Georgien von der anderen Seite
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Wenn man durch die Straßen von Tiflis läuft, fällt dem Beobachter schnell auf, dass es abseits der Prachtstraßen und der Repräsentierbauten ein zweites Georgien gibt, das durch die hässlichen Bauten der Sowjetzeit und die Armut gezeichnet ist. Dort, auf der Rückseite, im oft tristen Alltag sind nicht die Orte, die von den Touristenbussen angesteuert werden. Dort findet man nicht die idyllischen Fotomotive des ländlichen Lebens und des ungleich verteilten Reichtums.
Wir durften dank der Einladung von Tamaz, der uns seine Wohnung und sein Leben öffnete, einen Blick in diese Alltagswelt der Mehrheit der Georgier werfen. Gleich zum Einstieg in dieses Land konnten wir uns ein erstes Bild machen, wie hier das wirkliche Leben läuft. Tamaz, Mitte 20, kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf an der Schwarzmeerküste im Westen. Er kam nach Tiflis, in die Hauptstadt, weil er sich für sein Leben mehr erhofft, als sein Dorf ihm zu bieten hat. Er studierte und schloss mit einem Bachelor ab und betont immer wieder: „Bildung ist der Weg, der uns in eine bessere Zukunft führt.“ Aus ihm spricht die Hoffnung der jungen bildungshungrigen Georgier, die von der Rosenrevolution vom November 2003 geprägt sind. Georgien, so sagt er, sei zwar schon Asien, „kulturell sind wir allerdings Europa viel näher als den allermeisten asiatischen Staaten, die uns umgeben.“ Damit hat er sicher Recht, und uns fällt auf, dass wir im Stadtbild kaum eine georgische Fahne sehen, an deren Seite nicht auch die blaue europäische Fahne weht.
Für uns war das zunächst eine Überraschung, aber wir reisten nach Georgien am 2. März ein, einen Tag, nach dem die Visumspflicht für Georgier im Schengenraum abgeschafft wurde. Das ist ein großes Ereignis für die junge Generation, die mit dieser Maßnahme riesige Hoffnungen für ihr persönliches Schicksal verbindt. Die Lebenshaltung von Tamaz wurde für uns zum Exempel für diese Hoffnungen. Tamaz kann sich das Leben in der Hauptstadt nur leisten, weil er umsonst im baufälligen Haus seines Onkels mietfrei ein bescheidenes Zimmer bewohnen darf.
Die allernötigsten Ausgaben fürs Leben verdient er sich mit wechselnden kleinen Jobs. Zurzeit arbeitet er zehn Stunden täglich in einem Fahrradgeschäft. „Es ist eine langweilige Arbeit, aber die Jobs, für die ich ausgebildet wäre, bekomme ich nur mit Connections,“ sagt er. Vetternwirtschaft und Nepotismus seien nicht nur in der Politik, sondern in jedem Bereich in Georgien ein großes Problem. Ausbildung spiele leider gar keine so große Rolle, wenn man nur die richtigen Leute kennen würde. Und die kennt Tamaz leider nicht, denn er kommt nicht von hier und sieht seine Zukunft nicht wirklich rosig. „Die bessere Zukunft kommt in Schildkrötenschritten.“
Dennoch ist er ein Idealist, er setzt sich ein für eine visionäre Verkehrspolitik in der Stadt, hat eine NGO-Fahrradgruppe gegründet und berät die Stadt im Aufbau eines Radwegenetzes und betreut ein Programm, um den Radtourismus in und um Tiflis zu fördern. Er sieht die Fixierung auf das Auto als Hauptverkehrsmittel kritisch, weist auf die Probleme europäischer Großstädte hin, ist gut informiert über die Feinstaubbelastung deutscher Städte und würde in diesem Bereich gerne auch nicht nur ehrenamtlich arbeiten. Er ist kein Träumer. Am letzten Abend sitzen wir zusammen mit seinem Neffen Lasza und dessen Freund Georgi. Wir haben Bier gekauft, selbstgebrannter Likör von irgendeinem Verwandten kommt auch ins Spiel.
Die Gespräche werden offener: „Schaut euch um, meint ihr, wir wohnen hier freiwillig? Das ist alles, was wir uns leisten können, dabei sind wir ganz gut ausgebildet und wollen arbeiten! Aber gute Arbeit gibt es nur für diejenigen, die einflussreiche Leute kennen.“ Er weist auf das Brot, das auf dem Tisch liegt und nimmt eine Scheibe in die Hand: „Das Bier, das ihr uns heute mitgebracht habt, kostet ein Zehntel der durchschnittlichen georgischen Monatsrente. Dafür könnte sich das Mütterchen nebenan Brot für den ganzen Monat kaufen. Ist das nicht deprimierend?“ Der monatliche Durchschnittslohn betrage rund 500 Georgische Lari, etwa 200 Euro. Selbst damit könne man sich ein Leben in der Stadt nicht wirklich leisten (Lebensmittel in den Supermärkten sind fast so teuer wie bei uns). Auf die Frage, warum er denn sein Zimmer und seine Zeit mit Fahrradfahrern aus dem reichen Westen teile, sagt er: „Es ist mein großer Traum auch mit dem Rad zu reisen, aber das kann ich mir nicht leisten, vielleicht werde ich das nie können. Aber auf diese Weise kann ich an eurer Reise teilnehmen.“ Es ist eine traurige Art, mit der er diese Einsicht ausspricht, und gleichzeitig ist der wilde Wille, dass das Leben für die Jungen besser wird, überall mit Händen zu greifen. Wir bewundern Dich für diese hoffnungsvolle Haltung, Tamaz. Als wir uns verabschieden und aus Tiflis am Sonntagmorgen hinaus in Richtung armenische Grenze fahren, sind wir demütig und etwas beschämt über die vielen Möglichkeiten, die uns offen stehen und die wir nicht verdient haben.
„Welcome to Armenia!“
Barev, Barev!
Ein wenig aufgeregt machten wir uns an einem grauen Morgen von Sadakhlo, dem georgischen Grenzort, auf zum nur einen Kilometer entfernten Grenzübergang. Die georgischen Grenzbeamten, in überdimensionierten, zugleich pompösen und heruntergekommenen Grenzgebäuden sitzend, stempelten freundlich unseren Pass, und wir verließen nach nur vier sehr erlebnisreichen Tagen Georgien. Etwas nervös radelten wir an Zäunen und Stacheldraht entlang. Nach Armenien reist man nicht alle Tage mit dem Fahrrad ein. Was würde uns erwarten? Dies war eine der vielen Situationen seit unserer Ankunft in Tiflis, in der mir bewusst wurde, wie weit weg wir von zu Hause waren. – Im Niemandsland zwischen Georgien und Armenien wollten wir gerne ein Foto vom Willkommensschild „Republik von Armenien“ machen, um diesen Augenblick festzuhalten. Sofort näherte sich uns ein Soldat und wies uns deutlich darauf hin, dass das verboten sei: „Njet! Njet!“ Hatten wir uns natürlich gedacht. Als wir ihm jedoch unsere Dankespostkarte überreichten und ihm mit unseren bereits gelernten dreieinhalb Brocken Russisch erzählten, wie sehr wir uns auf Armenien freuten, bedeutete er uns recht schnell, dass wir gerne ein Bild machen dürften, und fügte hinzu: „Welcome to Armenia!“.
Die armenischen Grenzbeamten begutachteten unsere Pässe sehr genau und fragten, wie lange wir denn in Armenien bleiben wollten. Ich wusste, dass Deutsche visumfrei einreisen und sich bis zu 180 Tage im Land aufhalten dürfen. Trotzdem erklärte ich für alle Fälle, dass wir gerne einen Monat in Armenien bleiben wollten, um all die berühmten ältesten Klöster der Christenheit zu besuchen. Diese Antwort gefiel dem Grenzbeamten offensichtlich. Außerdem sei Armenien ja sehr bergig, fügte ich hinzu, mit der Hand große Wellenbewegungen in die Luft malend, und mit dem Fahrrad seien wir sehr, sehr langsam. Da lächelte der Grenzbeamte noch breiter, drückte mir mit entschiedener Geste den armenischen Stempel in den Pass und hielt ihn mir unter die Nase: Der Stempel zeigte dass, was uns in den kommenden Wochen erwartete: viele, viele Berge. Mit einem freundlichen „Welcome to Armenia! Germany very good!“ winkte er uns durch. Unfassbar – wir waren in Armenien.
Wir sind erst seit drei Tagen in Armenien, und doch haben wir schon jetzt so viele widersprüchliche Eindrücke gesammelt, dass ich mich manchmal frage, wie ich das alles verarbeiten soll.
Realistisch muss man davon ausgehen, dass ein Durchschnittsarbeiter in Armenien mit noch weniger auskommen muss als in Georgien. So ist das Bild, das sich uns während unseres ersten Radtages in Armenien zeigt, ein erschütterndes. Und das liegt nicht nur an dem nebligen Grauschleier, der über der Landschaft liegt. Überhaupt erscheint alles grau: Die vermüllten slumartigen Dörfer, die schlaglochübersäte Straße, die braune Brühe des Flusses Debed, der in einem tief eingeschnittenen Canyon die ersten zwei Tage unter uns rauscht. Überall liegt Müll, im Straßengraben, in den Bäumen, am Flussufer hängen Plastikfetzen in den Büschen. Der Müll ist so allgegenwärtig, dass selbst wir, die wir sonst unseren Müll auf dem Fahrrad über Tage mit uns mitschleppen, bis wir einen Mülleimer finden, mit dem Gedanken spielen, unsere Tüten ebenfalls einfach liegenzulassen – und wir können es doch nicht. Die Landschaft sieht aus, als sei eine endzeitliche Sintflut durch das Tal gerauscht, hätte alles weggespült und nur den Dreck übriggelassen. In Alaverdi und Vanadzor kommen wir an Kupferbergwerken und Chemiekombinaten aus der Sowjetzeit vorbei.
Die Menschen leben in heruntergekommenen Plattenbauten. Ich frage mich: Wo spielen hier die Kinder? Es ist eine so deprimierende Landschaft, dass es mir fast unwürdig erscheint, dass hier Menschen leben, die so wie alle auch nur ein wenig Glück genießen möchten. Mich begleitet der belastende Eindruck, als radelten wir durch eine lebensfeindliche Gegend nach einem Atomkrieg.
Vor diesem Hintergrund verlässt mich ein Bild nicht, im Vorbeifahren aufgesogen: Eine ältere Dame hat einen Pappkarton neben der staubigen Schotterpiste aufgestellt, auf dem sie einige leere Joghurtbecher angeordnet hat. Zärtlich-liebevoll arrangiert sie die wohl ersten lila Blüten ihres Gartens darin. Wer wird die kaufen? Die Bauarbeiter in den schrottreifen russischen Lastwagen, die uns den ganzen Tag überholen und uns wie mit einer Nebelgranate in eine Staub- und Abgaswolke einhüllen?
Im Gegensatz dazu stehen die vielen Begegnungen mit Menschen, die uns willkommen heißen. Das nimmt uns gleich für Armenien ein und wir fühlen uns trotz der erschreckenden Armut wohl. Es erstaunt mich immer wieder, wie schnell man durch die vielen intensiven Eindrücke, die wir durch das Reisen mit dem Rad sammeln, ein Gefühl für ein völlig fremdes Land entwickelt. In Armenien beeindruckt mich die zunächst zurückhaltende, aber offene Freundlichkeit der Menschen.
Wir sind erst eine Stunde hier, und schon drei Male rief man uns begeistert zu: „Welcome to Armenia!“ Eine Dame kurz hinter der Grenze wünscht uns eine gesegnete Reise. Wir seien doch alle in Christus verbunden, erklärt sie, auf ihr goldenes und unsere Holzkreuze hinweisend. Von ihr lernen wir unser erstes armenisches Wort: „Barev! Hallo!“ Das gebrauchen wir sofort, und unter Winken und „Barev! Barev!”-Rufen radeln wir durch die ersten Dörfer. Wie in Marokko dröhnen uns die Ohren von den sehr lauten Hupen der Armenier, die uns grüßen. Unsere deutsche und armenische Flagge bescheren uns viel fast kindliches Winken und Daumen nach oben. Nebenbei: Meine persönliche Deutung der Farben der armenischen Flagge: Rot wie die Liebe, blau wie der Himmel und orange wie die Aprikose. Die wächst hier im Sommer nämlich zuhauf, auch wenn die braune Landschaft jetzt noch nicht danach aussieht. Der lateinische Name der Aprikose: „armenische Pflaume“.
Unterm Tisch bei Armen und Nadja
Unser erster Tag in Armenien ist repräsentativ für das, was uns hier begleiten wird: Klöster und Höhenmeter. Armenien hat als erstes Land der Welt im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion erklärt, und schon heute steht das Kloster Haghpat auf unserem Programm, das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Um es zu erreichen, quälen wir uns über 300 Höhenmeter auf nur eine Handvoll Kilometer eine kurvige Straße zum Bergdorf Haghpat hinauf. In Schlangenlinien versuche ich, mein Rad bei 12 und 13% Steigung um die Schlaglöcher herumzusteuern.
Fror ich gerade noch, läuft mir jetzt der Schweiß von der Stirn, während mein Atem in der kalten Luft dampft. Kaum kann ich etwas sehen durch die beschlagenen Gläser meiner Fahrradbrille. Da höre ich durch den Nebel vor meinen Augen eine Stimme: „Barev! Barev!“ Das kenne ich! Atemlos bleibe ich stehen und rufe zurück: „Barev! Barev!“ Mir wird eine Pappschachtel mit getrockneten Aprikosen und Kirschen unter die Nase gehalten. „Da! Iss!“ Die Stimme gehört Armen, der mit seiner Mutter Nadja im Bergdorf Haghpat lebt. Es ist schwer zu schätzen, wie alt er ist, wahrscheinlich so alt wie wir. Sicher ist, dass er eine Schnapsfahne hat. Aber das darf man wie auch in Georgien nicht zu streng bewerten. Sie hält Armen nämlich nicht davon ab, die wichtige Frage zu stellen: „Es wird bald dunkel! Wo wollt ihr schlafen?“ Gute Frage, denn das wissen wir auch noch nicht. Es soll hier zwar zwei „Hotels“ geben, doch was wir bisher in diesem Dorf gesehen haben, lässt uns daran nicht wirklich glauben. Als wir fragend antworten „Haghpat Hotel?“, wischt Armen dies energisch mit den Armen fuchtelnd vom Tisch und bedeutet uns ganz klar: „Njet! Auf gar keinen Fall! Ihr schlaft bei mir. Jetzt schaut euch erstmal das Kloster an, und dann kommt ihr zurück. Dort ist mein Haus.“
Und so machen wir es. In der hereinbrechenden Dämmerung schieben wir unsere Fahrräder durch Nieselregen auf ein Haus zu, von dem man nicht genau sagen kann, ob es bewohnt oder gerade im Bau ist. Begrüßt werden wir von einem Respekt einflößenden, riesigen Schwein, das uns genau beschnüffelt. Niemand zu sehen. Ob wir hier noch richtig sind? Doch gerade in dem Moment, als wir beginnen zu überlegen, was wir machen sollen, wenn wir hier keinen Schlafplatz finden, öffnet Armen die Tür und ruft uns ins Haus, das insgesamt nur zwei Räume, eine Küche und ein Wohnzimmer, umfasst. Wir können den Film, in dem wir gerade mitspielen, nicht richtig fassen, als wir uns mit Armen aufs Sofa setzen und armenische Soaps im Fernsehen anschauen. Seine Mutter Nadja scheint zunächst nicht so begeistert zu sein, dass ihr arbeitsloser Sohn ihr zwei Gäste ins Haus schleppt, auf die sie nicht vorbereitet ist. Uns ist die Situation etwas peinlich, aber wir stecken schon mittendrin und nun müssen wir auch durch. Gar nicht so einfach, wenn man nicht nur völlig kaputt von den Eindrücken unseres ersten Tages in Armenien ist, sondern auch die Sprache nicht spricht. Aber mit Hilfe eines Zeigewörterbuchs, unseres Fotobuchs, das Bilder aus unserem Leben in Biberach und aus Deutschland zeigt, ein paar Russisch-für-Anfänger-Aufschrieben und viel Charme gelingt es mir, eine Brücke zu Nadja zu bauen. Besonders gefallen ihr die Bilder von Kühen auf Blumenwiesen vor den Alpen, denn sie hätte selbst gerne auch eine Kuh, leider hätten sie nur ein Schwein und Hühner. Sie freut sich, dass ihre Enkelin und meine Schwester denselben schönen Namen tragen: Ina. Mit unseren wenigen Worten Russisch kann Ralph, der alte Fußballfreund, sich mit Armen über die Bundesliga und Schweinsteiger und deutsches Bier austauschen. Wir sind sehr stolz auf uns, dass wir mit unseren wenigen Worten Russisch eine Abendunterhaltung recht gut meistern.
Es dauert nicht lange, bis in dem kleinen holzbefeuerten Raum die Temperatur und die Stimmung steigen. Nadja deckt den Tisch mit Selbstgemachtem: Brot, Schafskäse, Brombeermarmelade, eingelegte Gurken, süß eingemachte Walnüsse. Zusätzlich setzt sie uns leckere salzige Reissuppe vor. Es bleibt nicht beim Tee, denn wir müssen natürlich auch Nadjas selbstgebrannten Schnaps probieren: Alles naturalni ecologi! Als wir am Ende des Tages auf unseren Isomatten unter dem Küchentisch liegen, wohin wir uns natürlich nur unter großem Protest von Nadja verzogen haben, die uns auf ihr Sofa legen wollte, haben wir das Gefühl, all dem heute Erlebten nicht mehr hinterherzukommen. Am nächsten Morgen kocht Armen persönlich uns einen starken süßen Kaffee, „Mit dem kommt ihr bis in den Iran!“ Nadja lässt uns nicht ohne zwei Gläser eingemachte Brombeeren und Aprikosen gehen – auf dass Ralphs Rad an den armenischen Steigungen noch schwerer werde. Es ist ein bewegendes Gefühl, als wir in der Morgenkälte aus dem kleinen Bergdorf herausrollen. Noch keine 24 Stunden sind wir in Armenien, und schon sind wir beschenkt von Menschen, die kaum etwas haben.
Wir machen uns einen Plan
„Wir machen uns einen guten Plan A, damit wir im Ernstfall auf einen annehmbaren Plan B oder Plan C zurückgreifen können.“ Das ist unser Grundsatz bei den Vorbereitungen. So planen wir unsere Tagesetappen und es ist uns dabei immer klar, dass wir uns nie darauf verlassen können, dass die Dinge so laufen, wie wir uns das vorstellen. Das sagt sich so leicht dahin, auch wenn wir für unsere A-Pläne meist ziemlich gut recherchiert haben. Besonders in Ländern wie Georgien und Armenien ist unserer Erfahrung nach dabei viel mentale Stärke notwendig, um sich mit den vorfindlichen Bedingungen anzufreunden. Im Ernstfall sieht das dann etwa so aus, wie an unserem zweiten Tag in Armenien. Am Vorabend waren wir nach nur 40 Kilometern hinter der Grenze aus dem tief eingeschnittenen Canyon bei Alaverdi eine steil ansteigende Serpentinenstraße auf das Plateau der armenischen Hochebene gefahren. Es war schon etwas dämmerig und die dicken, kalten Nebelschwaben haben Armenien neben der ihm eigenen Patina noch einen leicht gruseligen Anstrich gegeben. In der letzten Serpentine, schon in den Ausläufern des ärmlichen Dorfes machten wir kurz Pause, um zu entscheiden, ob wir erst nach einer Übernachtung Ausschau halten oder erst das Kloster besichtigen um dessentwillen wir diese 300 Extrahöhenmeter auf uns nahmen.
Und es geschah, was immer geschah, wenn wir anhalten: Wir sind nicht lange allein. Aus einer unscheinbaren Blechbude trat ein Armenier an uns heran und hielt uns eine schmutzige Plastikschale vors Gesicht. Darin Trockenaprikosen und -kirschen. Wir sollten essen. „Esst, esst!“ verstehen wir unterdessen nicht nur in Griechisch, sondern auch auf Georgisch, Armenisch und Russisch. Also aßen wir. Dann die üblichen Fragen auf Armenisch: Woher kommt ihr? Wohin wollt ihr? Welches Land ist Eure Heimat? All das erraten wir unterdessen sehr routiniert, denn Armenisch ist nicht wirklich leicht von unseren Sprachkenntnissen her zu erschließen. Wir variieren unsere Antworten intuitiv und würzen mit sehr viel „Danke“ auf Russisch. Die Unterhaltung endete mit einer Einladung zur Übernachtung und wir verbrachten die etwas unruhige Nacht unter einfachen Bedingungen unter Armens und Nadjas Küchentisch schlafend. Nur mühsam hatten wir die Einladung abgelehnt in der einzig beheizten Stube zusammen mit Armen und Babuschka Nadja auf dem Sofa zu verbringen.
Wir machten uns am Morgen also früh auf den Weg und vor uns lag – unserer Vorstellung nach – ein gemütlicher Tag mit 60 Kilometern und rund 500 Höhenmetern auf einer stetig ansteigenden gut asphaltierten Straße, die immer dem felsigen Canyon folgt. Das war Plan A. Wären wir nicht durch die Ereignisse des vorangegangen Abends und der kurzen Nacht etwas abgelenkt gewesen, hätten wir wissen können: Vielleicht gibt es die Straße gar nicht mehr, denn am Vortag passierten wir ein Schild, das darauf verwies, dass die Straße für „Transportverkehr“ gesperrt sei. Das Schild war allerdings schon ziemlich verrostet und wir dachten uns, dass es sicher vor Jahren einfach vergessen wurde und nicht mehr wirklich gültig wäre. Transportverkehr reimten wir uns als Schwerlastverkehr zusammen und obwohl uns unsere Lasten auch ziemlich schwer erschienen, rechneten wir uns nicht zu diesem.
So ritten wir in einen sonnigen Tag mit der Aussicht abends in Vanadzor eine warme Dusche und ein gemütliches Bett zu finden. Wir hatten es nötig, denn seit über einer Woche konnten wir nicht mehr die Tür hinter uns zu machen und einfach abschalten. Ein sehr schöner Plan A. Erste wirkliche Zweifel daran kamen uns, als auf den nächsten 20 Kilometern weitere Schilder folgten, die unmissverständlich eine gesperrte Straße ankündigten. Bei jedem Schild fragten wir die irgendwo am Straßenrand stehenden Armenier, ob denn die Straße wirklich gesperrt sei, worauf wir immer heftiges Nicken und vor der Brust gekreuzte Unterarme gezeigt bekamen: „Ja, ja, Straße gesperrt.“ Immer wurde uns dann nach kurzem Bedenken auf unsere erneute Nachfrage, ob denn die Straße auch für Fahrräder gesperrt sei genauso überzeugend versichert: „Naja für Fahrräder… nein mit dem Fahrrad könne das schon gehen.“
Bei jedem neuen Schild bei jeder neuen Nachfrage am Straßenrand durchliefen wir verschiedene Stadien der bitteren Enttäuschung und erneuten Hoffnung. Denn wie sähe Plan B aus? Plan B hätte bedeutet, wir fahren die lange Umleitung über den Puschkin-Pass. Trotz des schönen Namens wäre das eine üble Bergstraße auf über 2000 Meter Höhe weit hinaus über die Schneegrenze gewesen, die in einem grässlichen Tunnel gipfelt, der nur von lebensmüden Fahrradfahrern zu befahren wäre. Wir hätten am Ende des Tages dann wohl unser Zelt oben im Schnee aufstellen müssen, neben der Straße, wenn wir überhaupt dort ein ebenes Plätzchen hätten finden können – keine Dusche, keine Tür, keine Wärme. Dörfer gab es dort keine mehr. Was für eine enttäuschende Alternative wäre das gewesen, im Vergleich zur warmen Dusche und dem Federbett in Vanadzor? So wechselte unsere Stimmung zwischen siegesgewisser Zuversicht und resignierender Immigration in „es könnte noch schlimmer kommen“. Diese Wechselbäder erlebten wir fast im Viertelstundentakt, denn je weiter wir fuhren, desto öfter standen Verbotsschilder am Wegesrand und desto eindeutiger waren die Hinweise auf schwere Erdarbeiten: Bulldozer, uralte Lkws aus Sowjetzeiten, Arbeitskolonnen, Felsbrocken auf der Straße (einen Asphaltbelag gab es schon seit vielen Kilometern nicht mehr). Unsere Entscheidung es bis zum bitteren Ende mit „Durchkommen“ zu versuchen, war vor zwei Stunden gefallen und so belaberten wir immer wieder erneut die einzelnen Bautrupps uns passieren zu lassen, obwohl die Arbeiter zuerst immer wieder uns am Weiterfahren hindern wollten. Mit Charme, mit Verbrüderungen, mit Erzählungen aus unseren bisherigen Abenteuern und mithilfe der bewährten Dankeskarten, die wir großzügig verteilten, konnten wir immer wieder den nächsten jeweils für den Verkehr komplett gesperrten Abschnitt passieren.
Teilweise mussten wir warten, bis die Vorarbeiter die Baggerführer zum Pausieren der Arbeiten aufriefen oder die Planierraupenfahrer die gröbsten Felsbrocken für uns von der Straße schoben. Jedes Mal waren wir wieder völlig überwältigt von der Freundlichkeit und Flexibilität der Arbeiter, die alles Mögliche in Bewegung setzten, um uns den Weg freizuräumen. Allerdings waren diese Passagen jedes Mal mit dem Hinweis verbunden, dass es da vorne kein Durchkommen gäbe, denn der Tunnel, wegen dem die Straße eigentlich gesperrt sei, könne unmöglich passiert werden. Wir jedoch hatten unsere Entscheidung gefällt erst umzukehren, wenn es definitiv kein Durchkommen mehr gäbe – jetzt war es ohnehin zu spät um irgendwo eine Übernachtung zu finden, sollten wir nicht passieren können. Die Zuversicht der Hoffnungslosen ist eine starke Kraft.
Ein ausnahmsweise Englisch sprechender junger Armenier, der unbegreiflicherweise zu Fuß auf dieser verlassenen Straße unterwegs war, erklärte uns: „Da vorne endet alles in einem Tunnel für die Straße und der wird gerade erst gebohrt. Die einzige Möglichkeit ist auf den Schienen zu laufen auf der anderen Seite des Flusses. Das sind nur zwei Kilometer.“ Er sprach nicht von einer VERLASSENEN Bahnstrecke. Güterzüge fuhren recht häufig diese Strecke, wie wir schon den ganzen Tag beobachteten. Also schlossen wir diese Armenische Lösung für uns definitiv aus. Das würde nicht unser Plan B oder Plan C werden – auch nicht Plan X, Y oder Z!
Es kam, wie es kommen musste und wie wir es auch schon seit Stunden hätten vor dem inneren Auge sehen können. Wir bogen um den nächsten Felsvorsprung und standen vor einem Tunneleingang der bis zur halben Höhe mit Felsblöcken aufgefüllt war. Davor schwere Baumaschinen im Einsatz und ohrenbetäubendes Hämmern von Felsbohrmaschinen aus dem Inneren. Graue Steinstaubschwaden wehten aus dem dunklen Loch. Wir hielten an und schöpften innerliche Kraft für die letzte Enttäuschung, die uns gleich bevorstand, dann fuhren wir die 20 Meter auf den Bautrupp zu, der uns anschaute als wären wir vom Himmel gefallen oder seien die verspäteten Heiligen Drei Könige auf Kamelen. In diesem Moment wurde mir klar, dass es ein Wunder war, dass wir überhaupt bis hierher die letzten 20 Kilometer über Schotterpiste und Felsbrocken an rund einem Dutzend Bautrupps durchgekommen waren.
Der Vorarbeiter der Tunnelmineure trat kopfschüttelnd auf uns zu, kreuzte – wir kannten das unterdessen schon im Überdruss – vor der Brust die Arme und sagte das Offensichtliche: „Die Straße ist gesperrt.“ Wir gingen erst gar nicht darauf ein, begrüßten ihn auf Armenisch, blubberten auf Russisch los mit dem ganzen Vokabular, das uns zur Verfügung stand, überreichten ihm unsere Dankeskarte mit unserer Weltroute, erklärten ihm, dass wir nicht durch die Türkei führen, denn sonst hätten wir ja sein Land verpasst, beteuerten wie überaus schön Armenien sei, wie freundlich die Menschen hier, zeigten auf die Deutschlandfahne und dann auf die Armenienfahne, beschworen die Völkerfreundschaft, lächelten, dass die Gesichtshaut schmerzte und schüttelten Hände, zeigten auf unsere Räder und sagten schließlich entwaffnend ehrlich, dass wir müde seien und heute Abend in Vanadzor schlafen wollten. Die rund 20 Arbeiter, die sich unterdessen um uns versammelt hatten schauten uns an, als wären wir geisteskrank. In ihren Gesichtern war eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen zu lesen. Der Vorarbeiter hingegen hörte sich väterlich milde lächelnd unsere etwas irre Rede gelassen an. Dann entstand eine Pause und in meiner Erinnerung setzte auch das kreischende Hämmern der Bohrmaschinen für eine Sekunde aus. Wir hatten getan, was in unserer Macht stand. Mit Zähigkeit hatten wir uns bis hierher durchgekämpft, hatten immer wieder alle unsere Zuversicht wie Brosamen zusammengesammelt, hatten die Enttäuschungen weggewischt, das Ziel immer wieder erneut ins Auge gefasst, und an der Hoffnung festgehalten.
Jetzt würde das Urteil fallen und wir würden uns sagen können: „OK, immerhin haben wir alles versucht.“ Der Vorarbeiter holte Luft, öffnete seinen Mund und sagte – ich wollte es erst gar nicht glauben: „Gut, kommt mit!“ Drehte sich um und ging auf den Tunnelschlund zu. Ich schaute Imke an, die neben mir stand und ich glaube mich zu erinnern, dass ihr Mund tatsächlich offen stand als wollten Worte kommen, das Hirn aber die Ereignisse nicht fassen konnte. Was folgte, erlebte ich wie in einem Film: Unsere 50 Kiloräder wuchteten wir über die Felsen im Tunneleingang und dann umschlossen uns Finsternis und dicke Staubluft. Der Vorarbeiter lief vor uns mit einer funzeligen Stirnlampe Anweisungen an seine Baggerführer und Bohrmaschinenfahrer brüllend. Die Arbeiten wurden im gesamten Tunnelabschnitt unterbrochen. Wir stolperten, mehr als dass wir liefen, während Staub in unseren Augen brannte und wir hörten, wie vor und hinter uns die Arbeiter gerade noch Felsbrocken aus Tunneldecke und –wänden absprengten und jetzt Stillstand herrschte. Ich konnte die Arbeiter nicht sehen, so dicht waren die Dunkelheit und der Staub, aber ich konnte die Stille des Staunens fast greifen, die eintrat , als unsere Karawane passierte.
Am sonnigen und stillen Ende des Tunnels verabschiedete sich Joseph Hofstedt, ein Armenier mit deutschen Wurzeln, von uns, indem er uns eine Handvoll Bonbons überreichte, als wären wir Kinder, die gerade recht brav einen Zahnarzttermin überstanden hätten. Wir waren sprachlos und fühlten uns unschlagbar.
Gleich würde es eine warme Dusche und ein gemütliches Bett für uns geben, es waren ja NUR noch 30 Kilometer – dachten wir. Nach dem bisher Erlebten hätten wir es besser wissen können. Was folgte, waren 30 Kilometer üble Schotterpiste, weitere „unpassierbare“, halsbrecherische Bauabschnitte, 500 Höhenmeter mehr als in Plan A vorgesehen und immer wieder lange Wartezeiten, bis die Bulldozerfahrer in Badeschlappen uns die Straße freiräumten. Ein weiteres halbes Dutzend sinkende Hoffnungen und zusammengeraffter Mut und schwindende Kraft, den Sowjetlastern in den Matsch am Straßenrand auszuweichen. Als wir zur Dämmerung tatsächlich in die hässliche Chemiekombinatsstadt Vanadzor einfuhren, waren wir innerlich fast so mürbe wie die dicke Staubschicht, die uns von Kopf bis Fuß bedeckte. Wir fanden ohne Probleme das in Plan A vorgesehene Bed & Breakfast und konnten nicht glauben, dass unser Zimmer eine Tür hatte, die man sogar abschließen konnte, dass Wasser aus den Hähnen kam, dass dieses Wasser auch warm war und die Heizung funktionierte. Hatten wir im Lauf des Tages 20 Mal den Plan A schwinden sehen? Es waren wohl eher 30 oder 40 Male! Wir konnten es nicht fassen und mussten unsere Freude jemandem erzählen. Das haben wir hiermit getan.