Unser emotionaler Abschied – Video Schwäbische Zeitung (zum Anklicken)
„Wir bewundern Euch für Euren Mut“ – Artikel in der Schwäbischen Zeitung (zum Anklicken)
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Abschied
Wir sind zu schnell unterwegs mit dem Fahrrad. Schon in den vergangenen Monaten stellten wir immer wieder fest, dass das vermeintlich langsame Verkehrsmittel Fahrrad immer noch zu schnell ist, um all die Eindrücke angemessen zu verarbeiten, die uns auf der Reise begegneten. Vielleicht aber verhält es sich auch umgekehrt: Weil wir mit dem Fahrrad langsamer unterwegs sind als mit dem Auto, eröffnet sich uns die Welt so viel intensiver, dass wir mit dem Begreifen gar nicht nachkommen. Besonders die drei Wochen zu Hause haben uns in dieser Hinsicht völlig überwältigt. Wir freuten uns schon seit Wochen, Euch Freunde zu treffen, gemütlich Abende zu verplaudern, in herzlicher Gesellschaft zu sein. Immerhin waren wir jetzt ein halbes Jahr in der Fremde. Drei Wochen würden wir Zeit haben, fast einen Monat. Das war lang, denn wenn man fast jeden Tag im Sattel sitzt, täglich über Stunden Hochleistungssport betreibt, immer unterwegs ist, dann stellt das plötzliche Anhalten auch eine körperliche und psychische Belastung dar. Wir merken, dass wir den täglichen Auslauf gewöhnt sind und schnell spürten wir einen unbefriedigenden Bewegungsdrang. Alles erschien uns unwirklich: beheizte Räume, gepolsterte Stühle (mit Rückenlehne!), Autofahren, abschließbare Häuser, die nächtliche Stille und Geborgenheit eines Schlafzimmers… Wir befanden uns in einem moderaten Schockzustand.
All dies übertreffend rissen uns die Herzlichkeit, die Gastfreundschaft und die Freude der Begegnungen mit den Freunden wie eine Flutwelle mit sich. Im Grunde waren wir nicht vorbereitet auf so viel Aufmerksamkeit, schließlich kamen wir aus der Einsamkeit der Wüsten. Vielleicht merkte man es uns auch an, wir waren überwältigt. Dieser Zustand hielt die ganzen drei Wochen an, die schnell wie ein kurzer Umsteigehalt auf einem Bahnsteig vergingen. Dann war der 8. Februar da, der Tag unseres erneuten Abschieds von Biberach. Wir fuhren in der Morgenkälte zum Marktplatz und auf dem Weg dorthin unterhielten wir uns noch einmal darüber, dass dies wohl einer der bewegendsten Augenblicke unserer Reise werden würde. Wir wappneten uns für die großen Gefühle, die der Abschied oder besser gesagt die vielen Abschiede in uns lostreten würden. Aber wir waren schließlich überhaupt nicht vorbereitet auf das, was sich dann ereignete. Wir sind uns im Nachhinein einig darüber, dass es eine große Gnade ist, auf so herzliche Weise auf eine Reise geschickt zu werden. Wir glauben sogar, dass dies ein einzigartiger Lebensmoment für uns ist, den zu erleben nicht vielen Menschen geschenkt wird. Waren die Umarmungen und Gespräche mit jedem Einzelnen auch noch so kurz, haben sie sich doch eingebrannt in unsere Erinnerung. Es fällt uns wirklich schwer, diese eineinhalb Stunden, erst vor der Stadtpfarrkirche, dann vor der Gebhard-Müller-Schule in Worte zu fassen. Und ausnahmsweise halten wir es diesmal für das bessere Medium, die Videos, die Musik und die Bilder sprechen zu lassen. Danke für Eure Freundschaft, für Eure Worte und für Eure Unterstützung. Wir werden noch lange von diesem Schwung zehren, den Ihr uns mitgegeben habt. Und wir werden uns noch lange darüber unterhalten und uns gegenseitig an jede der viel zu kurzen Begegnungen erinnern.
Nach Venedig
Wie ein Nachrauschen in den Ohren, wenn der letzte Klang verklingt am Ende einer grandiosen Sinfonie, wenn die Stille nachschwingt und die andere Wirklichkeit noch nicht wieder eingesetzt hat, so befanden wir uns im Zwischenraum zwischen Jetzt und Dann, als wir hinter der Ecke der Gebhard-Müller-Schule auf den Radweg nach Ummendorf einbogen. Wie im Traum fuhren wir ganz automatisch die vertrauten Straßen hinauf nach Füramoos und mussten schweigen, gebannt vom Nachklang dieses Abschieds. Bisher hatten wir noch nicht wirklich begriffen, dass wir gerade dabei waren unseren großen Plan zu verwirklichen, mit dem Fahrrad um die Welt zu fahren. Jetzt war der Moment gekommen. Mit jedem Meter entfernten wir uns von den Freunden. Wir würden nicht mehr umkehren. Wir kannten die Strecke, waren sie mit dem Rennrad oft gefahren. Jetzt aber würden wir keine Runde fahren und abends wieder in Biberach sein, wir würden nicht umkehren. Wir würden weiter fahren, unvorstellbar weit, immer Richtung Osten. Wir waren wieder allein. Nein, wir waren es nicht, denn Frank und Hartmut begleiten uns die ersten Stunden; Christoph und Uli fahren mit uns über die Alpen und schließlich Uschi und Hubert, die bis nach Venedig dabei sein würden. Uschi Hagel und Uli Heinkele fuhren mit dem Wohnmobil und bauten zur Mittagszeit irgendwo auf der Strecke einen Campingtisch auf, so dass wir in der Kälte fast jeden Tag eine warme Suppe löffeln konnten – was für ein unglaublicher Luxus!
Christoph Fleischmann, unser Freund aus Studienzeiten, arbeitet unterdessen als Journalist für den Westdeutschen Rundfunk und hatte den WDR und den Hessischen Rundfunk überzeugt, wir seien ein Radiofeature wert. Also begab er sich mit uns auf den Weg und sammelte mit seinem Aufnahmegerät O-Töne, interviewte und kommentierte. Sein Anspruch an seine Arbeit erforderte, dass er selbst erleben wollte, wie wir im Winter in Richtung Venedig fuhren. Also fror er mit uns und schwitzte, schob sein Rad über vereiste Wege und sah uns fallen, war frustriert, weil Autostraßen für Radfahrer verboten sind und Radwege im Winter gesperrt und zu Loipen umfunktioniert werden, gab auch bei den üblen Steigungen nicht auf und war am Ende des Tages genauso erschöpft und hungrig von der Kälte wie alle anderen.
Es war schön für uns, das Reisen auf dem Rad mit anderen zu teilen und zu spüren, wir müssen nicht berichten, um unser Unterwegssein begreifbar zu machen. Gleichzeitig aber waren wir auch dadurch anders unterwegs, denn wir hatten jeden Abend und fast jeden Mittag ein warmes Essen, das wir nie selbst kochen mussten. Wir mussten uns nicht um die Übernachtungen kümmern, nicht unser Zelt aufstellen, nicht uns um Einkaufsmöglichkeiten sorgen oder um Wasser. Die Wege waren zivilisiert (abgesehen von den italienischen „Radwegen“ um Padua herum) und die Temperaturen nach den ersten zwei Tagen eher gemäßigt. Abends lagen wir nicht auf unserer Picknickdecke unter dem Sternenhimmel, sondern saßen in einer beheizten Wirtsstube beim Bier mit Freunden. Es war sehr schön, anders schön als in USA und Marokko. Schön auch, dass Uschi und Hubert Hagel uns bis zuletzt nach Venedig begleiteten, sich mit uns auf dem Campingplatz einquartierten, einen unvergesslichen Tagesausflug nach Venedig gemeinsam mit uns machten und schließlich am Morgen unserer Abfahrt mit der Fähre ein letztes Freundesfrühstück im Wohnmobil mit Geburtstagskuchen auftischten. Dann der letzte Abschied, die Fahrt zur Fähre, das Stehen und Nachsinnieren auf Deck bei der Ausfahrt aus der Lagune von Venedig. Jetzt sind wir wieder allein, während 33 Stunden Schifffahrt hören wir immer noch das Nachrauschen der Abschiede und der Herzlichkeit der Freunde. Wir fühlen uns bereit, vor uns liegt die nächste große Etappe: Griechenland, Georgien, Armenien, Iran.
„Nicht nach Madrano!“ – eine Begegnung an der Strecke
Wir standen am Verkehrskreisel der stark befahrenen Bundesstraße SS 12 in Trento. Hier endete der Radweg, aber wir hatten uns eine Route überlegt, wie wir die nächsten 600 Höhenmeter zum Levicosee erklimmen wollten. Kurz mussten wir uns orientieren. Hier würden wir uns durch das Wirrwar der hässlichen Straßen von Trento kämpfen müssen und gleichzeitig dem irren Verkehr in Richtung Venedig ausweichen. Wir standen über unser GPS gebeugt als ein älterer Herr mit einem Stadtfahrrad an uns vorbeifuhr, angedeuteter Bonanzaknick im Lenker und Einkaufskörbchen auf dem Gepäckträger. Er hielt an, schaute an uns herunter und sagte: „Hier endet der Radweg.“ Er hatte Recht. Wir standen direkt unter dem Schild, das das Ende des Radwegs anzeigte. „Wo wollt Ihr denn hin?“ Eigentlich wollte ich mich ja mit der Weiterfahrt beschäftigen, jetzt stand ich wieder einmal vor dieser Frage, die uns jedes Mal irgendwie in Nöte brachte. Wir hatten da schon unserer Erfahrungen gemacht: „Um die Welt“ war eine Antwort, die nur die Härtesten vertrugen. Alle anderen sind erst einmal beleidigt, weil sie annehmen, dass wir uns über sie lustig machen. Ähnlich verhält es sich mit den Antworten: „Nach Australien“, „Nach Indien“ oder „Erstmal in Richtung Iran“. Wir standen in Trento, also sagte ich: „Zum Lago die Levico“. Ich hatte einen Stadtradfahrer vor mir, vielleicht konnte er uns wenigstens den Einstieg in die Passstraße zeigen. Vielleicht aber auch ließ er uns einfach in Ruhe und wir könnten schnell weiterfahren, denn heute war „Königsetappentag“. Wir hatten noch einiges vor uns und es war schon recht spät. Wir wollten uns also nicht mit unnützem Smalltalk aufhalten.
Wieder einmal hatte ich mein Gegenüber aber unterschätzt – ziemlich sogar. Unser Bonanzalenker-Einkaufskorbradfahrer, nennen wir ihn mal Signor M., fragte weiter: „Welche Route habt ihr gewählt?“ Ich vermutete schon die Absicht hinter der Frage (ich bin von hier und kenne mich aus, ihr seid nicht von hier und könnt die beste Straße gar nicht kennen). Also antwortete ich vorsichtig, zeigte auf die dritte Ausfahrt des Verkehrskreisels und sagte: „Ich dachte, wir würden bis zu der Kirche dort auf halber Höhe fahren und dann nach links ins Tal einbiegen, dort müsste die Via Claudia Augusta wieder weiterführen.“ Falsche Antwort! „Geht nicht, das dort sind 25 Prozent Steigung und dann hört der Straßenbelag auf. Nicht gut für Euch.“ Er schaute auf unsere heftige Bepackung und hatte im Prinzip Recht. „Oder die Hauptstraße SS 12 nehmen und dann irgendwo dort nach links abbiegen.“ und ich zeigte auf die zweite Ausfahrt des Kreisels. Jetzt war ich in seinen Augen komplett durchgefallen, er schüttelte mitleidig den Kopf: „Das ist die gefährlichste Straße Italiens.“ Mir wurde langsam klar, dass diese Unterhaltung in zwei Richtungen gehen konnte: Entweder wir hatten den Stadtquerulanten von Trento getroffen, dem es heute Nachmittag sehr sehr langweilig war, oder Signor M. hatte den vollen Durchblick und würde uns gleich den einzig möglichen Weg zeigen. Er wendete sein weißes Rad und grinste uns an: „Ach, kommt mit, ich begleite Euch und zeig euch, wo´s lang geht.“ Ich schaute auf seinen Bonanzalenker und sein Einkaufskörbchen und hoffte, dass das jetzt nicht nur eine Butterfahrt werden würde, denn der Tag ging zur Neige und meine Geduld auch.
Aber, wie gesagt, ich hatte ihn unterschätzt. Schnell wurde klar: Signor M. radelt zügig und kennt seine Stadt. Über die Schulter unterhielt er sich mit uns: In Italien gebe es leider nicht sehr viele Radfahrer. Ich zog die Augenbrauen hoch und nannte zum Gegenbeweis ein paar berühmte Namen. Er wiegte den Kopf und zeigte auf den wogenden und rauschenden Stadtverkehr um uns herum: Kein einziger Radler. Aber er ging auf meine Entgegnung ein: „Ja, Francesco Moser (in den 1970er und 1980er Jahren einer der erfolgreichsten italienischen Radrennfahrer) kommt aus dem Dörfchen gleich dort oben. Dort sind die Leute arm. Jetzt gehört ihm der halbe Berg.“ Apropos „halber Berg“: angesichts des Aufstiegs, der vor uns lag, fiel mir ein, dass unsere Trinkflaschen nach rund 60 Kilometern jetzt leer waren. „Warum habt Ihr auch nur eine Flasche am Rahmen? Für diesen Berg braucht ihr jeder zwei.“ Sprach´s und hielt am Straßenrand. „Kommt mit“, Signor M. ließ sein Rad stehen und ging auf einen Hauseingang zu. Es stellte sich heraus, dass er dort wohnte und Imke, vier Trinkflaschen umarmend, folgte ihm in seine Wohnung. Dort füllte er nicht nur Wasser ab, sondern gab uns isotonischen Sportlermix mit, während er seinem Schwiegersohn erklärte, wir führen um die Welt und er müsse uns den Weg weisen (unterdessen hatten wir ihm die Sache erklärt und eine unserer Dankeskarten überreicht).
Man merkte es ihm deutlich an, auch er war jetzt Teil des Teams, das uns ein Stück „um die Welt“ begleitet. Mit Schwung fuhren wir in die 13%ige Steigung, kreuz und quer durch die engsten Gässchen, die gefährlichste Straße Italiens hakenschlagend vermeidend mit unablässigem italienischem Geplauder. Signor M. fühlte sich am Berg sichtlich wohl. Ja, er habe früher einmal Rennen gefahren, aber nur als Amateur und diese Zeiten seien schon lange vorbei. Aber das sei immer noch seine Hausstrecke und er kenne jeden Meter bis zum Levicosee. Wir sollen auf keinen Fall den Wegweisern nach Madrano folgen. „Ihr müsst nach Pergine, immer nach Pergine, das ist kürzer und ihr spart viele Höhenmeter.“ Dorthin würde es fast immer geradeaus, dann kurz runter, wieder hoch, nochmal hoch und dann wieder nach unten gehen, bevor der Anstieg nach Levico Terme komme. Wir verabschiedeten uns von Signor M., versicherten ihm, er habe uns vor der gefährlichsten Straße Italiens bewahrt und uns dadurch quasi das Leben gerettet, und außerdem wüssten wir jetzt, wer er wirklich wäre, uns könne er nicht täuschen, und dass es uns eine große Ehre gewesen sei, ein paar Meter mit Francesco Moser persönlich gefahren zu sein. Als wir uns so herzlich verabschiedeten, hatten wir vermutlich den glücklichsten Italiener Trentos vor uns stehen. Zum Abschied rief er uns noch einmal nach: „Nicht nach Madrano! Immer Pergine. Pergine!“ Hubert meinte, jetzt könne es ja nicht mehr weit sein, höchstens 50 Höhenmeter etwa, dort könne man ja schon die Anhöhe sehen. In gewisser Weise hatte er damit auch Recht, nur dass hinter jener Anhöhe noch einige weitere Anhöhen folgten, die uns den Rest des Tages bis zum Einbruch der eiskalten Dämmerung beschäftigten.