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In Usbekistan
Es ist uns, wie ihr ja wisst, schwer gefallen, den Iran zu verlassen. „Die Usbeken werden es nicht leicht haben, nachdem die Iraner uns so auf Händen getragen haben“, dachten wir, und waren etwas skeptisch, wie uns dies Land wohl empfangen würde.
Doch da hatten wir die Rechnung ohne die Usbeken gemacht. Das Gefühl, das sich schon am Flughafen beim Zusammenbauen der Räder abzeichnete, begleitete uns die ganzen folgenden Tage: Wir fühlen uns sehr wohl in Usbekistan. Vielleicht denken manche von Euch jetzt: „Die schreiben ja immer über die Freundlichkeit der Leute!“ Und ja, das tun wir, wir müssen es tun, denn genau dies ist es, was uns immer wieder aufs Neue überrascht und bewegt – wohin wir auch kommen, wir werden als Fremde freundlich aufgenommen. Niemand hätte es besser formulieren können als unser Freund Achim im Radiofeature des WDR: Das ist doch eine Botschaft, die man in unseren Tagen weitererzählen muss – überall auf der Welt gibt es hilfsbereite und freundliche Menschen.
Wie schon in Armenien ist es gleich unsere erste Übernachtung nach dem Aufbruch von Tashkent, bei der wir dies wieder erleben. Wir fahren durch ein von Dörfern durchzogenes Gebiet und finden keinen versteckten Zeltplatz. So schieben wir unsere Räder auf zwei ältere Herren zu, die im Schatten eines Maulbeerbaumes vor einem kleinen Dorfladen sitzen und Domino spielen. Wir begrüßen sie – auch hier legt man sich dazu die Hand aufs Herz und deutet eine leichte Verbeugung an – „Salam aleikum!“. Es war nicht leicht, von Farsi wieder zurück zu unseren wenigen russischen Sätzen zu wechseln, aber wir können unsere Geschichte schon wieder ganz gut erzählen: Wer wir sind, woher wir kommen, alles mit dem Fahrrad, Lehrer aus Deutschland. Wir fragen sie, ob wir vielleicht irgendwo im Dorf unser Zelt aufstellen dürfen, vielleicht hier unter dem Baum?
Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage! Die Frau des einen Herrn kommt hinzu, schenkt uns jedem eine Plastikwasserflasche, gefüllt mit selbstgetrocknetem Kräutertee, und winkt energisch ab. Unsere drei Kinder sind längst aus dem Haus, da müsst ihr doch nicht im Zelt schlafen, ihr Zimmer steht doch leer! Kommt mit, ich mache nur noch gerade den Laden zu, dann zeige ich euch, wo ihr schlafen könnt. Ihr bleibt bei uns!
Sie öffnet ein Eisentor, und wir schieben unsere Räder in einen kleinen weinumrankten Innenhof mit Garten. An einem Wasserhahn im Hof waschen wir uns, froh, die Schicht aus Schweiß, Salz, Staub und Sonnencreme abwaschen zu können. Fließendes warmes Wasser gibt es nicht, ebenso wenig ein Bad, sondern ein Plumpsklo. Als die Dämmerung hereinbricht, essen wir gemeinsam Schaschlikspieße und Brot, denn natürlich wird nicht zugelassen, obwohl wir es versuchen, dass wir uns Nudeln auf dem Kocher zubereiten. Mittlerweile hat sich im Dorf herumgesprochen, dass zwei rosa Elefanten hier zu Gast und zu bestaunen sind. Die Nachbarsfrauen kommen mit ihren Kindern vorbei, alle wollen mich umarmen und überreichen uns, wie um uns vollends zu beschämen, noch Geschenke. Wieder einmal erfüllt mich eine tiefe Dankbarkeit, als wir uns spät in der Nacht hundemüde auf den Rollmatratzen, von der Hausherrin sorgfältig ausgebreitet und mit einem Laken bedeckt, im leeren Zimmer auf dem Teppich ausstrecken. Nicht einmal die fünf Riesenkakerlaken, die noch schnell vor uns weghuschen, können heute mein Schlafglück stören.
Es ist heiß in Usbekistan. Sehr heiß. Die Temperaturen bewegen sich zwischen 35 und 42 Grad im Schatten. Unser Weg führt uns von Tashkent über Samarkand nach Buchara. Es ist eine zwischen uns umstrittene Frage, ob Radfahren oder berühmte Bauwerke besichtigen bei dieser brüllenden Hitze bescheuerter ist. Wir können uns nicht einigen und machen beides.
Morgens graut schon um 3:30 Uhr der Tag. Nach einer viel zu kurzen Nacht in einem recht stickigen Zelt fällt uns das Aufstehen um fünf Uhr schwer. Schon um sieben, wenn wir unsere Räder auf die Straße schieben, steht die Sonne hoch am Himmel und beginnt schon auf der Haut zu brennen. Wir fahren durch eine eher langweilige, durch Landwirtschaft und Baumwollanbau geprägte Landschaft. Am Straßenrand ziehen sich Bewässerungskanäle entlang, an deren Rand sich Pappeln im Wind wiegen. Viele Usbeken sind mit Eselskarren auf dem Weg zu Feld, auf dem in beißender Hitze Männer und Frauen mit gebeugten Rücken ihre Äcker bestellen, zum Schutz vor Staub und Sonne mit vermummten Gesichtern. Wie in bisher jedem Land außer den USA gehören die schmalen Streifen dürren Grases rechts und links der Straße, die einzigen nicht privaten Landflächen, den Schaf- und den Ziegenhirten. Deswegen heißt eine Regel beim Wildcampen auch: Irgendwann kommt immer ein Hirte vorbei! Denn wir suchen genau wie die Tiere ein Stückchen Gras im Schatten, um unser Zelt aufzustellen.
Ab 12 Uhr tut es weh, überhaupt nur in der Sonne zu stehen. Dann versuchen wir, irgendwo ein Stückchen Schatten zu finde, wo wir die nächsten Stunden verdösen können. Das ist manchmal gar nicht so einfach, denn die Schattenplätze am Straßenrand sind fast alle immer schon von Kühen besetzt. Jede usbekische Familie auf dem Land hat zur Versorgung einen kleinen Garten, um Gemüse und Kräuter anzubauen, und eine Kuh. Ein Familienmitglied hat die Aufgabe, diese Kuh während des Tages an der Leine auf die kleinen Grasplätze zu führen, die niemandem gehören. Oft verbringen wir die Mittagszeit unter einem leider meist zu kleinen Baum, unter dem wir unsere Picknickdecke dann mehrmals mit dem wandernden und sich leider meist verkleinernden Schatten verrücken. Oder wir liegen am Rande eines Feldes auf einem kleinen überdachten Lehmplatz, auf dem zur Erntezeit das Getreide gedroschen wird. Oft gesellt sich ein Feldarbeiter zu uns und bietet uns höflich an, seine Rollmatte mit ihm zu teilen. So liegen wir da, dämmern vor uns hin, verscheuchen die Fliegen, sind müde und können doch nicht schlafen, das Hirn runzelt zusammen, der ganze Körper ist auf „Stand by“. Später stellen wir fest, dass wir kaum Bilder in den ersten Tagen während unseres Weges nach Samarkand gemacht haben. Die Hitze hatte unsere Energie auf das Notwendigste reduziert.
Wenn wir großes Glück haben, finden wir ein kleines Restaurant, in dem auch die Usbeken Mittagspause machen. Man liegt auf großen gepolsterten Holzbetten im Schatten „zu Tische“ und bekommt genau das serviert, was man in dieser Hitze gerne essen möchte: viel Hammelfleisch, viel Fett, viele Kohlenhydrate. Obwohl das ein wenig ungerecht ist, denn es gäbe auch Salat, aber den essen wir vorsichtshalber nicht, denn Durchfall können wir nun auf gar keinen Fall gebrauchen. Da halten wir uns lieber an das usbekische Nationalgericht Plov (Reis mit Rosinen, Zwiebeln und Karotten) oder Somsa, mit Hammelfleich gefüllte Teigtaschen, die in einem großen Holzofen an die heiße Steinwand geklatscht und so gebacken werden.
Für die heutige Nacht fanden wir eine perfekte Zeltstelle in einem kleinen Kiefernhain mit ebenem Boden und Magerwiese. Fast zu idyllisch, um wahr zu sein. Wir wunderten uns, dass auch im Lauf des Abends niemand vorbeikam, denn etwa zwei Kilometer entfernt lag das nächste Dorf. So blieben wir unbehelligt und legten uns müde schlafen. Da wir tagsüber aufgrund der großen Hitze versuchen ausreichend viel zu trinken, musste ich diese Nacht dann doch aufstehen. Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor drei Uhr morgens. Am Horizont war noch kein grauer Streifen des Tages zu sehen und im Wald war es doppelt finster. Was war da? Das kann nicht sein – um diese Zeit hier, abseits der Straße, mitten im Wald! Aber es war nicht zu leugnen: Ein hin- und herzuckender Strahl einer sehr starken Taschenlampe bewegte sich mitten in der Finsternis des Waldes genau auf unser Zelt zu. Die einzelnen Stämme warfen lange schwankende Schatten. Ich stand unbeweglich, wie angefroren, um alle Energie für das Denken parat zu haben, das jetzt mit einem Mal sehr intensiv einsetzte, während ich gerade noch verschlafen vor mich hinträumte.
Zuerst denkt man ja fast automatisch an etwas Ungemütliches. Dann zwinge ich mich dazu harmlose, weil wahrscheinlichere, Erklärungen zu finden für das, was da auf mich zukommt und in zwei bis drei Minuten mich erreicht haben würde. Schlimm ist das Gefühl, dass mir in diesem Fall keine harmlose Erklärung einfallen wollte. Um diese Zeit? Mitten im Wald? Das hatten wir noch nie? Dann, ohne eine plausible Erklärung gefunden zu haben, alles ereignet sich eigentlich in Sekunden, überdenke ich das Notwendige: Imke wecken? Zurück ins Zelt? Stehend gegenübertreten? In Unterhose?
Noch bevor ich die Entscheidung treffen konnte, hörte ich das Geräusch, das das Licht begleitete: ein uns von vielen Abenden und frühen Morgen sehr vertrautes Geräusch. Da, wo wir schlafen, sind sie auch. Wenn sie nicht da sind, ist etwas faul. Wir teilen uns eben den exakt gleichen Lebensraum mit ihnen, das Land, das keiner Privatperson gehört und deswegen öffentliches Land ist. Ich hörte das müde Meckern der Ziegen und wusste einmal mehr: Es sind die Hirten! Ich kann mir nur erklären, dass sie aufgrund der großen Hitze des Tages sich neuerdings auf die Mitte der Nacht verlegt haben. Um 3 Uhr hatten wir bisher jedenfalls noch keine Hirtenbesuche. Jetzt traf der Strahl mich und das Zelt. Obwohl ich den Hirten hinter der Lampe nicht erkennen konnte merkte ich an der Bewegung des Lichtstrahls dass er sich ordentlich erschrak. Dann ein Zögern. Aber was soll einen Hirten schon ängstigen. Mit der Geschwindigkeit seiner Ziegen kam er auf mich zu. Imke war unterdessen auch aufgewacht und sie fragte flüsternd aus dem Zelt, was los sei? Ich antwortet: „Die Hirten!“ Sie wunderte sich nicht weiter und verschlief das Folgende, wie ich später von ihr erfuhr (Ich bewundere ihre Coolness immer wieder, immer mehr).
Was kommt jetzt, im finsteren Wald? Das was immer kommt, wenn man den Hirten hier begegnet: Die usbekische Begrüßung. Die rechte Hand schwingt weit aus, als wolle man sich gegenseitig ohrfeigen, dann ein runder Schwung nach unten, die beiden Hände der Begrüßenden treffen sich auf Gürtelhöhe und klatschen laut ineinander. Jetzt wird das Gegenüber mit einem so heftigen Ruck zu sich herangezogen, dass es dem Unvorbereiteten das Schultergelenk auskugeln könnte. Die beiden Brustkörbe stoßen aneinander, der Handschlag geht über in eine innige Umarmung mit zweimaligen Backenaneinanderlegen, rechts, links. Dann zum Abschluss der feste Händedruck und der klare Blick in die Augen.
Die folgende Unterhaltung fiel aufgrund der frühen Stunde etwas kürzer aus, wir waren beide wohl noch recht müde. Dann die kurze Verabschiedung, denn die Ziegen, die uns und das Zelt während alledem wie ein Kugelbad umgaben, sind unterdessen weitergezogen und der Hirte muss hinterher. Ich bleibe zurück im finsteren Wald und werde mir erst jetzt bewusst, dass ich die ganze Zeit in Unterhose dastand.
In Buchara trafen wir zwei Iranische Gepäckradfahrer. Sie verdienen sich das Geld für ihre Reise mit Straßenmusik. Um uns bei ihnen stellvertretend für all die Gastfreundschaft, die wir im Iran erfahren haben, zu bedanken, luden wir die Zwei zum Essen ein. Sie bedankten sich bei uns wiederum mit einem Privatkonzert vor einer alten Koranschule um Mitternacht. Das erinnerte uns an ein weiteres Spontankonzert, das andere iranische Radfahrer in der Wüste Dasht-e Kavir für uns am Straßenrand gegeben haben. Hier die beiden Videos dazu, damit Ihr auch in den Genuss kommt:
Seidenstraße
Ich würde es nicht Angst nennen. Aber bange ist uns schon, vor dem, was jetzt vor uns liegt. Wenn wir in Samarkand zur nächsten Etappe aufbrechen, liegen innerhalb der kommenden zweieinhalb Monate nur zwei Städte auf unserem Weg, der uns weitgehend durch dünn- oder unbesiedeltes Gebiet des Pamirgebirges führt. Vor uns liegen Tadschikistan und Kirgistan. Eine Route führt durch diese unwirtlichen Regionen über ein Dutzend Pässe mit mehr als 4000 Metern Höhe: die legendäre M 41, der Pamir-Highway, die Mutter aller Schotterpisten. Wir werden nicht den direkten Weg fahren, sondern vor allem in Kirgistan die Staubpisten suchen, um dem LKW-Verkehr auszuweichen. So etwa in der ersten Septemberhälfte wollen wir dann von Kasachstan her nach China einreisen. Was uns dann dort erwartet, können wir schlecht vorhersagen, denn wir werden uns zwischen den beiden riesigen Wüsten, der Taklamakan und der Gobi, hindurchquetschen in Richtung Urumqi. Von dort aus werden wir, schon ziemlich weit im Osten, nach Süden abbiegen und durch Osttibet fahren, weil uns die Chinesen den Weg durch das westtibetische Hochland verbieten. Dort, endlich im eigentlichen Himalaya, werden wir es mit mehr 4000er- und 5000er-Pässen zu tun bekommen. Insgesamt wird unser Chinavisum, uns drei Monate Aufenthalt im Land bewilligen – so hoffen wir. Das bedeutet, dass unser nächster Streckenabschnitt den Zeitraum von Übermorgen bis Anfang Dezember umreißt.
Wir wissen nicht, wie schwer es werden wird, in dieser Gegend regelmäßig Internetverbindungen aufzutreiben. Es kann deswegen sein, dass wir uns in nächster Zeit weniger häufig melden werden. Das ist aber nicht unsere Hauptsorge. Die gilt ganz anderen Versorgungsengpässen. Für das jetzt vor uns liegende Gebiet haben wir uns bei unserer Ausrüstung eher für das schwere Gerät entschieden. Sowohl hinsichtlich der warmen Kleidung als auch bei Medizin, Wasserfilter, Zelt und Fahrrädern haben wir von vornherein an diesen Streckenabschnitt gedacht. Wir sollten möglichst autark unterwegs sein können. Hier gibt es keine Fahrradläden mehr, keine Apotheken, keine Supermärkte oder größere Basare. Viele Reisende haben das Sortiment der wenigen kleinen Dorfläden beschrieben mit der Verwunderung, dass es zwar viele Sorten Bonbons gibt, aber nur wenige verlässlich vorrätige Grundnahrungsmittel. Sorgen machen uns im Moment vor allem die Temperaturen. Tagsüber hat es hier gerade in Usbekistan regelmäßig 40 Grad im Schatten. Bei dieser Hitze ist es unmöglich jeden Tag zu fahren, ohne mittelfristig Gesundheitsprobleme zu riskieren und dann erstmal gar nicht mehr weiter zu kommen. Wir können erst hoffen nach rund 800 Kilometern dauerhafter in größere Höhen aufzusteigen, wo die Temperaturen erträglicher werden. Bis dahin werden wir sicher nur die Möglichkeit haben, für die schlimmste Mittagshitze Schattenplätze zu suchen und uns dort ruhig zu verhalten und zu kühlen. Das war schon in den letzten Tagen der Fall. Wir standen um fünf Uhr auf und fuhren bis 12 Uhr. Ab zehn Uhr war es allerdings schon immer so heiß, dass unsere Fahrt nur noch einem Wettrennen in den nächsten Schatten glich. Dann fünf Stunden Pause und ab 17 Uhr bis zur Dämmerung möglichst viele Kilometer in einer weiterhin brütenden Hitze, aber eben ohne die aggressiv stechende Sonne der Tagesmitte.
Wir haben uns oft gefragt, warum wir so spät noch in Usbekistan und in Tadschikistan (dort wird es zunächst einmal auch nicht kühler) sind. Die schlichte Antwort lautet: wären wir früher hier, wären wir zu früh im Pamir. Die uns entgegenkommenden Motorradfahrer, von denen die meisten auch unsere Route fahren, berichteten von unpassierbaren Schlammpisten, von gigantischen Bergrutschen und von Felsstürzen aufgrund von Regen im vor uns liegenden Pamirgebirge. Viele der Pässe, die wir befahren wollen, sind erst ab Juni geöffnet und ab Juli ernsthaft sicher befahrbar. Überhaupt erscheint mir diese Radtour in ihrem fragilen Timing ähnlich eines Versuchs bei Hunderten von Ampeln genau so zu fahren, dass wir immer auf dem Kamm der Grünen Welle surfen – nicht zu langsam, nicht zu schnell. Gleichzeitig müssen wir dabei natürlich immer auch berücksichtigen, dass unvorhergesehene Ereignisse einen um Tage oder Wochen zurückwerfen können. Die Grünphasen unserer Ampeln sind meist durch die extremen Klimabedingungen bestimmt. Man darf nicht zu schnell sein, weil der Winter noch den nächsten Pass blockiert oder das Visum für Tadschikistan erst ab dem 24. Juni gilt – man darf allerdings auch nicht zu langsam sein, weil die unerträglichste Hitze mit Temperaturen von 50 Grad nur einen Monat hinter einem herannaht und jedes Radfahren unmöglich macht. So ist es ein ständiger Balanceakt die richtige Zeit zu finden: Noch nicht in der Regenzeit, zwar schon im Sommer, jedoch nicht, wenn die Hitze den Asphalt auf 200 Metern über Meeresspiegel ganz aufgelöst haben wird, dann sollten wir in über 3000 Metern Höhe bleiben, in Kirgistan, wo es dann nachts für unsere Daunenschlafsäcke angenehme minus zehn Grad hat und tagsüber kurze Hosen genau richtig sind.
Es ist auch eine Lektion, die uns diese Radtour eindrücklich lehrt: Bei aller Klage über bescheidenes April- und Novemberwetter in Oberschwaben, es ist ein sehr dünner klimatischer Korridor, in dem menschliches Leben überhaupt möglich ist. Und wir sind dankbar, dass unser permanentes Zuhause sich in der „gemäßigten“ Zone befindet. Die allermeiste Zeit auf unserer Tour spüren wir an der eigenen Haut, wie sich die unmäßigen Klimazonen anfühlen und wie einschränkend sie für das tägliche Leben sein können.
Schon lange fahren wir auf der Seidenstraße. Spätestens jetzt, da wir in Buchara und Samarkand angekommen sind, befinden wir uns in deren Zentrum. Vor uns, gen Osten, liegen die ganz großen Hürden, auf dem Weg in die zivilisatorischen Zentren im Osten Chinas. Erwähnenswert wurde diese Verkehrsverbindung zwischen Ost und West ja erst durch ihre eigentliche Unmöglichkeit. Die Seidenstraße war nämlich alles andere als eine durch die Natur vorgegebene Route. Vom Mittelmeer bis nach China, mehr als 7000 Kilometer, ist sie eine der unwirtlichsten Strecken der Erde, die hauptsächlich durch Wüsten und Halbwüsten führt und eine Oase mit der nächsten verbindet. Das Zweistromland, das Iranische Hochland und das Tiefland von Turan liegen auf dem Weg. Hat man China mit der Taklamakan-Wüste erreicht, ist man umgeben von den höchsten Gebirgsketten der Erde: Im Norden ragt der Tianshan auf, durch dessen Ausläufer fahrend, wollen wir die Taklamakan umgehen, im Westen der Pamir, durch den die M41 führt (in Tadschikistan und Kirgistan) und im Süden der Himalaya, dessen osttibetische Pässe wir befahren wollen. Das ist ohne Zweifel eine der schwersten Routen der Welt (warum wir auch jetzt ständig heftig ausgerüstete Enduro-Fahrer und Extrem-4×4-Fahrzeuge treffen). Vielleicht gerade darum bildete sich in der Vergangenheit ein Sprachgebrauch, der diesen Verkehrsweg zu beschreiben versucht. Eben weil es eigentlich unglaublich ist, dass es hier ein Durchkommen gibt. Seidenstraße ist ein eher junger Name dafür, der vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Seit dem Beginn unserer Zeitrechnung war dieser Handelsweg für rund eineinhalb Tausend Jahre von enormer Bedeutung und die Reise auf ihm mit legendären Gefahren verbunden. Erwähnt werden in den Berichten der Reisenden immer wieder die kulturell blühenden und sagenhaft schönen Oasenstädte, zum Beispiel Buchara, Samarkand, Isfahan. Wir wissen unterdessen sehr gut, dass deren Schönheit im Auge des damaligen Reisenden ins subjektiv Unermessliche wuchs, weil dazwischen vor allem eines herrscht: Wüste!
Der Landweg, der das Mittelmeer über Zentralasien mit dem Osten Chinas verbindet, ist im Wesentlich trotz seines großen Namens nie etwas anderes gewesen als ein Trampelpfad von Huftieren zwischen den verstreuten Oasen in der riesigen Leere Zentralasiens. Eine durchgehende „Straße“ gab es bis in die Neuzeit hinein nicht. Auch heute würde ich viele Abschnitte der von uns befahrenen Strecke nicht leichtfertig mit dem Begriff „Straße“ beschreiben. Es war vermutlich auch nicht üblich, ja sogar eher die sagenumwobene Ausnahme, dass ein Reisender oder eine Karawane, die gesamte Strecke bewältigt. Marco Polo hat ja gerade darauf seine Berühmtheit begründet, ganz nach China gelangt zu sein. Ob das wirklich der Fall war und der letzte Teil der Reise nicht nur seiner wandernden Phantasie entsprang, wird bis heute auch wissenschaftlich angezweifelt. Güter hingegen legten den ganzen Weg zurück, nicht die Transportierenden. Der Handel wurde nur von Region zu Region betrieben. Gerade darauf basierte ja der große Reichtum der wichtigen Handelsstädte an der Route, der heute noch an den alten prächtigen Bauten abzulesen ist. Sie waren nicht nur große Karawansereien, in denen man sich für die nächste Etappe ausruhte und die Kamele wechselte, sondern Umschlagplätze, in denen Waren verkauft und gekauft wurden. Dann übernahm der nächste regionale Transportunternehmer die Weiterreise. „Seidenstraße“, weil Seide eines der begehrten und wertvollen Waren aus China war, ist darum der passendere Name, weil es eine durchgehende Reiseroute für die Güter war, weniger für die Menschen.
Gleichzeitig ist „Seidenstraße“ aber ein irreführende, eine naive Namensgebung. Das eigentlich Bedeutsame, das über die Seidenstraße transportiert wurde, sind nämlich nicht Waren gewesen. Hier in Buchara fanden wir am Türklopfer des Eingangsportals der Ulug’bek-Medrese (eine Art Studienzentrum des Islam und der damaligen Wissenschaften) den Wunsch:
„Möge für den Kreis der in der Bücher Weisheit Bewanderten die Pforte des göttlichen Segens jederzeit geöffnet sein“.
In der Geschichte der Mobilität ist nicht das Rad die bahnbrechendste Erfindung gewesen. Eine die Mobilität der Menschheit weit mehr beflügelnde Erfindung war diejenige, die zur geschriebenen Sprache führte. Die Schriftsprache ist die großartigste Erfindung der Menschheit. Sie wird mit ziemlicher Sicherheit auch von keiner zukünftigen Erfindung in ihrer Bedeutung übertroffen werden können. Die Seidenstraße ist mehr noch als eine Handelsroute ein Kommunikationsweg der Superlative gewesen. Transportiert wurden, mithilfe von Schrift und Erzählung, Kulturen, Philosophien, Ideen und Religionen.
Geschichten und Informationen machten den Weg um den damals bekannten Globus, so wie wir es gestern selbst beobachten konnten: Wir trafen Alexander auf dem Dach einer Moschee in der größten Mittagshitze. Alexander, ein junger russischer Tourist, dessen Vater ein Kartograph aus Buchara war, quoll über von Begeisterung über die Architektur dieser Stadt. Ganz offensichtlich gab da ein Vater seinem Sohn die Leidenschaft für die alte Heimat weiter. So begeistert war der Sohn, dass er uns ungefragt und zunächst uns eher unangenehm, weil in sengender Sonne stehend, eine fast vollständige Stadtführung vom Dach aus gab. Zuerst wollte ich schnell wieder raus aus diesem Gespräch zurück in den einlullenden Schatten der Maulbeerbäume. Dann aber wurde mir klar, dass ich gerade Teil geworden war der langen Kette des wandernden Wissens, das die Seidenstraße schon seit zweitausend Jahren bereist. Alexander gab uns, eingeflochten in die Beschreibungen von Buchara, eigentlich ein Lob der Kultur seiner Heimatstadt nahe St. Petersburg weiter. Am Ende seiner unterhaltsamen Ausführungen begann er uns über das Reisen mit dem Fahrrad auszufragen. Er habe nämlich schon immer eine größere Tour mit dem Fahrrad machen wollen aber bisher nicht gewusst, wie die Sache anzugehen sei.
Wir werden ab morgen wieder weiter nach Osten ziehen, Alexander wird wieder zurück nach Westen, Richtung St. Peterburg reisen. Ein Teil unserer Fahrraderfahrungen werden mit ihm gen Westen und ein Teil seiner kulturellen Begeisterung über St. Petersburg wird mit uns weiter gen Osten reisen. Ähnlich muss wohl auch der Ideenaustausch zu Zeiten Dschingis Khans verlaufen sein, nur dass wir nicht das Dach auf dem wir standen danach niedergebrannt haben.
Apropos Dschingis Khan: Schon zu seinen Zeiten war es wichtig, den Passanten, der über die riesige Strecke der Seidenstraße hinweg Regionen und Reiche durchquerte zu legitimieren. Ihm dadurch die Pforten der Herrschaftsgebiete zu öffnen, auf dass eine durchgehende Reise erst möglich werde. Im Mongolischen Großreich gab es dafür eine großartige Erfindung. Ausländische Reisende erhielten vom Großkhan einen „Paiza“. Das konnte eine Art Siegel, oder eine Plakette aus Silber oder Messing sein, auf der der Name des Großkhans eingeprägt war. Der Paiza war ein Zeichen dafür, dass der Reisende unter dem Schutz des Großkahns stand und dass jeder Einheimische seine Reise unterstützen solle. Wer den reisenden Inhaber einer solchen Paiza notwendige Hilfe verweigerte oder ihn sogar behinderte oder beraubte, der musste mit schwerer Bestrafung rechnen.
Auch wir sind glückliche Träger einer solchen Paiza, was sich auch an der permanenten Hilfe und Freundlichkeit zeigt, die wir bisher erfahren haben. Allerdings wurde unser Passierdokument nicht vom Großkhan persönlich ausgestellt. Wir tragen mit uns ein Empfehlungsschreiben des Oberbürgermeisters von Biberach. In der Formulierung dieses Schreibens haben wir uns allerdings eng an die mongolischen Vorgaben gehalten. Den Adressaten wird empfohlen, die mit diesem Dokument Reisenden jegliche Hilfe zukommen zu lassen, die zu einer erfolgreichen Bewältigung ihrer Mission beiträgt. Damit ausgerüstet gehen wir mit der Zuversicht in die nächste große Etappe der Seidenstraße, dass die Völker, denen wir jetzt begegnen werden, sich noch an die Praxis der Paizas des Großkhans erinnern.
Aufgrund der Internetzensur im Iran konnten wir Euch keine Videos hochladen, deswegen hier noch ein kleiner Nachklapp.