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Artikel im Blix 3/2017: „Über die Alpen Richtung Himalaya“
Von einer sonnendurchtränkten, blaubemeerten Bucht, an der wir zwei Tage schon Frühling genossen und noch etwas Kraft gesammelt haben, sind wir in Richtung Moloch Athen aufgebrochen. Über einen kleinen Pass und mit zwei kurzen Fähren sind wir via geschichtsträchtiger Insel Salamina nach Piräus eingefahren. Es regnete und die Dämmerung brach an. So fährt man nicht gerne in eine für ihren irren Verkehr berüchtigte Großstadt ein: vom Schrott- und Ölhafen her. Die Kulisse war düster, grau, arm und heruntergekommen. Aber dank Filippos Nikolakopoulos hatten wir ein Ziel. Kurz vor der Dunkelheit erreichten wir das einfache Appartment, das für die nächsten drei Tage unsere Heimat wird. Filippos hatte uns als Gastgeber der Internetseite warmshowers.org eingeladen zu bleiben. Jetzt sind wir dabei hier Fahrradkartons und eine Fahrt zum 50 Kilometer entfernten Flughafen zu organisieren. Nebenbei: Kleiderwaschen, Reparaturen, Besorgungen und sich auf Georgien und Armenien vorbereiten.
Das ist jetzt unterdessen schon wieder vier Tage her. Jetzt sitzen wir in der Abflughalle im Athener Flughafen und im Hintergrund spielt überraschend angenehme Entspannungsjazzmusik. Der Flughafen ist menschenleer. Wir warten auf das letzte Flugzeug des Tages. Es geht nach Tiflis, um 0:35 Uhr. Die Fahrräder sind aufgegeben in unseren hervorragenden, riesigen, wunderschönen Kartons, die wir von Napoleon bekommen haben. Nicht von Napoleon Bonaparte, sondern von Napoleon aus Gatzias Bikes, dem Freund von Filippos.
Filippos hat uns gerade mit seinem etwas müden Auto zum Flughafen gebracht, mit 40, manchmal auch mit 50 Stundenkilometern auf der Stadtautobahn. Er ist ein vorsichtiger Fahrer, wenn auf dem Dachgepäckträger zwei riesige Radkartons festgebunden sind. Und die Griechen um uns herum waren einmal mehr sehr geduldig. Kein Hupen, kein Kopfschütteln. Ich konnte mir nicht verkneifen ab und zu aus dem Fenster die Hand in Richtung Autodach zu strecken und zu fühlen, ob noch alles am Ort ist, das dünne Seil, die Dachträger und die Räder. Aber alles ging gut. Fast zu glatt um zu begreifen, dass Griechenland jetzt für uns zu Ende ist. Wir fühlten uns kaum angekommen in diesem Land, das uns auf eine überraschende Weise mit großem Charme empfangen hat und das uns so schockierend seine Wirtschaftskrise in den Gesichtern der Menschen gezeigt hat. Ja in den Gesichtern: sie sind müde, ausgelaugt, erschöpft, die Griechen, die uns in den Läden, auf den Straßen, aus den Autos angeschaut haben. Wir sprachen mit ihnen über die Krise, über die Schwierigkeiten des Alltagslebens, über die Kürzungen der Renten. Vor allem die Armut der Alten, die zum Beispiel auf der Straße Tempotaschentücher verkaufen, ist uns unter die Haut gefahren. Dies hat das Bild von unserem kurzen Griechenlandaufenthalt mehr geprägt als die frühlingshaften Temperaturen und die meerblauen Buchten und die Größe der Akropolis.
Angefangen hat unser kurzer Griechenlandaufenthalt in Patras, wo wir mit den Rädern von der Fähre fuhren, da war es schon Nacht und es regnete. Zum Glück hatten wir uns schon ein einfaches Hotel in Hafennähe ausgesucht und fanden den Weg dank GPS schnell. Von dort führt die Nationalstraße 8 am übernächsten Tag bei Frühlingssonnenschein immer an der Bucht von Korinth entlang, über rund 200 Kilometer, bis dann hinter der hässlichen Stadt Korinth der schmale Streifen Land mit einem beeindruckenden Schnitt zu einem Kanal wird und die kleineren Schiffe in die Wasser vor Athen passieren lässt. Für uns waren es knapp drei Tage Fahrt, immer wieder versuchten wir, wo es möglich war, die etwas stärker befahrene Nationalstraße zu verlassen und direkt am Meer entlang zu fahren, mit dem herrlichen Gefühl die Ebene zu genießen. Wir würden ja jetzt lange nicht mehr ans Meer gelangen. Vielleicht in Indien wieder? Eher unwahrscheinlich. In Thailand, in mehr als einem Jahr wieder. Also genossen wir das Blau, das Rauschen, den weiten Horizont.
In Korinth entschieden wir, dass wir noch zu viel Zeit haben, um gleich weiter nach Athen zu fahren. Wir wendeten uns nach Nordwesten und umfuhren die kleine Halbinsel von Loutraki, um einen verlassenen aber offenen Campingplatz an einer wunderschönen Bucht zu finden. Dort blieben wir drei Nächte, endlich mal wieder im Zelt. Endlich wieder das vertraute Rauschen des Benzinkochers, das Essen auf unserer bewährten Picknickdecke, der eigene Schlafsack unter dem Sternenhimmel.
Von dort aus kontaktierten wir Filippos, der uns eine Unterkunft auf der Internetseite warmshowers.org anbot. Eine Seite, ausschließlich für Radfahrer und diejenigen, die ihnen Obdach anbieten wollen. Ein Austausch von Gastfreundschaft ohne Geld. Ein schönes Konzept, das das Empfinden für das gegenseitige Gleichgewicht von Geben und Nehmen schärft. So brachen wir an dem ersten regnerischen Tag seit Patras wieder auf, leider, denn an Regen ist vor allem schlecht, dass wir das Zelt dann nass einpacken müssen. Dass es tagsüber immer wieder zu regnen anfing störte uns dann nicht mehr so sehr, denn es lagen mal wieder einige Höhenmeter auf der Strecke so dass es uns nicht kalt wurde. Wir entschieden die Stadtautobahn von Athen zu vermeiden und durch die Hintertür über die Insel Salamina zu fahren. So kamen wir mit zwei kleinen Fährfahrten und 10 Kilometer Inselstraße fast direkt nach Piräus. Fast direkt hieß allerdings leider, bei einsetzender Dunkelheit und stärkerem Regen im Schrotthafen ganz im Westen Athens. Wir fuhren also durch die hässlichste Ecke nach Athen hinein, durch den Schiffsfriedhof und den Ölhafen. Allerdings immerhin nicht über die Autobahn. Gut, dass wir einen Menschen hier mit Namen kannten: Filippos Nikolakopoulos.
Allerdings war das auch das Einzige, das wir von Filippos wussten – fast. Denn wir hatten schon erfahren, dass Filippos keine Anfrage von Radfahrern mit der Bitte ihnen Obdach zu geben, jemals ablehnte. Das ist bemerkenswert, denn in Piräus kommen viele Langstreckenradler an. Und so war unser Aufenthalt geprägt vom überfüllten kleinen Appartement, das mit Schlafsäcken so ausgelegt war, dass der Boden nicht mehr zu sehen war. Wir trafen dort Rodrigo aus Argentinien, Arkadiusz aus Polen und ebenfalls aus Polen waren Nikole, Alexandra und Kuba, dann war noch Felix aus Berlin da, aber der war eigentlich auf seiner Dreijahrestour durch die Welt und nur zum Fahrradreparieren kurz in Berlin. Nikole und Alexandra fuhren mit dem Rad im Winter durch den Balkan und Arkadiusz ist per Autostop von einem Anarchistenkongress gekommen und hatte sein Rad eigentlich in Patras untergestellt. Warum er dann in Piräus bei Filippos war? Solche Fragen stellt man am Küchentisch nicht mehr. Klar ist nur, die Reiserouten sind nie klar und Ziele gibt es viele oder keine, aber alle treffen sich bei Filippos in Piräus.
Filippos ist Ingenieur und leidenschaftlicher Radfahrer. Er ist eine Institution. Warum macht er so etwas, teilt sein Appartement seit etwas mehr als eineinhalb Jahren fast ständig mit fremden Menschen, die ihm nichts zahlen und ihm ziemlich viel Platz und Ruhe nehmen? Er hat mir die Frage nicht beantwortet. Er hat gelächelt und auf seine schüchterne, etwas wortkarge Art gesagt: „Ich habe Platz, ich wohne allein hier, warum soll ich die Wohnung nicht teilen? Ist doch schön, Leute zu treffen, die viel reisen.“ Irgendwie war es für ihn auch fast selbstverständlich, dass er uns anbot uns zum Flughafen zu fahren. Eine große Hilfe für uns, besonders, da sich herausstellte, dass heute die Metros streiken, heute da wir zum Flughafen müssen. Es war nicht nur eine große Erleichterung, sondern hat uns sicher auch den Flug gerettet.
So banden wir also vorher unsere Radkartons auf seinen alten Dachgepäckträger und fuhren sehr langsam die 50 Kilometer quer durch den Moloch Athen zum weit draußen liegenden Flughafen. Wir verabschiedeten uns und hatten wieder einmal einen Kloß im Hals, als wir Filippos beim Wegfahren nachwinkten, diesem zurückhaltenden, freundlichen, guten Menschen.
ευχαριστώ, Φίλιππος!