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Als er einmal gefragt wurde, warum er so universell neugierig sei, antwortete er: „What else is there in life?“
Henry David Thoreau, zum 200. Geburtstag
„Die Straße“
Die Einheimischen nennen sie fast ehrfürchtig „die Straße“. Sie windet sich über rund 2000 Kilometer von der afghanischen Grenze in Südusbekistan über Duschanbe, Tadschikistan bis nach Kirgistan durch eine der abgelegensten Hochgebirgsregionen dieser Erde. Was weiß man schon groß über Tadschikistan? Und über Osttadschikistan, Berg Badachschan? Die autonome Region Berg Badachschan ist so abgelegen, dass sie zwar 45 Prozent der Landfläche Tadschikistans ausmacht, dass in ihr aber nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung leben, rund 120 mal weniger Menschen pro Quadratkilometer als in Deutschland. In dieser Region des Pamirgebirges ist die Horizontale so rar, dass weniger als ein Prozent des Landes hier landwirtschaftlich nutzbar ist.
So unzugänglich ist die Region, in der wir uns gerade befinden, dass der Anschluss an den Rest der Welt erst 1940 fertig gestellt wurde, eben mit dem Bau „der Straße“. Sie ist eine der längsten Hochgebirgsverkehrsverbindungen der Welt. Ihr Streckenverlauf im Ostpamir liegt in einer Hochgebirgswüste immer über 3500 Metern. Dennoch sprechen die Fernfahrer vom westlichen niedriger gelegenen Teil am respektvollsten. Dort, etwa 100 Kilometer hinter Duschanbe, bis zur osttadschikischen Stadt Khorogh ist sie am gefährlichsten und immer noch fast komplett ungeteert. Hier windet sie sich entlang des Pjandschflusses, der die Grenze zu Afghanistan bildet und ist größtenteils nur ein schmaler Schotterpfad, der in den steilen Fels gemeißelt ist. Die Straße hat die unscheinbare bürokratische Bezeichnung M41. Dennoch ist dieses Kürzel in der Offroadszene und bei den Langstreckenradlern der Code für einen Mythos. Manche nennen sie „die Mutter aller Schotterpisten“, was natürlich Quatsch ist angesichts ihres recht jungen Alters. Manche behaupten sie sei „der heilige Gral“ unter den Straßen, was ebenso sinnlos ist, denn der ist ja bekanntlich verloren und kann nicht gefunden werden. Dennoch hat dieser Bezug etwas an sich, denn wer auf ihr unterwegs ist, seien es die Radfahrer, die 4×4-Fans, oder auch die tadschikischen Lastwagenfahrer oder die gelegentlichen Sammeltaxis, alle verbindet sie eine gegenseitige Anerkennung und verschwörerische Gemeinschaft, als sei man Teil einer Art Ritterschaft der Tafelrunde: man schluckt denselben Staub, man wird von denselben Schlaglöchern durchgerüttelt, man ist von Felsstürzen, Erdrutschen, Überschwemmungen bedroht und von extremen Temperaturen geplagt und jeder wird auf seine individuelle Art an den militärischen Checkpoints geschröpft und drangsaliert.
Was diese Gemeinschaft der auf der M41 Reisenden noch enger zusammendrängt, ist die gruselige Einsicht, dass man die Straße auf rund 300 Kilometern Länge besser nicht verlässt. Zwischen Kalai Chumb und Khorogh verläuft die Straße immer entlang der afghanischen Grenze, die auf der anderen Seite des Flusses oft nur einen Steinwurf entfernt liegt. Die heftig brodelnden Wassermassen des Pjandsch sind dabei der Garant, dass ein unerwünschter Grenzübertritt nur schwer möglich ist. Ein weiterer Garant stammt aus den Zeiten der Sowjetarmee. Diese hat weite Teile entlang der Straße während des Afghanistankrieges mit Landminen gesichert. Die meisten liegen da heute noch unter der Erde. Genau das macht jedes auch nur fußbreite Abweichen von der Straße bis heute so gruselig unsicher. Eine von der US-Regierung finanzierte Schweizer Stiftung ist mit der Minenräumung beschäftigt. Wir versuchen in ihrem kläglich ausgestatteten Stützpunkt in Shipad Genaueres zu erfahren und erhalten nur die Auskunft auf Russisch: „Straße nicht verlassen!“ Das ist allerdings für uns Radfahrer nicht so einfach wie für den motorisierten Verkehr. Die Dörfer sind selten und wohin sollen wir gehen, wenn man doch mal Wasser über natürliche Wege ausscheiden möchte und nicht nur über das literweise Schwitzen? Wo sollen wir campen, wenn wir das nächste Dorf nicht mehr erreichen können?
Wir sind auf dieser seltsamen Straße gefangen und sind durch die schlechte Qualität der Piste sehr langsam unterwegs. Wer aber oft auch nicht schneller fährt als wir, sind die Trucks, die von Duschanbe kommend nach China fahren. Oft sind wir stundenlang abwechselnd am gegenseitigen Überholen oder sehen uns am nächsten Tag beim Truckstop wieder, der nicht viel mehr als ein Blechcontainer ist. Überhaupt sehen wir immer wieder ungläubig zu, wie sich die riesigen LKWs mit Überseecontainern mit heulenden Motoren im ersten Gang über diese Piste quälen, die eigentlich nicht viel mehr ist als ein breiter Mulipfad. Hier ist der einzige Weg von China nach Westen, darum heißt es ja „DIE Straße“.
Überhaupt, die Lastwagenfahrer auf der M41: man möchte ihnen nicht im Dunkeln begegnen, eigentlich möchte man gar nicht, dass sie aussteigen. Denn wenn sie sich hinter ihren riesigen Lenkrädern herabbeugen oder sich gar vom Rüttelthron ihrer Fahrerkabinen herabschwingen, dann jagen sie einem Angst ein. Von der Höhensonne zerfressene Lederhaut umspannt die Knochen ihrer Schädel so eng, dass man zuerst an Aidspatienten oder an Kriegsinternierungslager denkt. Die riesigen Hände sind meist bis zu den Ellenbogen von Motoröl schwarz gegerbt, denn sie reparieren alles selbst, einen Pannenservice gibt es nicht. Pannenservice, schon der Gedanke ist hier lächerlich. Jeder zweite LKW, dem wir begegnen, steht am Straßenrand in Reperatur und meist liegt das zerlegte Getriebe oder die Zylinderköpfe in einer Öllache im Staub ausgebreitet, während der Fahrer irgendwo unter dem Truck liegt und nur die Füße noch im scharfen Sonnenlicht darunter hervorragen. Sie jagen einem Angst ein, weil der Trucker von Welt sich ja ohnehin gerne die Aura der Härte und Raubauzigkeit gibt. Hier jedoch auf dieser brutalen Piste, was muss „die Straße“ aus einem Menschen machen, der sein Leben auf ihr verbringt, sitzend auf einem täglich 20 Stunden lang überdreht heulenden Motor mit 10 bis 15 Stundenkilometern vorankriechend, so dass einen ständig die eigene Staubwolke überholt? Muss man da nicht zum Irren oder zum Monster werden? Oft ergibt sich für uns das Bild, dass von Hinten eine heulende Staubwolke herankriecht und wir erst wenige Meter bevor sie uns erreicht den Truck aus ihr sich hervorwinden sehen, als wäre es eine hungrige Moräne, die sich nur zum Zubeißen aus ihrer dunklen Tiefseehöhle bewegt. Aber sie beißen nicht zu! Im Gegenteil, sie winken wie Kinder, sie halten an und möchten sich mit uns fotografieren lassen. Sie fragen nach unserem Woher und Wohin. Sie erzählen uns von ihrer Route, von der Ladung, vom Winter und manchmal auch von dem, was sie früher mal waren. Irgendwie freuen sie sich, dass wir mickrigen Radfahrer ihre Straße teilen. Warum? Vielleicht weil wir verstehen. Vielleicht weil wir diesen vergessenen Winkel besuchen. Vielleicht einfach, weil es so langweilig ist auf der Straße.
Ja, natürlich übertreibe ich bei dieser Beschreibung der Straße. Aber die Wahrnehmung verfremdet sich, wenn man den ganzen Tag auf dieser Piste in der Hitze das schwere Rad durch Staub und über große Kiesel drückt, vor jedem Schlagloch einen harten Haken in den Lenker schlägt und scharf abbremst um gleich wieder zäh anzutreten. Wenn das Hirn in seiner Schale Stunde um Stunde durchgerüttelt wird. Wenn einem im Trott klar wird, wie weit weit weg das alles von zu Hause ist, nicht kilometermäßig, sondern dem Verstehen nach und so fremd dem Vertrauten. Wenn man zum Beispiel abends an den Dorfältesten herantritt und ihm den speckigen Zettel zeigt, den uns ein junger Mann in Duschanbe auf Tadschikisch in typischer Höflichkeit verfasst hat: „Gegrüßt seien Sie, Friede mit Ihnen! Wir sind zwei Lehrer aus Deutschland mit dem Fahrrad unterwegs. Wir sind sehr müde. Dürfen wir hier unser Zelt für die Nacht aufstellen? Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und entschuldigen uns Ihre Zeit in Anspruch genommen zu haben.“ Ausnahmslos immer folgt daraufhin ein heftiges freundliches Nicken, eine weit ausholende einladende Geste in die Dorfrunde und dann wird die Hand auf das Herz gelegt, eine Verbeugung angedeutet. So eingeladen beginnen wir dann unsere meditative Abendroutine und schütteln innerlich den Kopf darüber, wie alltäglich uns unterdessen das Exotische und das Fremde ist. Ja, natürlich übertreibe ich nicht bei dieser Beschreibung der Straße, es ist alles noch viel unglaublicher, als wir es formulieren können.
Von Duschanbe nach Khorogh
Wir fahren bei rund 40 Grad Hitze in Duschanbe los und haben einen Tag lang guten Asphalt unter den Reifen. Eigentlich sind wir schon seit längerer Zeit auf der M41 unterwegs, aber in Usbekistan ist das einfach eine schlecht asphaltierte Landstraße, so wie wir sie schon zu hunderten auf unserer Tour befahren haben. Jetzt fahren wir über Fayzobod und Ob-i-Garm in die Berge und freuen uns, dass die Temperaturen wieder menschlicher werden. „Menschlicher“ heißt in diesem Fall, dass wir immer noch so viel schwitzen, dass es uns 14 Stunden am Tag von der Nase tropft, aber immerhin bekommen wir keine psychischen Beklemmungszustände mehr – fast nicht mehr. Wir fahren durch die mickrige Ortschaft Roghun, von der die Welt in nächster Zeit noch öfter hören wird, denn hier entsteht in den nächsten 13 Jahren der größte Staudamm der Erde. Oder eigentlich müsste man eher sagen „soll entstehen“. Der Vertrag mit der Baufirma ist zwar unterzeichnet und ein Preis von rund vier Milliarden Dollar schon genannt, aber angesichts der Armut und der politischen Lage Tadschikistans ist die Gewissheit solcher Projekte wackelig. Wir blicken auf die gigantische Baustelle und mit der letzten Baustellenausfahrt endet der Asphaltbelag der Straße jäh. Natürlich, denn bis hierher sind Baustellenfahrzeuge unterwegs, die dieses Prestigeprojekt erstellen sollen. Dahinter gibt es nur noch Dörfer mit Eselsbesitzern – für die teert Duschanbe keine Straße. Zuerst erwarten wir, dass der Teer nach der nächsten Biegung wieder anfängt, aber er fängt nicht wieder an. Die nächsten 500 Kilometer gibt es nicht viel davon, und wenn er mal wieder für ein paar Meter da ist, dann fahren wir meist am Rand, da wo der Schlaglochteppich in Staub übergeht, dort ist es angenehmer. Erst gestern haben wir nach rund einer Woche wieder Asphalt genossen und waren fasziniert, wie schnell man auf ihm mit dem Fahrrad unterwegs sein kann. Die letzten 70 Kilometer bis Khorogh hatten wir vor der Mittagspause runtergerissen.
Wozu auch staatliche Gelder für Straßenbelag verschwenden in dieser abgelegenen Region? Lieber setzt sich der brutale Diktator Emomalij Rachmon, der seit 1994 in Tadschikistan an der Macht ist, in der Hauptstadt teure Denkmäler des Größenwahns und hat sich kürzlich den längsten Fahnenmast der Welt in Duschanbe aufstellen lassen. Ja, sehr passend in dieser Machokultur. Damit konkurriert er mit den protzwütigen arabischen Ölemiraten, die Platz zwei, drei und vier in der Rangliste der Längsten der Welt halten. Ein absurder Wettstreit unter absurden Regierungen. Dabei hätte Tadschikistan die Millionen für diesen Fahnenmast in anderen Gebieten dringend nötig. Die UN betreibt hier Schulspeisungen, weil die Rate der unterernährten Kinder erschreckend hoch und die Säuglingssterblichkeit aufgrund erbärmlicher hygienischer Bedingungen groß ist.
Wir haben zum Beispiel öfter beobachtet, wie das einzige fließende Wasser in den Küchen der Truckstops hier an der M41 über eine Rinne im Fußboden durch den Raum fließt, und dort auf dem Boden das Geschirr „gewaschen“, das Koch- und das Teewasser geschöpft wird. Woher kommt das Wasser, das dort durch den Raum plätschert? Es kommt aus dem Drainagerohr, das unter der Straße durchfließt und auf der anderen Seite in einem kleinen Wasserfall von der Böschung der Kuhwiese sich ergießt, in dem der eine oder andere Fernfahrer seinen Kopf kühlt und sein Hemd auswringt, um so gekühlt wieder zurück in die 50 Grad heiße Fahrerkabine zu klettern. So kommt es, dass auf der M41 fast jeder Durchfall hat, nicht nur die wenigen Touristen, auch die Einheimischen und die Trucker. Das 200-Millionen Programm der Weltgesundheitsorganisation für Tadschikistan sorgt sich folgerichtig vor allem um gesundheitliche und hygienische Aufklärungsarbeit.
Denn Tadschikistan ist arm, sehr arm. Jeder fünfte Tadschike muss mit weniger als zwei Dollar am Tag überleben und gilt daher nach UN Standard als zum absolut ärmsten Teil der Weltbevölkerung gehörend. Wir sehen das in den Dörfern und in den Gesichtern der Menschen. Wir spüren das, denn die großzügige, höfliche Freundlichkeit der Iraner und Usbeken weicht hier teilweise auch einer schrofferen Reserviertheit. Wir erfahren viel Gastfreundlichkeit und weiterhin große Warmherzigkeit, merken aber auch die Nuancen, und in einigen wenigen Dörfern fühlten wir uns nicht willkommen. Das bleibt bisher aber die große Ausnahme und unsere Erlebnisse mit den Tadschiken sind weiterhin bewegend, davon erzählen ja auch die Bilder in der Galerie.
Wir sind angesichts der miserablen Wasserversorgung unterdessen komplett zu Teeverweigerern geworden. Das ist zwar angesichts der täglich zu Dutzenden an der Strecke ausgesprochenen Einladungen manchmal etwas uncool, aber wir finden Durchfall so viel uncooler, dass wir uns für die kleinere Peinlichkeit entschieden haben. Wie wir ja schon im Iran zu unserem Motto gemacht haben: „Alles besser als Durchfall.“ Unser Wasserfilter ist hier täglich im Einsatz und eines der wichtigsten Werkzeuge des Vorankommens. Denn mit Magen-Darmproblemen ist hier im Sattel bei diesen harten Bedingungen kein Kilometer zu machen.
Gewitter auf dem Pass
Innerhalb von fünf Tagen sind wir die M41, von Duschanbe nach Kalai Chumb gefahren. Dabei haben wir ein Verbindungsstück befahren, das die „nördliche Route“ genannt wird. Der Hauptverkehr geht über die südliche Route. Wir haben schnell erfahren, warum. Etwa 100 Kilometer nach Duschanbe hat der geteerte Straßenbelag aufgehört und wir hatten nur noch Schotter- oder Staubpiste. Die Strecke gipfelt in einem 3200 Meter hohen Pass, der in großen Stücken um die 10 % Steigung hatte und das auf losem Schotter. Wir haben sehr hart gearbeitet unsere schweren Räder da hoch zu bringen. Aber eigentlich waren wir immer guter Laune, denn trotz schlechtem Straßenbelag lief alles sehr gut.
Dann standen wir oben auf dem Pass. Jetzt sollten rund 40 Kilometer Abfahrt kommen, die uns ins 2000 Meter tiefer gelegene Kalai Chumb führen, die Grenzstadt zu Afghanistan. Wir machten 15 Minuten Pause und aßen unsere letzten Kekse. Wir machten 15 Minuten zu lang Pause! Das Gewitter, das uns die letzte Stunde schon verfolgt hatte, entlud sich und verwandelte die Staubpiste in eine Schlammpiste. Für die nächsten zwei Kilometer brauchten wir dann zwei Stunden! Alles war voll mit Schlamm und die Räder blockierten, weil sich zwischen Schutzblech und Reifen die zähen Brocken stauten. Innerhalb von Minuten waren wir von oben bis unten mit rotem Dreck eingesaut. Wir waren entsetzt – nicht wegen des Drecks. Aber gerade noch lag die Aussicht heute Nacht in Kalai Chumb wieder eine Dusche zu genießen – oder so etwas Ähnliches in greifbarer Nähe. Jetzt kämpften wir im Gewitterregen auf 3000 Metern Höhe mit blockierten Rädern und brauchten eine halbe Stunde um die Laufräder wieder zum Drehen zu bringen und konnten dann 2 Minuten fahren, bevor wieder alles blockierte.
Das andauernde Gewitter in dieser Höhe war bedrohlich und wir wussten, dass kleine Gebirgsbäche sich innerhalb von Minuten in reißende Schlammlawinen verwandeln und die Straße auf Tage blockieren können. Wir hatten keinen Nerv mehr Fotos zu machen. Auch nicht bei der dann folgenden stundenlangen Abfahrt im Regen, die durch ein gruseliges, düsteres, von Felsabstürzen und tosenden Flüssen und Abgründen gezeichnetes Tal führte. Die Piste war sehr schlecht und ich fürchtete, jeden Augenblick würde unter der Last der schweren Bepackung eine unserer Speichen brechen oder die spitzen Felsen den Reifen zerreißen.
Für mich war während der Abfahrt schlimm, dass wir geradezu fühlen konnten, wie sich die neu aufgezogenen Bremsbacken durch den nassen Schlamm Minute für Minute aufrieben. Gegen Ende der Abfahrt war nur noch ein Drittel des Belags da. Das war doch mein Wechselbremssatz, den ich bewusst erst jetzt in Duschanbe aufgezogen hatte. Danach gab es nur noch den Notfallsatz. Der hätte eigentlich bis Indien halten sollen. Aber unter diesen Bedingungen rieb er sich unglaublich schnell auf. Es würde keinen ernstzunehmenden Fahrradladen zwischen hier und Indien geben. Ich konnte das Problem während der Abfahrt in meinem Kopf nicht lösen und wir hatten auch andere Sorgen, denn der Tag endete und wir würden in Dunkelheit dieses Tal nicht weiter abfahren können. Irgendwo vor uns sollte noch die zerstörte Brücke kommen und dann gab es da noch diesen tadschikischen Militärposten, der auf einem mürben Holztischchen neben dem gewaltig tosenden Bergfluss im Regen unsere Pass- und Visadaten in ein kariertes Schreibheft mit krakeligem Kuli eintrug. Er brauchte ewig dafür. Andererseits freuten wir uns über ein wenig Militär. Denn seit Stunden waren wir keinem Auto oder irgendeinem Menschen begegnet. Dass die Soldaten hierher gekommen waren, war wohl der Beweis, dass die beschädigte Brücke passierbar war. Es war allerdings auch der Beweis, dass unser Tagesziel an der Grenze zu Afghanistan lag.
In der Dämmerung erreichten wir schließlich Kalai Chumb. Die Räder inspizierte ich dann am nächsten Tag und war verwundert, dass eigentlich nur die Bremsen unter dieser brutalen Abfahrt Schaden genommen hatten. Eine Lösung für unsere Bremsen habe ich noch nicht gefunden, auch wenn mich dieses Problem und die düstere Schlucht in jener Nacht bis in die Träume verfolgten.
Himmel und Hölle
Ich muss mir noch etwas von der Seele scheiben, was eigentlich zu unserem letzten Tag in Usbekistan gehört. Aber bisher hat mich das Fahrradfahren so absorbiert, dass ich noch keine Kraft dafür übrig hatte. Es war für mich die bisher größte körperliche Grenzerfahrung auf dieser Reise. Das erste Mal, dass ich kurz ans Aufhören dachte, zumindest ans kurzzeitige Aufhören mit Radfahren. Ich konnte und wollte nicht mehr und spielte mit dem Gedanken, die Räder auf einen LKW zu verladen und mich bis zur tadschikischen Grenze mitnehmen zu lassen. Was mich dazu gebracht hat? Nicht die schlechten Straßen, nicht die körperlichen Strapazen. Es war die Hitze. In Usbekistan war sie so unbarmherzig, gemein und fürchterlich, dass für mich für einige Tage das Leiden übermächtig wurde. Ich hatte keine Kraft mehr übrig, mir das Schöne an unserer Reise vor Augen zu führen, um mich über Wasser zu halten. Ich hatte das Gefühl, von einer bleischweren Kuppel aus flirrender Hitze erdrückt zu werden.
Hitze ist fürchterlich. Sie umfängt dich von allen Seiten und drückt dir die Luft ab. Sie schnürt dir die Kehle zu und nimmt dir den Atem. Sie presst dich wie in einen Schraubstock und du bekommst Panik, weil es kein Entrinnen gibt. Ich versuchte, ganz ruhig zu atmen und mir mit Selbsthypnose einzureden, dass alles nicht so schlimm sei, aber ich glaubte mir selbst nicht. Stattdessen überfiel mich echte Angst, wenn sich eine große Steppenebene ohne einen Strauch vor uns eröffnete und kein Schattenplatz in Sichtweite war. Auch die Nacht brachte keine Abkühlung, wenn im engen Zelt kein Lüftchen wehte und ich im stillen Daliegen schwitzte. Statt mich auf die Erholung zu freuen, graute mir abends schon vor dem klaustrophobischen Eingesperrtsein im Zelt. Ich schlief spät ein, und wenn morgens um 5 Uhr der Wecker klingelte, damit wir wenigstens eine kurze Zeit des Tages bei etwas niedrigeren Temperaturen Radfahren konnten, war ich noch immer so müde, dass mir vor Erschöpfung fast die Tränen kamen. Es war unser letzter Tag in Usbekistan, heute würden wir die Grenze zu Tadschikistan erreichen. Ich hasste das Radfahren und hätte mich am liebsten in den Straßengraben gelegt und geschlafen. Doch Usbekistan hatte sich noch etwas zum Abschied überlegt. Eine Erfahrung, so dicht und intensiv, dass ich sie nicht vergessen werde.
Wie um mich aus meinem Gefangensein herauszuholen, war es, als ob sich alle Usbeken, die uns heute begegneten, zusammengetan hätten, um mich etwas zu lehren. Wir fuhren durch ein Dorf, die Menschen waren auch noch müde, so wie ich, man sah es ihnen an, wie sie langsam mit der Hacke über der Schulter zum Feld gingen oder noch sich unterhaltend im Schatten der Häuser saßen. Eine Frau, die unter einem Maulbeerbaum hockte und die Beeren einsammelte, erhob sich, sah mir direkt in die Augen und lächelte mir zu. Einfach so. Ein Mann, der auf einem Esel ritt, lachte mir mitten ins Gesicht und winkte mir zu. Der Bäcker, der gerade seine noch warmen Fladen an einem Nagel vor seinem kleinen Laden aufhängte, drehte sich um, sah mir in die Augen und lächelte mir zu. Ich sehe all diese Gesichter heute noch vor mir. Ich war so kaputt, dass ich kaum reagieren konnte, aber diese Blicke fielen mir tief ins Herz. Diese Sekunde einer Begegnung zweier Menschen, deren Welten einander so fremd sind, und doch fallen plötzlich für einen kostbaren Moment, als ob das Universum kurz Luft holt, alle Grenzen zwischen ihnen und es sehen sich einfach zwei Menschen in die Augen. Plötzlich kam mir der Gedanke: Jetzt habe ich das Thoreau-Zitat verstanden, das auf unser Homepage steht und das wir während der Vorbereitungen für diese große Reise jahrelang am Kühlschrank hängen hatten:
„Ich bin in den Wald gezogen weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben. Ich wollte kein Leben führen, das eigentlich kein Leben ist, dazu war es mir zu kostbar. Ich wollte intensiv leben, dem Leben alles Mark aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles die Flucht ergreifen würde, was nicht Leben war.“ Henry David Thoreau, Walden
Ich empfand unser Leben gerade wirklich als so hart und spartanisch, dass ich nichts mehr fühlte als eine ganz große Leere. Alles Gewurschtel des Lebens, aller Ding-Krempel, alle überflüssigen Beschäftigungen und Gedanken, die vom Wichtigen ablenken, waren aus mir gewichen. Übriggeblieben war bloß noch ein tiefes, wahres Gefühl der Dankbarkeit, dass ich die geschenkte Liebe von Gottes Geschöpfen erfahren darf. Das, was man manchmal ahnt und sich aber nicht auszusprechen traut, weil es kitschig oder naiv klingt, stand mir plötzlich ganz klar und groß und wahrhaftig vor Augen: Liebe und Menschlichkeit sind die größten Wunder auf dieser Welt.
Afghanistan winkt
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, immer in Sichtweite von Afghanistan zu fahren und das Leben dort beobachten zu können. Wo auf der tadschikischen Seite LKWs unterwegs sind, laufen auf afghanischer Seite mit Holzbündeln beladene Menschen auf einem schmalen Pfad neben ihren Eseln her. In Tadschikistan haben die Dörfer zwar keine Wasserversorgung, aber immerhin Strom. Wenn die Sonne untergegangen ist und hier die Lichter in den Dörfern angehen, liegt Afghanistan im Dunkeln da. Wir sehen Lehmdörfer, beobachten Kinder auf dem weiten Weg zur Schule, Frauen, die Korngarben zusammenbinden, Männer, die hinter ihrem Pflug herlaufen, der von zwei Ochsen gezogen wird. Die afghanischen Felder hängen oft scheinbar unerreichbar hoch am Berg, mitten am Steilhang, so dass wir uns fragen, wie man sie überhaupt erreichen kann. Erstaunlicherweise sieht die Landschaft auf der anderen Seite des Flusses jedoch meist sehr hübsch und aufgeräumt aus, mit vielen Gärten, Trockenmauern und Pappeln am Ufer. Wir sehen auf diese Entfernung nicht die Zeichen des jahrzehntelangen Krieges. Nicht hier. Am meisten beeindrucken uns die Straßenarbeiter, die wie Ameisen an der senkrecht abfallenden Felswand kleben und mit Presslufthämmern die Straße in den Berg treiben. Die herausgeschlagenen Felsbrocken werden von ihnen mit bloßen Händen über die Kante der hohen Felswand gerollt, von wo sie unter hoch aufspritzenden Wellen im braun brodelnden Fluss aufschlagen. Es sieht beängstigend aus, wie die Menschen mitten am Berg kleben und bei einem falschen Schritt in die Tiefe fallen können. Was mich am meisten bewegt: Sie winken uns alle zu, hinüber zu unserer tadschikischen Seite, die für sie unerreichbar ist. Diese Erlebnisse rühren uns und inspirieren uns zu langem Nachdenken im Sattel.
Zelten im Dorf
Oft sind die Gegenden, durch die wir fahren, so dicht besiedelt, dass wir keinen versteckten Platz zum Zelten finden. In den letzten Tagen waren es die Landminen, die neben der Straße drohten, die uns dazu zwangen im Dorf nach einem Platz fürs Zelt zu fragen und uns nicht weit draußen in die Einsamkeit zu legen. Oft wünsche ich mir aber genau das, nicht unbedingt aus Sicherheitsgründen, sondern weil wir dann abends, nach den Anstrengungen des Radfahrens und den vielen Begegnungen des Tages, ein wenig Ruhe und Zeit für uns haben, um uns zu unterhalten oder einfach hinter den heutigen Erlebnissen herzudenken. Denn manchmal habe ich das Gefühl, wir erleben so viel, dass ich mit dem Verarbeiten gar nicht hinterherkomme.
Doch heute ist an einen einsamen Platz nicht zu denken. Dorf reiht sich an Dorf. Schon seit einer Stunde suchen wir die Gegend ab und finden nichts. Da winkt uns eine Frau zu, die mit ihren Kindern vor ihrem Häuschen in der Abendsonne sitzt. Einer Eingebung folgend schieben wir unsere Räder den steilen Staubpfad zum Dorf hoch. Mit unseren russischen Brocken und vielen Handbewegungen fragen wir sie, ob wir irgendwo hier im Dorf unser Zelt aufstellen dürfen. Da sie uns wohl nicht versteht, zeigen wir ihr einen kleinen Zettel, auf den uns jemand auf Usbekisch die oben erwähnten „Dürfen-wir-hier-campen“-Sätze geschrieben hat: „Gegrüßt seien Sie, Friede mit Ihnen! Wir sind zwei Lehrer aus Deutschland mit dem Fahrrad unterwegs. Wir sind sehr müde. Dürfen wir hier unser Zelt für die Nacht aufstellen? Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und entschuldigen uns Ihre Zeit in Anspruch genommen zu haben.“
Nun ist die Frau noch aufgeregter. Mit gerunzelter Stirn starrt sie auf den Zettel, dreht ihn in der Hand. Vielleicht kann sie gar nicht lesen? überlege ich. Sie holt die anderen Frauen des Dorfes zusammen, mehr Kinder kommen angelaufen und umringen uns. Männer bekommen wir nicht zu Gesicht. Hier scheinen die Frauen das Sagen zu haben. Uns wird bedeutet, dass die Älteste von allen die Chefin des Dorfes sei. Sie muss entscheiden. Sie sieht uns an, den Zettel, die Räder – dann lächelt sie und deutet auf einen kleinen staubigen Fleck Erde: Ja gerne, bitte, hier könnt ihr schlafen!
Sofort werden alle von aufgeregter und freudiger Geschäftigkeit ergriffen. Ein junges Mädchen holt eine Schaufel und entfernt energisch und kraftvoll das Unkraut auf dem Platz, der für heute Nacht unser Zuhause werden soll. Eine andere Frau bringt eine Melone, eine dritte eine Untertasse mit drei Keksen und fünf Bonbons, die sie uns zur Begrüßung anbietet. Während Ralph das Zelt aufstellt, erzähle ich einmal wieder mit Händen und Füßen und unserem Zeigebüchlein unsere Geschichte. Alle hören konzentriert zu und überhäufen mich mit Fragen. Schnell entsteht zwischen uns eine Grenzen überwindende Frauen-Verbundenheit, denn wenn sie mir, lachend und sich gegenseitig anstoßend, zu meinem Mann gratulieren, der mir das Haus aufstellt und danach sogar noch für mich kocht, verstehe ich das ganz genau. Es geht hoch her, die Oma, eine respektable Greisin, wird dazugeholt und mir vorgestellt, ich verteile unsere Kekse an die Kinder und zeige unsere merkwürdige Ausrüstung. Genau in dem Moment, in dem ich leise denke, ob wir heute wohl noch zur Ruhe kommen oder ob mir gleich die Sicherungen durchbrennen werden, passiert etwas Erstaunliches: Ralph stellt den fertigen Topf mit Nudeln auf die Picknickdecke, und mit einem Schlag sind alle still und heimlich verschwunden. Wir setzen uns zum Essen, sehen uns staunend um – aber es ist urplötzlich niemand mehr zu sehen. Wie ausgeknipst. So kindlich neugierig und herzlich anhänglich gerade noch alle waren, so gleichzeitig höflich und zurückhaltend sind alle. Zufrieden essen wir still unsere Nudeln. Wir müssen allerdings lächeln – in genau dem Moment, in dem wir unsere Löffel in den leeren Topf zurücklegen, sind plötzlich alle wieder da. Das heißt, sie pirschen sich eher wie beiläufig alle wieder langsam heran, als ob sie zufällig noch einmal vorbeikämen. Wir haben keine Ahnung, wo sie vorher waren, von wo aus sie uns so genau beobachtet haben. Wie auf einer Theaterbühne, wo der Spot mit einem Mal auf den Hauptdarsteller gerichtet wird, der seinen Monolog hält, während alle anderen Schauspieler im Dunkeln verschwinden, aber noch da sind und nach dem Monolog wieder herzutreten und ihre Rollen fortführen. Ich verstehe sehr gut, dass sie auf keinen Fall eine Minute des Schauspiels hier mitten in ihrem Dorf, in dem sonst nichts passiert, verpassen wollen. Eine Weile sitzen wir noch gemeinsam auf der Picknickdecke, unterhalten uns und spucken Melonenkerne in den Staub. Bis ich, ohne es zu merken, gähne. Das entgeht der Aufmerksamkeit der Dorfchefin nicht. Sofort scheucht sie alle Frauen und Kinder auf, bedeutet ihnen, in ihre Häuser zu gehen und wünscht uns eine gute Nacht. Keine Minute später sind wir wieder allein und sehen uns ungläubig an. Haben wir das gerade wirklich erlebt? Als wir ins Zelt kriechen, schwirrt mir der Kopf von all den Eindrücken dieses Tages. Ich bin so müde, dass ich sofort einschlafe. Doch vorher kann ich noch kurz denken: Das genau ist es, warum wir unterwegs sind.
Am nächsten Morgen möchte uns die Chefin des Dorfes ihre Adresse aufschreiben, damit wir ihr zur Erinnerung die Fotos von uns gemeinsam schicken können. Das wollen wir gerne tun. Es wird lange diskutiert, was auf den kleinen Zettel geschrieben werden soll, und die Vorschläge, was dort zu stehen hat, gehen hin und her. Konzentriert steht sie da, über meine Lenkertasche gebeugt, und schreibt und schreibt. Schließlich reicht sie uns den Zettel, von unten bis oben voll mit mir unverständlichen Worten. Ich habe ihn noch immer in meiner Lenkertasche, sorgsam verwahrt. Und ich hoffe sehr, dass die Fotos das kleine Lehmdorf in Usbekistan eines Tages erreichen werden.