wieder sind wir froh, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Nicht nur, weil Fahrradfahren einfach Spaß macht, sondern auch, weil wir Dinge sehen, riechen, schmecken, fühlen, am eigenen Leib erfahren, die wir niemals aus dem Auto heraus wahrnehmen würden. Besonders klar ist uns das auch bei der Lektüre unserer Reiseführer geworden. Meistens sind wir in Gebieten unterwegs, die als „ursprünglich“ bezeichnet werden, was ja zunächst ganz nett klingt, weil man denkt, da erlebe man das „echte Marokko“. Wenn man im beheizten Auto durch ein Dorf fährt und die Berberfrauen mit ihren bunten Kleidern das Feuerholz auf dem Rücken nach Hause tragen, ist das natürlich ein pittoreskes Fotomotiv, auf das das Adjektiv „ursprünglich“ zutrifft. Wenn ich jedoch selbst alle meine Kleidung, die ich dabei habe, am Leib trage und im Graupelschauer bei 0°C frierend über die vereiste Dorfstraße fahre und sehe, wie Kinder auf Socken draußen spielen und Menschen in viel zu dünnen Kleidern an ihre Hauswand gelehnt im Windschatten hocken und auf eine Mitfahrgelegenheit mit dem nächsten LKW warten, dann bekommt die Charakterisierung „ursprünglich“ einen zynischen Beigeschmack.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass „ursprünglich“ in Wirklichkeit „arm“ bedeutet. Wenn wir in den Dörfern im Antiatlas nach Brot oder Wasser gesucht haben und dort über staubige und vermüllte, ungeteerte Straßen ohne Strom und Kanalisation unsere Räder schoben, haben wir die bittere Seite der Ursprünglichkeit gesehen. Das, was Marokko für uns ausmacht, sind nicht die im Reiseführer beschriebenen Fotoattraktionen, sondern das, was wir vom Fahrradsattel aus beobachten und meist nicht fotografieren können.

Wir möchten nicht angewiesen sein auf Fotos und versuchen Euch einige Alltagsbeobachtungen zu schildern. Beim Schreiben merken wir, wie schwierig es ist, die Situationen zu beschreiben und sich dabei nicht in kitschige Klischees zu verheddern. Die Situationen, die wir erinnern, sind nicht kitschig gewesen und wurden von uns auch nicht so empfunden.

Imke schreibt die Erlebnisse auf.
Imke schreibt unsere Erlebnisse auf.

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Wir sitzen in Rissani vor unserem heruntergekommenen Hotel und trinken den Morgenkaffee in der Kälte. Gegenüber beginnt die Arbeit auf einer Baustelle. Die Arbeiter, die im Rohbau des Hauses geschlafen haben, mischen Zement mit der Schaufel. Die leeren Papierzementsäcke speisen ein Feuer, das mehr raucht als brennt. Die Arbeiter ziehen ihre Schuhe aus und halten ihre Füße und Schuhe über das Feuerchen. Keiner von ihnen hat Socken an. Bevor die Arbeit wieder beginnt, wickeln sie sich das Papier des Zementsacks um den Fuß als Sockenersatz.

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Das Draatal führt uns nach Norden. Zwischen den Bergketten schlängelt sich eine kleine Oase voller Dattelpalmen wie ein grünes Band durch das Tal. Von Hand angelegte Bewässerungskanäle durchziehen die schattigen Palmenhaine und machen Gemüseanbau möglich. Auf Eseln sind die Menschen unterwegs zu ihren Feldern. Ein sehr altes Ehepaar tritt aus einem kleinen Lehmhaus auf die Straße. Sie rückt noch ihr Kopftuch zurecht, er schnallt sich Hacke und Rechen auf den Gepäckträger seines klapprigen Fahrrades. Kaum merklich, aber doch zärtlich verabschiedet die Frau ihren Mann, der sich auf den Weg zum Feld macht, und winkt ihm hinterher.

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Wir laufen durch die Straßen von Zagora. Es ist schon dunkel und auf den Gassen ist nach Sonnenuntergang immer mehr los. Gerade haben wir den Bericht über die Plastiktütenhirten fertiggeschrieben. Ein kleines Mädchen kommt uns entgegen. Normalerweise sind die kleinen Mädchen und jungen Frauen sehr fasziniert von Imke. Es kommt oft vor, dass die Kleineren dreimal an uns vorbeilaufen und jedesmal verschämt zu Imke rüberschielen. Erst beim dritten oder vierten Mal trauen sie sich dann „Bonjour“ zu sagen und freuen sich riesig, wenn Imke dann ein Gespräch mit ihnen anfängt. Dieses Mädchen, das uns jetzt entgegenkommt, verblüfft uns völlig. Zielstrebig reicht sie jedem von uns mit einem Lächeln eine halbe, bereits geschälte Mandarine. Dann geht sie einfach weiter und dreht sich im Abstand von etwa fünf Metern nochmal zufrieden um. Es ist der 24. Dezember, wir hatten gerade geschrieben: „Fürchtet euch nicht!“

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Am nächsten Tag sind wir auf der Suche nach Brot. Wir fahren die Hauptstraße hinaus aus Zagora und suchen noch etwas zum Essen für den Tag. Am Straßenrand steht der Brotlieferant, der hinten auf seinem Moped die frischen Fladen aufgetürmt hat, die er an die kleinen Lebensmittelläden ausfährt. Brot frisch vom Moped weg, wir freuen uns, dass wir ihn gefunden haben. Als Ralph ihm die drei Dirham reichen will, wehrt er seinen Arm ab, schiebt ihn zu Seite und bedeutet uns: Dies Brot schenke ich euch.

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Geschenktes Brot hat einen anderen Geschmack.

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Schon seit längerer Zeit löst sich Ralphs Fahrradschuh auf. Kurz dachten wir daran, in den USA ein neues Paar Schuhe zu kaufen. Aber warum etwas wegwerfen, das man noch reparieren kann? Wir dachten dabei schon an solche Länder wie Marokko, hier ist das Serviceparadies in puncto Reparaturen. In Taliouline kam der Zeitpunkt dazu. Da sahen wir einen Schuster, der seinen kleinen Stand am Straßenrand aufgebaut hatte. Ralph zeigte ihm seinen kaputten Schuh, und schnell war klar, was wir wollten. Der Schuster bedeutete Ralph höflich, sich doch zu setzen. Während der Wartezeit erhielt Ralph einen hübschen Mietschuh, eine wundervolle weiße Damensandale. Andächtig sahen wir zu, wie der Schuh erst genäht, dann geklebt wurde, dann hämmerte der Schuhmacher bestimmt zehn kleine Nägelchen in Ralphs Sohle, und zum Schluss polierte er den Fahrradschuh noch auf Hochglanz. Er konnte es nur nicht verstehen, dass er Ralphs zweiten Schuh nicht auch noch putzen sollte, denn der hätte es sehr nötig, wie er uns unmissverständlich durch Zeichen klarmachte. Bevor er das Geld für seine Arbeit annahm, teilte er sich mit Ralph erst einmal eine Mandarine. Er genoss sichtlich die zusätzliche Aufmerksamkeit der Dorfbewohner, die es amüsant fanden, dass der Tourist in der Damensandale am Straßenrand beim Schuster saß.

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In der Wüste: Ein Auto hält vor uns. Ein Mann in Uniform steigt aus – kein Polizist, die Uniformen kennen wir unterdessen. Kurz denke ich an fingierte Ordnungshüter, die Touristen abkassieren, und schäme mich gleich darauf sehr für diesen Gedanken. Ob wir genügend Wasser hätten oder sonst etwas bräuchten, fragt der etwa 20-Jährige. Obwohl wir versichern, dass wir alles Nötige haben, schenkt er uns seinen gesamten Wasservorrat, immerhin zwei große Flaschen. Dann zeigt er stolz auf seine Abzeichen und erklärt uns, dass er Feuerwehrmann sei. Ah, Feuerwehrmann! Damit gesellt er sich zu den vielen anderen netten Helden, mit denen wir schon so gute Erfahrungen gemacht haben. Er aber wollte noch eins draufsetzen: Nachdem wir uns schon bedankt und verabschiedet haben, sehen wir ihn nach einigen Kilometern wieder am Straßenrand stehen und irgendetwas auf seiner Motorhaube hantieren. Hatte er eine Panne? Er winkt uns gestikulierend heran. „Hab ich ganz vergessen! Hier, nehmt! Als Stärkung für den Weg!“ Auf seiner Motorhaube steht ein Pappkarton voller Kekse. Keine Kekse aus dem Kilosack, wie wir sie während der Fahrt essen. Es sind die teuren Kekse aus der Konditorei. Er sucht rund ein Dutzend aus und schlägt sie vorsichtig in eine Zeitungsseite ein. Auch von ihm hören wir das uns schon sehr vertraute: „Bienvenue au Maroc“.

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Irgendwo zwischen Tazzarine und Alnif. Wir müssen von der Straße auf eine Piste abbiegen, die zu einem weiter entfernten Dorf führt. Wir brauchen Wasser und an der Nationalstraße gibt es keine Siedlungen. Hier in Mercissi kommen bestimmt sehr selten Fremde vorbei. Jedenfalls ist die Verwirrung und das Staunen über uns groß. Niemand spricht Französisch und wir bisher immer noch kein Arabisch. „Wasser“ und Brot“, „Bitte“, „Danke“ usw. können wir allerdings mittlerweile sagen. Leider kann uns niemand weiterhelfen, denn entweder gibt es gar keinen Laden, oder er hat geschlossen, das finden wir nicht heraus. Etwas hilflos stehen wir auf der Dorfstraße, die Menschenansammlung, die immer größer wird, weiß auch nicht, wie sie uns weiterhelfen soll. Schließlich bedeutet uns ein kleiner Junge auf seinem Fahrrad ihm zu folgen, führt uns um ein paar Ecken, und siehe da – plötzlich stehen wir doch vor einem Lebensmittelladen. Eigentlich die einzige Attraktion in diesem lehmfarbenen Dorf – außer uns natürlich, wir scheinen hier wie ein Wanderzirkus zu sein. Die inzwischen größer gewordene Menschenansammlung folgt uns jeden Meter. Da kommt ein Mann auf einem Moped vorbei,  der Französisch spricht und uns fragt, ob wir Hilfe brauchen. Nein, wir haben ja nun gefunden, was wir brauchen, antwortet Ralph, aber ihn würde interessieren, wo er arbeitet. Woher diese Frage kam, weiß Ralph selbst nicht mehr, eine momentane Verlegenheit. Doch diese Frage stellte sich als genau die richtige heraus. Den ganzen Tag lang schon hatten wir in der Wüste, durch die wir fuhren, immer wieder Steinaufschüttungen und Stollen beobachtet und uns gefragt, was denn hier abgebaut würde. Immer wieder lasen wir Wegweiser zu nahe gelegenen kleinen Minen. Nun erfuhren wir wieso: die Gegend um Alnif ist bekannt für seine häufigen Fossilien. Die Menschen hier suchen nicht nur nach den Fossilien, sondern auch nach Kristallen, die in den Rissen der Gesteinsschichten zu finden sind. Viele Familien versuchen auf eigene Faust, Kristalle abzubauen und mit deren Verkauf ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ralph hatte durch seine interessierte Frage sofort einen neuen Freund gewonnen, der ihn gleich zu sich nach Hause mitnahm, um ihm seine in der vergangenen Woche abgebauten Kristalle zu zeigen. Ich blieb zurück mit der Gruppe der Dorfbewohner, die mittlerweile einen Halbkreis um mich und unsere Fahrräder gebildet hatten und mich erwartungsvoll ansahen. Nach einer gefühlt sehr langen Zeit hilflosen Lächelns wurde mir klar, dass ich irgendetwas unternehmen musste. So begann ich, die Geschichte unseres Unterwegsseins pantomimisch als Straßentheater aufzuführen. Wir fahren mit dem Fahrrad durch Marokko und kommen aus Deutschland (auf die Fahnen hinweisen). Ich spielte den Inhalt unserer Satteltaschen vor: In dieser Satteltasche ist unsere Kleidung gegen die Kälte (Arme um den Körper legen, auf und ab hüpfen, bibbern), hier ist das Essen (frisch gekauftes Brot zeigen), hier das Werkzeug (an den Pedalen rütteln, imaginären Schraubenzieher ansetzen). Dort befindet sich das Zelt (Hände zum Dreieck aufstellen), hier die Schlafsäcke (Hände unter dem Kopf falten und schnarchen). Stets wechselte der Gesichtsausdruck meines Publikums von Stirnrunzeln (Was will sie jetzt wohl sagen? Versteh ich nicht!) über Augen aufreißen und eifrig mit dem Kopf nicken (Jetzt kapiere ich!) zu applaudierendem Lachen. Als Ralph mit dem Minenarbeiter zurückkam, traf er auf eine höchst konzentrierte und, ich vermute, auch gut unterhaltene Zuschauergruppe vom kleinen Jungen bis zum Dorfopa, und ich war stolz, denn immerhin konnte ich mit der weltberühmten Geschichtenerzählertradition des arabischen Kulturkreises konkurrieren.

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Schon von Weitem sehen wir die aufgewirbelten Staubfahnen und hören das überzüchtete Kreischen der Motoren. Dann erreichen wir die Straßensperre. Vor uns überquert die Rallye Afrika die einsame Straße. Man erklärt uns, das sei die alte „Paris – Dakar“. Direkt vor uns ist ein französisches Team liegengeblieben, Auto kaputt. Der Begleithelikopter knattert über unseren Köpfen und filmt. Die zwei Piloten hängen an ihren Handys und versuchen, die Reparatur zu organisieren. Zuschauer an der Strecke gibt es hier in der offenen Wüste natürlich nicht. Wir und die Rallye. Ralph ist gut drauf, sein Knie tut heute nicht weh. Die Tagesetappe ist kurz und er hat viel zu viel Energie übrig. Ohne Rücksicht auf die Notlage der beiden Rallyefahrer biegt Ralph von der Straße ab, parkt sein Fahrrad neben dem defekten Rennwagen und labert die beiden, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, total zu. Er erklärt erstmal, dass die echte Rallye Paris – Dakar ja mittlerweile durch Südamerika über die Anden, genauer über den Paso San Francisco führe und er die „richtige“ Strecke mit dem Fahrrad gefahren sei. Die zwei Franzosen hören unbegreiflicherweise sehr höflich zu. Denn die Botschaft ist klar und bleibt doch unausgesprochen: Schaut Euch mal den ganzen lächerlichen Firlefanz an, den ihr hier betreibt. Wir fahren das mit dem Fahrrad!

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Ich beobachte das Zusammentreffen von der Straßensperre aus, wo zwei Polizisten den außer uns nicht vorhandenen Verkehr für die anderen vorbeistaubenden Rallyeteams anhalten. Ich erzähle ihnen, unterbrochen durch das Kreischen der Rennmotoren, dass wir seit vier Wochen mit dem Fahrrad in Marokko unterwegs seien und nur nette Erfahrungen mit hilfsbereiten Gendarmen gemacht hätten und frage, ob ich ein Foto von ihnen machen dürfe. Der Jüngere freut sich über meine Lobesansprache und ist dazu auch sofort bereit. Der Ältere jedoch erklärt mir, dass das leider verboten sei. Wusste ich natürlich schon, war auch eine etwas mutige Anfrage. Es ist deutlich zu merken, dass es dem älteren Herrn jedoch sehr unangenehm ist, meine Bitte abweisen zu müssen. So bietet er mir von einem im Straßenstaub stehenden Tablett eine Tasse Tee an, der eigentlich für sie selbst vorgesehen war: „Verzeihen Sie, Madame! Herzlich Willkommen in Marokko, Madame!“

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Wie geht es weiter?

Wir sitzen jetzt gerade in Merzouga mitten in den Sanddünen der Sahara und überlegen gleichzeitig, wie es weiter geht. Wir kommen am 13. Januar nach Hause, zwei Wochen früher als geplant. Von Biberach aus wollen wir uns dann Anfang Februar auf den Weg zu „unserer“ Schule in Indien machen, immer nach Osten. Zunächst einmal planen wir über die Alpen nach Venedig zu fahren und hatten dann eigentlich vor, das Schiff in die Türkei zu nehmen.

Mit dem Schiff von Venedig kommend, würden wir in Bodrum an der türkischen Westküste an Land gehen und dann die Türkei ihrer gesamten Länge nach durchfahren. Die Türkei ist ein großes und ein bergiges Land. Wir hatten sechs Wochen dafür vorgesehen, denn wir wollten abseits der ausgetretenen Tourismuspfade nicht an der Küste entlang fahren, sondern durch das bergige Hochland des Landesinneren. Dort würden wir gleich zu Beginn, im März, auf 1000 Meter Höhe steigen und am Ende, ganz im Osten, nördlich des Van-Sees müssten wir dann noch einmal einen Pass mit 2900 Metern Höhe überqueren. Es würde also mal wieder sehr bergig und sehr kalt werden. Wir waren vorbereitet. Wir freuten uns auf die Begegnungen mit den Türken und hatten allen Grund dazu. Wir würden auf viele Einheimische treffen, die Deutschland aus eigener Erfahrung oder aus den Berichten irgendwelcher Familienmitglieder kennen, die in den 50er Jahren als Gastarbeiter dorthin zogen. Gastfreundschaft würde uns immer wieder begegnen, das konnten wir schon jetzt mit Bestimmtheit sagen. Wir hatten schon Telefonnummern in unseren Lenkertaschen von Familien, die wir dort besuchen sollten. Wir waren gespannt auf die Türkei und freuten uns auf dieses Land. Und heute trauerten wir um die Türkei. Warum?

Mit dem Fahrrad um die Welt zu reisen erfordert nicht nur sich um den jeweils vor einem liegenden Tag zu kümmern. Es erfordert nicht nur in die Pedale zu treten und die Distanzen körperlich zu bewältigen. Dies haben wir ja immer wieder in den bisherigen Berichten beschrieben. Neben alledem überrascht uns die große Menge Zeit und Energie, die die Gesamtorganisation der Reise erfordert. Wir werden dabei immer wieder gezwungen weit voraus zu denken und immer mehrere Länder parallel im Blick zu haben. Kaum können wir uns auf schon gemachte Erfahrungen anderer verlassen. Es gibt zwar eine kleine, gut vernetzte Gemeinschaft von Weltradlern. Die machen aber alle ihr eigenes Ding und kaum einer fährt genau dieselbe Strecke wie wir. Das ist auch gar nicht möglich, denn der jeweilige Plan muss fast täglich den Verhältnissen angepasst werden. So ist das auch jetzt bei uns. Wir haben natürlich eine Route, die wir gerne verfolgen würden. Die findet Ihr ja auch hier auf der Homepage unter dem Navigationsreiter „geplante Route“. Dort könnt Ihr Straßenkreuzung für Straßenkreuzung sehen, was wir GPLANT haben. Allerdings sind wir schon jetzt immer wieder von diesem Plan abgewichen – und das war klug so.

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Timbuktu liegt nicht auf unserer geplanten Route.

Und so kommt es, dass wir heute Morgen beim Kaffee an der staubigen Dorfstraße von Merzouga sitzen und die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes lesen. Das ist eine regelmäßige Pflichtlektüre für uns. Seit spätestens zwei Jahren verfolgen wir aufmerksam und sorgenvoll die politischen Entwicklungen in der Türkei. Es sieht nicht gut aus und es wird im Jahr 2017 nicht besser werden, davon sind wir leider überzeugt. Eigentlich planen wir in sechs Wochen schon in die Türkei einzureisen. Wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Das Auswärtige Amt zählt rund ein Dutzend Provinzen im Osten des Landes auf und empfiehlt: „alle nicht zwingend erforderlichen Reisen in diese Gebiete sollten vermieden werden.“ Rund die Hälfte dieser Provinzen liegt auf unserer geplanten Route. Wir wissen natürlich, dass das Auswärtige Amt sehr vorsichtig ist und eher zu viel als zu wenig warnt. Aber diese Formulierung ist in dieser Eindeutigkeit eher selten zu lesen. Wir sind uns also, der Kaffee ist noch nicht ausgetrunken, einig, dass wir die Türkei von unserer Länderliste streichen müssen. Diese Entscheidung hat sich schon länger angekündigt. Wir verfolgten in den letzten Monaten jeden Zeitungsartikel, jede Nachrichtensendung zur Türkei mit gemischten Gefühlen. Wir wussten schon seit längerer Zeit, dass wir unseren Plan ändern müssen. Heute Morgen haben wir die Entscheidung gefällt und darum trauern wir besonders heute um die Türkei.

Die Eine oder der Andere mag jetzt vielleicht erleichtert sagen: „Gott sei Dank, sie sind doch nicht so irre, darauf zu beharren durch die Türkei zu fahren.“ Dann gleich der nächste Gedanke: „Welchen debilen Weg werden sie wohl finden, um die Türkei zu umfahren?“ „Donauradweg?“; „Doch etwa nicht über Radio Eriwan?“ Wir haben uns noch nicht entschieden. Habt Ihr einen guten Vorschlag für uns? Schreibt uns doch Eure Ideen. Vorher solltet Ihr allerdings einige Infos zu folgenden Themen berücksichtigen. Auch auf diese Weise lernt man ganz gut die Welt kennen: Klimatabellen, politische Systeme, Geographie, Straßenverkehr, militärische Sperrgebiete, Wüsten, Besiedlung, ethnische Gruppen, Wohlstands- bzw. Armutsniveau, Versorgungslage mit Lebensmitteln, landesübliche Infektionskrankheiten, lästige Tiere, touristische Infrastruktur, störende Gebirge, jahreszeitlich bedingte Unbefahrbarkeit der Pässe, Straßenzustand, medizinische Infrastruktur, Sprachen, landesübliche Trinkgewohnheiten und so weiter und so fort. Das alles zu berücksichtigen ist nicht unserer Oberlehrerhaftigkeit geschuldet. Die Erfahrung spricht daraus, denn mit jedem dieser Themen hatten wir schon ziemlich kuriose Erfahrungen gemacht – und so wurde die Liste länger und länger. Wir sitzen also beim Morgenkaffee in Merzouga, nennen neue Länder und stricken neue Pläne, während die Sonne im Osten den Rand der riesigen Sanddünen erklettert hat und die staubige Wüste mit orangem Licht flutet. Dorthin, immer nach Osten werden wir weiterfahren. Es wird einen Weg für uns geben, auch wenn wir ihn noch nicht kennen. Und wie ich hier mir angewöhnt habe hinzuzufügen: Inshallah, „so Gott will“, nicht fatalistisch, sondern demütig: „Ich hab es nicht in der Hand“.

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