Anmut der Ödnis

Abschied von Vernal

Anmut der Ödnis

Wir sind in der Wüste. Wir fahren nicht durch die Wüste, wir sind in ihr. Auf dem Fahrrad sind wir immer schon den Bedingungen der Natur ausgesetzt. Hier in der Wüste spüren wir dieses Ausgesetztsein noch unmittelbarer und noch brutaler. Alle Pflanzen sind scharfkantig oder dornig, fahl und minimal. Die wenigen Tiere, die uns hier begleiten, verbergen sich in den heißen Tagesstunden in Höhlen oder verstecken sich unter den wenigen Büschen: Geckos, Kaninchen, Präriehunde, Wüstenfüchse, Skorpione und Schlangen. Allein die Antilopen stehen unbeeindruckt im stechenden Sonnenlicht. Schatten gibt es für uns keinen, nicht auf 50, 70 oder gar 100 Kilometern.

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Obwohl der Herbst die schlimmste Hitze langsam aufzehrt, merken wir deutlich, dass die Sonne hier eine zerstörerische Kraft hat. Soweit es uns möglich ist, bedecken wir jeden Zentimeter Haut mit Stoff, den Rest beschmieren wir mit 50+ Sunblocker. Obwohl wir auch bisher fast jeden Tag von morgens bis abends unter strahlendem Himmel verbracht haben, spüren wir bedrohlich, dass hier alles skeletttrocken ist, Wasser wird aufgesogen, verdunstet innerhalb von Minuten, verfliegt ins flirrende Nichts. Die Haut bekommt Risse, die Reifen werden mürbe, austrocknender Staub dringt überall ein, entzieht die verborgenste Feuchtigkeit und knirscht zwischen den Ketten und den Zähnen. Jeder von uns trinkt zwei Liter Wasser mehr. Wir spüren das schmerzlich, nicht nur weil wir plötzlich 4 Kilo mehr schleppen müssen, sondern auch weil unser Magen gegen die lauwarme Brühe rebelliert. Bis zu drei Liter haben wir immer an den Flaschenhaltern am Rahmen für die Fahrt und auf dem Gepäckträger ist ein Zehnliter Wassersack aufgeschnallt. Der zweite Tag ohne Versorgung verdoppelt die Menge. Wir ducken uns durch die Mittagskilometer und von der Nase tropft das Wasser als würde die Sonne uns auspressen. Ich nehme die Sonnenbrille kurz ab, um die Salzkrusten wegzuwischen und gerate ins Taumeln weil die Helligkeit den Gleichgewichtssinn überwältigt. Die Landschaft wölbt sich durch ihre Kargheit vor uns auf und dehnt den Himmel über sich aus. Während alles Lebende ausbleicht, knallen der Himmel und die Felsformationen die Farbe auf unsere Netzhaut. Roter Fels und gnadenlos blauer Himmel so sieht Utah für uns aus. Bei allem Leiden im Sattel erhebt uns die Kargheit dieser Landschaft über uns selbst. Mitten im alles erfüllenden Sonnenflirren stellen wir fest, dass wir eine Gänsehaut haben. Die Stille und die Weite erschüttern das Selbstempfinden bis ins Mark.

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Die Ausdehnung der wenigen Details auf eine gigantische Weite lässt uns anwachsen. Die Welt ist aufgeräumt, es gibt nur wenig, das die Sinne festhält und ablenkt. Wüste, das ist Reduktion von Gedöns. Die Gedanken werden klarer, zielen genauer, denn kein Dingsgewurschtel lenkt sie ab. Die äußere Klarheit reinigt und führt nach Stunden und Tagen auch zu einer inneren Klarheit. Die Ödnis hat ihre eigene pure Anmut. Wieder nach den Weiten der Anden sind wir an dem Ende unserer Worte angelangt um diese Schönheit auszudrücken. Empfinden können wir sie aber umso drängender: Irgendwie leuchtet uns unmittelbar ein, dass die Gotteserfahrungen in der Geschichte oft Wüstenerlebnisse waren.

 

Damit der Sattel weicher wird…

Wer auf Schotter- und Schlaglochpisten jeden Tag durchgerüttelt wird, der hat früher oder später eine Schraube locker. So geht es auch unseren Rädern. Keine halbe Stunde nachdem das Ersatzteil in Vernal uns endlich erreichte und meine Hinterradnabe ausgetauscht war, saßen wir wieder im Sattel. Welch ein Schreck, als ich beim nächsten Halt feststellte, dass mein vorderer Gepäckträger fast abfällt – Schraube locker! Deswegen ist heute mal wieder Schraubentag. Den gibt es zwar nicht so häufig wie Kettentag, aber auch er wird regelmäßig gefeiert. Das sieht so aus: In beiden Händen halte ich gleichzeitig alle Schraubenschlüssel, die uns zur Verfügung stehen und kontrolliere von hinten nach vorne, rechte Seite beginnend erst das eine, dann das andere Fahrrad. Jede einzelne Schraube wird kurz angesetzt und im Drehmoment kontrolliert. Es gibt viele Schrauben an so einem Fahrrad. Das ist ein schönes Ritual, eine Art Streicheleinheit für die Pferde; Ausdruck der innigen Beziehung, die wir unterdessen zu unseren Rädern haben.

Und wenn wir schon dabei sind über Fahrräder zu sprechen. An dieser Stelle möchte ich für Euch, geschätztes Publikum, eine neue Rubrik einführen: Sie heißt „Wahrheiten im Sattel“. Im ersten Beitrag möchte ich den Sattel selbst, wichtigsten Kontaktpunkt des Radlers zu seinem Fahrrad in den Blick nehmen. Man redet ja viel über den Sattel. Er dürfe den Damm nicht allzu sehr bedrängen, solle den Sitzknochen nicht zu sehr im Weg stehen, gleichzeitig nicht zu weich sein, um nicht die Blutgefäße zu quetschen. Er müsse für den Herrn eher exakt horizontal stehen, am besten mit der Wasserwaage eingenordet; für die Dame dürfe er aber durchaus bis zu einem Grad leicht geneigt sein… Viel Zeit hatte ich jetzt, um im Sattel über diese Ratschläge nachzudenken und möchte Euch eine Weisheit mit auf den Weg geben, die alle Diskussionen beenden könnte. Ich bin zu folgender Einsicht gelangt: „Damit der Sattel weicher wird, muss der Arsch härter werden.“