Wir sind in Taschkent, Usbekistan. Die ganz Aufmerksamen unter Euch wissen natürlich, dass das nicht sein kann. Wir sollten eigentlich in der Wüste sein und zwar in der turkmenischen. Da geben wir Euch völlig Recht, da wären wir jetzt auch gerne, in der Karakum, der „Wüste des schwarzen Sandes“. Das ist ernst gemeint. Wir sind aber nicht in Turkmenistan, sondern in der Hauptstadt Usbekistans. Warum?
Das hat seine Gründe im Jahr 1999. In diesem Jahr nahm die Geschichte Turkmenistans, die bisher noch nie eine demokratische Regierungsform gesehen hatte, eine verheerende Wende, die bis heute wirkt. In diesem Jahr ließ sich der schon seit Sowjetzeiten regierende Ara Nyýazow zum Alleinherrscher aller Turkmenen auf Lebenszeit ernennen, dem sogenannten Turkmenbaschy. Die Opposition wurde zunehmend unterdrückt und dann ganz abgeschafft. Im Jahr 2003 ließ er sich von seinem Ministerkabinett zum Propheten ausrufen.
Nyýazow ließ unter vielem anderen Theater und Oper verbieten, ebenso das Rauchen in der Öffentlichkeit und die freie Wahl von Studienfächern. Eines seiner Bücher – die Ruhnama – bestimmte er zur offiziellen Pflichtlektüre für sein Volk, es wird bis heute noch bei Bewerbungsgesprächen abgeprüft. Überall wurden teils vergoldete Statuen von ihm, seinem Vater und seiner Mutter aufgestellt. Manche Wochentage und die Monate wurden nach dem Herrscher und seinen Familienangehörigen benannt. In der Hauptstadt entstanden luxuriöse Repräsentationsbauten und großzügige Plätze im Stil sowjetischer Protzarchitektur. Die fast leeren 12-spurigen Prachtstraßen der Hauptstadt werden jeden Morgen mit Reisigbesen vom Wüstenstaub saubergefegt.
Im Gegenzug zum Protzgehabe nach Außen reduzierte Nyýazow die Sozialausgaben des Staates radikal. 2004 wurden 15.000 Hospitalangestellte entlassen und durch Wehrpflichtige ersetzt. Nyýazow plante alle Krankenhäuser im Land zu schließen, bis auf eines in der Hauptstadt. Dieser Plan wurde nur aufgrund des Ablebens des Diktators 2006 nicht vollendet. Seither ist es etwas ruhiger geworden um das „Nordkorea der Stanstaaten“, aber im Innern hält die diktatorische Starre noch an. Turkmenistan zählt zu den Ländern mit den repressivsten Mediengesetzen. In der „Rangliste der Pressefreiheit 2007“ von Reporter ohne Grenzen rangiert Turkmenistan auf dem drittletzten Platz, vor Nordkorea und Eritrea. Auch im Jahr 2016 hat sich dies nicht geändert und das Land belegt immer noch Platz 178.
Und das alles haben wir zu spüren bekommen, noch bevor wir das Land überhaupt betreten konnten.
Aber alles der Reihe nach:
29. Mai: Mashad, Iran – warten auf das Visum
Als wir in Mashad ankamen, haben wir uns schnell und effektiv um unsere Visaangelegenheiten gekümmert. Wir fuhren mit dem Nachtzug nach Teheran, um dort von der deutschen und der usbekischen Botschaft Empfehlungsschreiben zu erhalten und das Usbekistanvisum gleich in den Pass zu bekommen.
Dann, am selben Tag, nachmittags zurück acht Stunden mit dem Zug, sind wir in Mashad am nächsten Morgen zur turkmenischen Botschaft, um durch ein postkartengroßes Loch in der Außenmauer unseren Visumantrag und den Nachweis des usbekischen Visums abzugeben. Seit zehn Tagen warten wir nun auf Antwort und werden immer wieder vertröstet. Das nächste Mal sollen wir Dienstag wiederkommen. Wenn wir dann das Visum nicht erhalten, werden wir es nicht mehr rechtzeitig zur Grenze schaffen. Denn wir sollten gleich zur Öffnung der Grenze am 3. Juni (Beginn unseres beantragten Visums) um 9 Uhr bereit sein, um das Rennen zu starten. Dann werden wir genau fünf Tage Zeit haben, in denen wir die 500 km durch die turkmenische Wüste bewältigen müssen. Mehr Zeit gewährt uns der turkmenische Staat nicht für ein Transitvisum. Wir werden wieder einmal mit permanent heftigem Gegenwind und großer Hitze zu kämpfen haben. Da sind 100 km am Tag ein ordentliches Stück Arbeit. Außerdem sollen die Straßen fürchterlich schlecht sein und fast jeden Radler erfasst die Rache Montezumas auf dem Weg nach Usbekistan. Wir stehen also in den Startlöchern und warten nervös auf das Visum.
„Was, um Gottes Willen, machen die denn zehn Tage lang in Mashad? Wird es einem da nicht langweilig?“ Nein, wird es uns nicht. Im Wissen, dass zwischen hier und Indien eine „Durststrecke“ der besonderen Art kommt, bereiten wir uns und unser Material auf die Königsetappe vor. Die Räder bekommen neue Reifen, Schläuche, Ketten, Zahnkränze, Ritzel und Bremsbacken. Das Zelt wird durch selbstgenähte (von Marianne) Stangenhalter ergänzt, so dass man in sehr heißen Nächten nur das Innenzelt aufstellen kann. Die Löcher im Innenschlafsack und Packsäcken werden gestopft, die Wäsche gewaschen, die Akkus geladen, die Speicherkarten ausgetauscht und nach Hause geschickt, die Satteltaschen (Ortlieb –nach einem Jahr heftiger UV-Strahlung kaputt) werden repariert, Filme und Fotos gesichert. Dann noch einmal jede Tasche ausgepackt, jedes Teil in der Hand abwägend gehalten: „Muss man das reparieren? Haben wir das gebraucht? Werden wir das wirklich brauchen?“ Alles, was diese Prüfung nicht besteht wird hiergelassen. Es ist enttäuschend wenig, was da am Ende auf dem Häufchen liegt, eigentlich nur die Geschenke, die wenigen, die wir überhaupt angenommen haben. Schließlich ist es ein Aktenköfferchen voll, weniger als zwei Kilogramm. Daunenjacken, Skiunterwäsche, Mützen und dicke Socken werden wir weiter durch 40 Grad flimmernde Hitze fahren – der Gedanke allein quält.
Aber wir wissen jetzt noch genauer, warum wir die warmen Sachen brauchen werden. Wir haben die Visaplanungen für China abgeschlossen und heute machen wir den Antrag fertig. Dazu mussten wir eine endgültige Entscheidung über unsere Route in China treffen. Wir dürfen nicht durch Westtibet fahren. Also fahren wir durch Osttibet! Dazu müssen wir entweder direkt durch die Taklamakan-Wüste oder…. Da wir schon recht weit nördlich sein werden, wenn wir den Abstecher nach Kirgistan machen, beschlossen wir ein kleines Eckchen Kasachstan mitzunehmen – 250 km – und nördlich der Taklamakan über Korla nach Golmud zu fahren. Von dort wird es dann über die Höhen des Himalaya nach Süden gehen. Ein beeindruckendes Höhenprofil von über einem Dutzend 4000er- oder 5000er-Pässen. Ein Stück von rund 5000 Kilometern. Das ist jetzt Plan A.
Beim Gedanken an die Strapazen, die vor uns liegen, wächst die Dankbarkeit, dass uns Marianne und Mahmoud hier bei sich aufgenommen haben ins Unsagbare. Immer, wenn wir uns entschuldigen, dass das Visum immer noch nicht da ist und wir noch bleiben werden, fällt der Satz: „Ihr dürft bleiben, so lange ihr wollt“ Und wir haben keinen Zweifel, dass er ernst gemeint ist. Gleich hintendrein folgt die Einladung, das nächste Mal bitte auch unsere ganzen Familien mitzubringen… wir sind überwältigt von so viel Gastfreundschaft. Dabei sitzen wir nicht wie Gäste am Tisch, sondern fühlen uns aufgenommen in die Familie, als wären wir schon immer dazugehörig: Wir sind natürlich bei allen Einladungen von Freunden dabei, bei den Geburtstagsfeiern und den Familientreffen.
Wir werden in ihren Alltag und in ihre Religion mitgenommen (unterdessen ist Ramadan und das dreht so einige Tagesroutinen um in der Familie). Es ist einfach wunderbar. Vor allem für uns obdachlose, staubschluckende Langzeitradler ist es herrlich, das Essen! Das Federbett! Die Klimaanlage! Der Kühlschrank! Die Dusche! Die Sauberkeit! Die intelligenten Unterhaltungen! Die weichen Stühle! Das lange Schlafen! Mahmoud und Marianne, wir werden Euch immer dankbar sein!
Wir nutzen die Zeit in Mashhad natürlich auch, um mit Marianne und Mahmoud das wichtigste Heiligtum des Iran zu besuchen. Das Grabmal von Imam Reza, dem wichtigsten „Heiligen“ der Schiiten im Iran. Der Zutritt zu dem riesigen Moscheekomplex (über 500.000 Quadratmeter) ist für Nichtmuslime verboten. Wir konnten aber dank der Begleitung „unserer Familie“ unbemerkt bis ins Allerheiligste mitgehen. Mitten in der Nacht war hier alles voll mit Pilgern aus der gesamten islamischen Welt, ein beeindruckendes Bild von tiefer Spiritualität, selbstverständlichem Glauben und familiärem Miteinander von spielenden Kindern und schwatzenden Frauen auf den tausenden Quadratmetern von Gebetsteppichen. In den Gesichtern der Anwesenden sind alle Gefühle des Menschenlebens offen sichtbar: viele weinen angesichts der Ergriffenheit über den Ort, andere leiden, viele lachen vor Erleichterung endlich hier zu sein, Dankbarkeit, Anspannung, innere Versenkung. Viele telefonieren mit Angehörigen, die nicht in der Lage waren, die Pilgerfahrt auf sich zu nehmen und lassen sie so durch den Hörer hindurch selbst anwesend sein. Die Handys werden ans silberne Gitter des Grabmals gehalten, damit die Mutter zu Hause selbst mit dem vor 1100 Jahren verstorbenen Imam Reza sprechen kann. Wir erleben hier einmal mehr den Islam als friedliche und lebensfreundliche Religion.
Trotz der abwechslungsreichen Tage in Mashhad wollen wir wieder zurück auf die Straße. Wir hoffen, dass wir am Mittwoch, den 31. Mai hier losfahren können. Wir nehmen uns drei Tage Zeit bis zur Grenze nach Turkmenistan. Dann dürfen wir hoffentlich am 3. Juni dort einreisen. Nach Turkmenistan kommen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan – endlich die berühmte M 41, von der Imke schon so lang träumt: der Pamir Highway.
Die Welt liegt vor uns.
31. Mai: Bis Mittwoch hatten wir noch Hoffnung
Wir sind frustriert – immer noch kein Visum und kein Zeichen, dass es noch kommt. Gleichzeitig sind wir zum Nichtstun verurteilt. Solange es nicht abgelehnt ist, können wir keinen neuen Antrag stellen und wenn es abgelehnt würde, könnten wir erst recht keinen neuen Antrag stellen. Jetzt sind es zwei Wochen, die wir schon warten. Und wir scharren mit den Hufen. Was tun, wenn wir nicht durch Turkmenistan fahren können? Die Vorstellung einen irrwitzigen Flug über Almati nach Usbekistan zu nehmen… und denke deswegen am besten gar nicht darüber nach.
Wir erhalten immer wieder die freundliche Auskunft: „Nein, es ist nichts verloren gegangen, die Unterlagen sind in Ashgabat und würden bald bearbeitet, wir sollen bitte noch etwas warten.“ Wir bleiben vor dem postkartengroßen Loch in der Mauer des Konsulats stehen, beharren, fragen, bitten, zweifeln, raufen die Haare, runzeln die Stirn, bitten erneut, fragen nach anderen Möglichkeiten… alles eine große leere Sackgasse und keine andere Auskunft außer „Please wait“. Das Nichtstun geht uns unter die Nerven und verstärkt unsere Entzugssymptome von der körperlichen Anstrengung, die wir jetzt schon zwei Wochen nicht mehr hatten. Natürlich ist es das komfortabelste Warten bei Marianne und Mahmoud, das man sich vorstellen kann und es ist ein Klagen auf höchstem Niveau, aber als ich heute Morgen aufgewacht bin und daran gedacht habe, dass wir eventuell wieder Fahrradkartons auftreiben müssen, um Turkmenistan zu umfliegen, fand ich es einfach nur zum Kotzen. Wir sind ja sonst fast immer gut gelaunt, aber das musste ich jetzt mal jemand sagen.
1. Juni: Visum Turkmenistan abgelehnt. Was nun?
Gerade kommen wir vom turkmenischen Konsulat zurück. Die turkmenische Bürokratie hat entschieden, unseren Visumantrag abzulehnen. Wir ärgern uns, dass sie uns das erst nach fünfmaliger Nachfrage und 15 Tagen Bearbeitungszeit mitteilen. Wir haben ja schon gewusst, dass seit knapp einem Jahr die Bescheide zu den Transitvisaanträgen in Turkmenistan einer Art Lotterie gleichen. Selbst die Profiagenturen für Visaangelegenheiten sagen, dass es von außen nicht zu erkennen sei, nach welchen Kriterien abgelehnt oder bewilligt wird. Wir wissen von einem französischen Radlerehepaar, bei denen ihr Antrag angenommen und sein Antrag abgelehnt wurde, obwohl die beiden Formulare bis auf den Vornamen identisch waren. Wir machen uns keine Vorwürfe. Wir haben alles richtig gemacht und hatten auch keine Alternativen. Wir haben uns monatelang vorbereitet auf die Visaangelegenheiten und alle Informationen zusammengetragen, die erhältlich waren.
Dennoch, ja, wir ärgern uns, aber noch mehr sind wir enttäuscht, traurig. Wir haben uns wieder gefreut auf das Radfahren und die Pause war schon zu lange, gezwungenermaßen. Wir haben uns gefreut auf die Wüste und sogar auf das ziemlich seltsame Land Turkmenistan. Wir waren sogar scharf auf den Wettkampf gegen die Zeit und die Herausforderung innerhalb der vorgegebenen Zeit die „Wüste des schwarzen Sandes“ zu durchqueren. Wir hatten bis zuletzt Hoffnung.
Und jetzt? Schon auf dem Nachhauseweg haben wir die Fahrradkartons besorgt für den jetzt unweigerlich folgenden Flug. Turkmenistan lässt uns keine Wahl, wir müssen wieder das Flugzeug benutzen, um unsere Reise fortzusetzen. Wir hassen es. Auch das ist eine wichtige Erfahrung beim Radeln um die Welt: ES IST POLITISCH NICHT MÖGLICH UM DIE WELT ZU FAHREN. Es ist eine Illusion, dass die Welt im Zeitalter der Globalisierung enger zusammenrückt. Es gibt mehr Regionalkonflikte als je zuvor und es werden eher Mauern gebaut als abgerissen. Der Kampf mit den Visabestimmungen der unterschiedlichen Länder zeigt ja nur die Abschottungsgrade, mit denen sich Regierungen vor landesfremden Besuchern zu schützen versuchen. Für uns bedeutet es, dass eine durchgehende Straße, mit dem Fahrrad bewältigt, sehr schwer zu finden ist. Durch Afghanistan und Pakistan wollen wir nicht durchfahren. Was bleibt? So wie es aufgrund unserer ersten Recherchen gerade aussieht, scheint ein Flug von Mashhad nach Taschkent unser nächster Plan A zu werden. Danke Frau Siegler!
Nein, natürlich geben wir nicht auf. Solche Schwierigkeiten sind das „Standardpaket Weltumrundung“, das sind noch nicht einmal mittlere Herausforderungen, sondern nur kleine Steinchen, die da auf dem Weg liegen, Routine. Aber enttäuscht sind wir trotzdem.
4. Juni: Kurz vor dem Abflug
Heute Nacht um 2:35 Uhr werden wir von Mashhad mit Zwischenstopp nach Taschkent in Usbekistan fliegen, weil wir auf dem Landweg nicht durch Turkmenistan fahren dürfen. Fuck Turkmenistan! Und: Fuck Trump! Wenn wir am Dienstagmorgen gegen 6 Uhr morgens in Taschkent, nach zweimal ca. 4 Stunden Flug und mehr als 16 Stunden Aufenthalt im Zwischenstoppflughafen ankommen, werden wir wohl etwas müde sein. Wir sind wieder ganz heiß aufs Radfahren, aber vielleicht fahren wir nicht gleich vom Flughafen weg los, sondern übernachten erstmal in Taschkent. Aber wer weiß…
Dann kommen drei Wochen Usbekistan. Etwas zu lange, für das relativ kleine Land, aber aufgrund einer Falschinformation gilt unser Visum für Tadschikistan erst ab 24. Juni. Ansonsten sind wir genau in unserem Zeitplan. Tadschikistan ist Imkes Lieblingsland unter den Stanstaaten. Danach kommt Kirgistan, für das wir glücklicherweise kein Visum brauchen und ab ca. 1. September werden wir von Kasachstan her nach China einreisen. Das Visum dafür ist auf dem Weg und unsere Pässe mit dem Chinavisum hoffen wir aus den Händen von Konsul Stefan Martin auf der deutschen Botschaft in Bischkek entgegenzunehmen, nachdem wir Kirgistan durchfahren haben. Dank Ina, Imkes Schwester, und Uschi und Hubert Hagel, konnten wir das Chinavisum von ferne in der Heimat koordinieren. Per Express soll es uns dann bis Bischkek hinterhergeschickt werden. Jetzt hoffen wir, dass China dieses Visumgesuch etwas positiver bearbeitet als Turkmenistan.
Aber jetzt erstmal Usbekistan. Das wird sicher wieder eine ganz „neue Erfahrung“ mit dem Rad. Wir freuen uns drauf. Und danken Marianne und Mahmoud, die uns so lange und so herzlich in Mashad bei sich aufgenommen haben. In den vergangenen Tagen haben wir es immer wieder so formuliert: „Die qualitative Fallhöhe der Versorgung im Vergleich zu Mashhad wird sehr hoch sein, bei dem was jetzt kommt!“ Wir freuen uns drauf.
5. Juni kurz nach Mitternacht: Flughafen Mashhad, Sicherheitskontrolle
6. Juni 6 Uhr morgens: Landung in Taschkent, Usbekistan
Völlig übermüdet sind wir heute Morgen in Taschkent angekommen. Unser Gepäck war auch alles da – worüber ich mich immer wieder neu wundere. Von den Grenzkontrollen hier in Usbekistan hatten wir einigen Respekt, denn was man im Internet dazu so liest von anderen Weltradlern war recht happig. Wir hingegen hatten hier einen guten Start. Der erste Zollbeamte wollte uns die Fahrräder gleich abkaufen, auf seinen beeindruckenden Bauch weisend, das wäre gesünder für ihn als für uns. Wir müssten hier in Usbekistan seiner Meinung nach erstmal viel essen: „Welcome to Usbekistan“. Er wollte weder unsere beeindruckende Reiseapotheke sehen noch unser elektronisches Equipment oder unsere Bargeldreserven. Nichts interessierte ihn so sehr wie der Preis von Fahrrädern in Deutschland. Ich bekenne, wir lügen den Preis immer so nach unten, dass sich damit in Wirklichkeit noch nicht einmal die Nabendynamos bezahlen ließen. Wir tun es aus Scham und aus Rücksicht gegenüber dem Lebensentwurf des Fragers, der sicher oft jahrelang spart, damit er sich für den wahren Preis des Fahrrads einen Kleinwagen für die Familie leisten kann.
Dann bauten wir, wie üblich die Räder gleich im Ankunftsgebäude hinter dem Zoll zusammen. Immer unter der freundlich interessierten Aufsicht von einem halben Dutzend wechselnder Beamter der Grenzbehörden. Immer wieder wird noch ein Kollege dazugeholt, der dann interessiert das eine oder andere Detail am Rad erläutert. Einig sind sie sich darin, dass die Räder in keinem guten Zustand mehr seien, so staubig, so grau. Ich bin zufrieden, das Aussehen der Räder entspricht unserem fiktiven Preis. Gut so. In Wahrheit habe ich die Unruhe der Wartezeit auf das nicht erteilte Visum in die Komplettüberholung der Räder gesteckt – die Räder sind bereit für die härteste Etappe der Seidenstraße, die jetzt vor uns liegt. Aber geputzt habe ich sie halt nicht – absichtlich. Nur einer der Grenzer scheint die Sache annähernd zu begreifen, er fragt, ob wir auch genügend Ersatzteile dabei hätten. Anerkennend weist er auf das Gesamtarrangement des grauen Fahrrads und sagt: „Zwischen hier und Peking gibt es sowas nicht, erst wieder in Japan.“
Weil wir unser Taschenmesser zuerst nicht fanden, wurde uns sofort ein hochoffizielles Teppichmesser gereicht. Das sei besser, um den Karton zu öffnen – war es auch wirklich. Wir sollen es unbedingt behalten, wenn wir nochmal etwas schneiden müssten. Wir waren noch keine 5 Minuten offiziell im Land, da hatten wir schon unser erstes Geschenk erhalten – zwar keinen Teppich aber immerhin ein Teppichmesser aus der Hand des usbekischen Staates.
Eine zweite usbekische Erfahrung machten wir kurze Zeit später beim Geldwechseln. Der Herr, der unsere 200 Euro wechseln wollte hatte nicht genug Scheine usbekischer Sum bei sich. Also ging er natürlich zum Nachbarn. Der hatte fein säuberlich gebündelte Packen. Als er wieder zurückkehrte, sagte er grinsend: „Während ich weg war, hat sich der Kurs nochmal zu Euren Gunsten verbessert.“ Und tatsächlich, es war schon signifikant mehr geworden, das usbekische Geld. Oder andersherum gesagt, es war weniger wert geworden in der kurzen Zeit beim Gang zum Nachbarn. Er entließ uns mit dem Ratschlag nicht zu viel zu tauschen. Nein, nicht weil es gefährlich sei viel Bargeld herumzutragen, sondern weil die Inflation so hoch ist, dass man übermorgen schon wieder einen wesentlich besseren Wechselkurs bekäme.
Apropos Wechselkurs, wir wechseln jetzt wieder in eine andere Sprache und auch in eine andere Kultur. Während wir uns im Iran zwei Monate lang in Farsi eingelebt haben und die wichtigsten „Unterhaltungen“ auch damit bestreiten konnten, wird jetzt wieder Russisch gesprochen. Wir haben natürlich unser in Georgien und Armenien angelerntes Rudimentärrussisch schon wieder verlernt und finden uns jetzt wieder ein. Auch im Straßenverkehr und im alltäglichen menschlichen Umgang wird mit jedem neuen Land eine neue „Kommunikationskultur“ für uns eröffnet. Wir finden uns ein in neue Gepflogenheiten und haben dabei auch schon eine Routine entwickelt die einem siebten Sinn gleicht: Wie wird hier gehupt? Wie begegnet man dem Fahrradfahrer als solchem? Was sind die Tricks beim Handel im Basar und in den kleinen Dorfläden? Was gibt es überhaupt zu kaufen, das für uns wichtig ist? Schüttelt Imke ab jetzt den Männern wieder die Hand? Können wir in der Hitze unsere kurzen Hosen ohne Gesichtsverlust tragen? Wie managed man die Bargeldbündel, von denen man mindestens zehn bis zwölf Scheine zum Kauf einer Mineralwasserflasche auf den Tresen blättern muss? Gestern, beim Einkauf für die nächsten zwei Tage habe ich 36 Scheine hinzählen müssen. Das kann den Kassenbetrieb schon etwas aufhalten. Ich zähle mir die Scheine im Geldbeutel jetzt immer zu Zehnerpacks ab und habe damit schon Erstaunen geernet, als ich die zwei Bierflaschen im Lädchen um die Ecke schneller bezahlen konnte als die Einheimischen vor mir. Überhaupt die Scheine des usbekischen Sum! Wunderschön sind sie, vor allem die Kleinen, 200er und 500er. Aber die Geldscheindesigner kommen der Inflation nicht hinterher. Die kleinen Scheine sind nach Schwarzmarktkurs nur wenige Cent wert und oft schon gar nicht mehr im Gebrauch. Es gibt sie noch, aber die Restbeträge werden oft von den Läden in Kaugummis oder Bonbons bezahlt: Einfach den Restbetrag durch die Zugabe eines Kaugummis ausgleichen. Das ist üblich und erstmal gewöhnungsbedürftig. Bevor wir begriffen, wie es hier läuft, witterten wir Touristen-Beschummelung. Imke weigerte sich erst den Kaugummi anzunehmen, empört darüber, dass ihr nicht das gesamte Rückgeld ausgezahlt wurde. Bis wir dann begriffen, dass der Restgeldbetrag etwa eineinhalb Eurocent entsprach – und eben immer in Kaugummis ausbezahlt wird! Das war uns natürlich peinlich – ein klassisches kulturelles Missverständnis, wie wir es in neuen Ländern täglich erleben. Wir lernen dazu.
Morgen geht es endlich wieder in den Sattel. Wir sind schon ganz grätig weil wir so ungeduldig darauf sind. Wir wollen weiter, auf die Straße, genauer gesagt auf die Seidenstraße- auch wenn sich der Zustand der Straßendecke hier gar nicht seidig anfühlt! Wir fahren ab morgen nach Samarkand und die legendäre Schönheit dieser Perle der Seidenstraße zieht uns spürbar zu sich.