Hier findet Ihr die zweite Marokko-Bildergalerie.
Schaut Euch doch mal die Hirten an! Sie haben recht wenig gemeinsam mit dem idyllischen Bild des Schäfers, der auf seinen Stab gestützt in seinem gewachsten Mantel zwischen Wachholderbüschen der Schwäbischen Alb steht, umringt von wollig wohlig genährten Schafen. Diese Hirten hier haben Plastiktüten in der Hand, darin befindet sich alles, was sie hier oben zum Überleben haben. Sie sind dreckig, teils in beduinische Tücher gehüllt, teils versorgt mit billigen Bayern-München Sweatern aus deutschen Altkleidersammlungen. Die Herden sind erbärmlich unterernährt, kaum Fleisch auf den Rippen und für unser Auge gibt es weit und breit kein Grün, das die Ziegen fetter machen würde. Diese Hirten hier dürfen nicht am Rand der Dörfer die Tiere hüten, sie werden mit ihren Herden hoch hinaus in die Berge geschickt, da wo keine Äcker mehr sind, weil es zu karg ist. Hier, wo nur noch Steine wachsen und der Wind so kalt pfeift wie in einer vorweihnachtlichen Fußgängerzone, hier wo bis zum Horizont auch hinter der siebten Hügelkette keine Ansiedlung mehr ist, hier hausen die Hirten. Wobei „hausen“ die Vorstellung von ihrem Dahinvegetieren in eine falsche Richtung lenkt, denn ein Haus gibt es hier nicht; auch keine Wellblechlehmhütte, auch keinen Unterstand. Sie haben ein Stück Plastikplane und eine dünne Decke.
Schaut Euch doch mal die Hirten an! Wir haben das in den letzten Tagen sehr ausführlich getan. Nicht aus romantischer Ader heraus oder weil wir auf der Suche nach idyllischen Fotomotiven waren – die Armut ist hier zu hässlich und dreckig, als dass sie auf Fotos idyllisch aussehen würde. Vielleicht auch deswegen lassen sie sich nicht gerne fotographieren. Wir wollten nach Osten und mit dem Fahrrad die Hauptverkehrsadern vermeiden. Die Hauptstraße wäre 50 Kilometer nördlich durch das große Tal nach Osten gezogen. Wir hier erkletterten jeden Hügel und jeden Pass längs, nicht quer, über den Antiatlas. Auf diesen abgelegensten Sträßchen begegneten uns vorwiegend Hirten. Wir hatten also genug Zeit uns mit deren Lebensbedingungen vertraut zu machen. Wir froren, wir mühten uns mit dem Schnee ab, wir suchten uns in den Steinen einen Schlafplatz.
Worauf will ich hinaus, jetzt zu Weihnachten? Nein, ich will Euch keine idyllische Weihnachtsmeditation unterjubeln. In dieser menschenfernen Isolation bei den Hirten hatte ich die ganze Zeit bestes Handynetz und habe dank günstiger Surftarife von Maroc Telecom das Weltgeschehen aus der Perspektive der Hirten betrachtet. Es war schon absurd, hier vom Rand der Welt neben den Plastiktütenhirten die Berichterstattung über die Amokfahrt auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zu verfolgen, die Twitterbotschaften des zukünftigen amerikanischen Präsidenten, die Rezepte für „mal ein ganz anderes“ Weihnachtsmenü, Trainerwechsel in der Bundesliga, und welche Kinofilme sich über die Feiertage „lohnen“. Dazwischen immer wieder Kommentare, Reaktionen, Analysen zum Terror im Speziellen und zum deprimierenden Weltgeschehen im Allgemeinen. Meine Reaktion darauf befremdete mich. Ich empfand fast alles, was ich da hörte, las und sah, als hysterisch, überdreht, kreischend. Waren diese durch die Medien vermittelten Reaktionen schon immer so hyperventilierend und schrill? Waren wir schon so lange weg aus dieser Welt, dass uns die eigene Heimat fremd geworden war? So sehr ich auch in mich hineinhörte, ich fand es schrecklich, dass jemand Menschen tötet, zumal in meiner Heimat, ich konnte aber diese Weltuntergangshysterie nicht verstehen, die sich über die Medien ausbreitete. Ich hätte gerne angerufen und gefragt, was die Einzelnen dazu denken, vielleicht hätte das dieses Bild, das ich bekam, relativiert. Aber so war ich vor allem befremdet hier bei den Hirten am Rand der Welt. Da kam mir in den Sinn, wie alles umwertend und umstürzlerisch es sein müsste, das Weltgeschehen aus der Perspektive der Hirten zu erzählen. Könnte das nicht heilsam sein für die Hysterie derjenigen, die immer im Rampenlicht stehen und sich dabei ständig selber betrachten müssen? Könnte das nicht einige Ängste zurechtrücken, derer, die gewohnt sind die Welt vom vermeintlichen Zentrum her zu denken und nicht vom Rand her zu betrachten? Wäre das nicht manchmal hilfreich, das Geplärr und Geschrei und das Gedudel abzustellen und für einige Zeit in einer Steinwüste mit einer Plastiktüte zu stehen? Was würde das nicht alles an unserer Sicht der Dinge ändern, wenn wir ein paar Tage mit den Hirten in der Kälte sitzen würden? Es ist schon ein genialer Plan der Weihnachtsgeschichte, das Zentrum des Weltgeschehens für ganz kurze Zeit zu den Hirten zu verlegen.
Wenn man dann aus dem Zentrum der Hysterie heraus kommt und am Rand bei den Hirten Platz genommen hat, wenn der Aufregungs-Tinitus abgeklungen ist, dann kann man vielleicht wieder das eigene Bild von der Welt zurechtrücken. Was ist unser Bild? Das haben wir uns in Vorbereitung auf Weihnachten gefragt. Hier im muslimischen Land, in dem uns nichts an Weihnachten erinnert und uns aber auch keine Weihnachtskonsummaschinerie ablenkt, hatten wir Zeit über unser Bild von diesem Fest nachzudenken. Wir haben dazu Rückblick gehalten, die Ereignisse unserer bisherigen Reise an uns vorbeiziehen lassen. Wir haben unsere Berichte noch einmal gelesen und auch die vielen Emails, voll von Unterstützung und herzlicher Verbundenheit von Euch zu Hause. Vor dem Hintergrund der Angst- und Katastrophenberichterstattung, neben düsteren Jahresrückblicken und angesichts pessimistischer Ausblicke auf das Jahr 2017 drängt es uns zu widersprechen. Das ist nicht das Bild der Welt, wie es sich für uns darstellt. Uns ist aufgefallen, dass wir immer wieder von Begebenheiten berichtet haben, die hauptsächlich eine Kernaussage haben: „Fürchtet Euch nicht!“ Wir sind, und das ist unsere Jahresbilanz, so herzlich begleitet worden, von Euch Freunden, aber auch von wildfremden Menschen. Uns wurde geholfen, wir wurden beherbergt, man hat uns freundlich angefeuert, uns zugewinkt und angelächelt. Besonders hier in Marokko sind uns die muslimischen Menschen über die Maßen freundlich begegnet.
Monsieur Achmed zum Beispiel, der mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern auf dem Wochenmarkt war, sah uns im Straßengraben sitzen beim Picknick im Windschatten hinter Felsen. Er hielt für uns an, stieg aus und lobte unsere Klugheit der Wahl des Picknickplatzes. Dann ging er zu seinem Kofferraum und schenkte uns von allem, was er eingekauft hatte, mindestens eine Handvoll. Das war neben Orangen, Zitronen, Rettich und Brot auch Gerste, aber er wollte uns nicht ohne zwei Hände voll dieser Gerste zurücklassen. Dann schrieb er uns noch seine Telefonnummer auf, man wisse ja nie, vielleicht könnten wir ja noch seine Hilfe brauchen. Er umarmte mich zur Verabschiedung wie einen Freund, küsste mich auf beide Backen, Imke gab er höflich die Hand und hieß uns zum Abschied in Marokko willkommen: „Bienvenue au Maroc!“ Dann fuhr er weiter.
Was will ich sagen, indem ich hier diese kurze Begegnung am Straßenrand schildere? Wir wurden vor unserer Losfahrt in Biberach von vielen Menschen gefragt, ob wir keine Angst hätten da draußen in der gefährlichen Welt so allein unter Fremden. Wir sind keine furchtlosen Gesellen und wir sind uns der Gefahren bewusst, denen wir uns aussetzen. Weil wir immer hautnah dran sind, haben wir auch gar keine verklärende Sicht auf die Bedingungen unter denen wir reisen und wir haben auch keine verkitschten Ansichten dazu. Wir wären allerdings nicht auf unsere Reise aufgebrochen, wenn wir nicht auch die Stimme der Geschichten deutlich hörten, die etwas leiser aber bestimmt uns auffordern: „Fürchtet Euch nicht!“ Wir sind nicht die Engel der Weihnachtsgeschichte. Wir sind nicht die Hirten. Aber wir haben das Glück, dass uns diese Geschichten begegnen und wir davon berichten können. Also, schaut Euch doch mal die Hirten an, es gibt eine ganze Menge Menschen und Ereignisse, die einem gute Gründe liefern, sich etwas weniger zu fürchten und etwas gelassener zu sein. Das schließt bitte aber auch harte Kritik am Zustand der Welt sehr wohl ein. Lasst Euch nicht hartherzig machen, von einem pessimistischen Weltbild. Rückt das Bild zurecht, vielleicht mithilfe der Plastiktütenhirten.
Musik: on the move / von Dag Reinbott / http://www.terrasound.de