Altitude Cycle

Gestrandet in der Wüste von Utah

Das erste Mal trafen wir Richard Moseley, als wir uns gerade in der Anfahrt in einen Pass befanden, der aus dem Canyon der Flaming Gorge herausführt. Der längste und bösartigste Anstieg unserer bisherigen Reise bis auf über 2600m. Bösartig, weil wir uns immer wieder 300 Höhenmeter erarbeiteten, um dann 100 Höhenmeter wieder abzufahren. So kurbelten wir uns langsam, zwei Schritt vor, einen zurück, höher und höher, immer wieder einen Blick in die Tiefe werfend auf die leuchtend roten Felsformationen und das Glitzern des Green River. Richard Moseley stand neben seinem Wagen am Straßenrand und rief uns zu: „Hey! Wisst ihr auch genau, was ihr da tut?  It`s a long, long uphill!“ Wir winkten fröhlich zurück ohne anzuhalten. „We know that! We know that!”

Was wir aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, war, unter welchen Umständen wir Richard wiedertreffen würden.

Gerade hatte ich endlich mal wieder auf das große Kettenblatt geschaltet, um in einer kleinen Abfahrt ein wenig mehr Tempo aufzunehmen, als Ralph vor mir eine Vollbremsung erzwang, so dass ich fast in ihn hineingefahren wäre.

„Das gibt es doch nicht! Mein Freilauf ist kaputt! Der Zahnkranz dreht sich plötzlich auch im Freilauf mit!“ rief Ralph erschrocken. Wir parkten unsere Räder im Straßengraben und besahen die Nabe genauer. Die Hinterradnabe hatte einen Totalschaden. Sobald Ralph nicht mehr in die Pedale trat, drehte sich die Kette weiter und drohte, in voller Fahrt in die Speichen zu geraten und das Laufrad zu zerfetzen. Ziemlich gefährlich, unter solchen Umständen vom Pass 1000 Höhenmeter abzufahren. Sobald Ralph nur eine Sekunde lang vergessen würde auch bergab mitzutreten, wäre ein böser Sturz vorprogrammiert.

„Ich fasse es nicht!“ Ralph hätte vor Ärger am liebsten sein Rad in den Graben geschmissen. „Nach nur 5.000km! Und dabei habe ich die Ersatznabe zu Hause liegen!! Ich habe sie nur deshalb für den ersten Teil der Reise nicht mitgenommen, weil ich dachte: Die erste hält mindestens 10.000km.“ Wenn sie kaputt geht, dann wäre es in den USA wohl nicht so schwer eine neue zu beschaffen.

Dachten wir! Wir befanden uns aber in der Wüste von Utah, weit weg von jeder Art von Zivilisation, mitten auf dem Pass.  Wo sollten wir jetzt eine neue Hinterradnabe herbekommen? Wie sollten wir von diesem Pass sicher herunterkommen? Ratlos standen wir am Straßenrand.

Und da trat Richard Moseley zum zweiten Mal auf. Kaum eine Viertelstunde nachdem wir den Defekt bemerkt hatten, parkte er seinen Dienstwagen neben uns, auf der Tür war zu lesen: „Utah Department of Public Safety“. Er stieg aus und fragte uns sofort: „Braucht ihr Hilfe? Habt ihr ein Problem?“ Ein wenig mit den Nerven runter antwortete ihm Ralph: „Wir brauchen Hilfe, und wir haben ein Problem, aber leider können Sie uns wohl kaum helfen, denn ich brauche eine neue Hinterradnabe.“ Richard Moseley fühlte sich durch diesen entmutigten Satz wohl in seiner Ehre gepackt. „Ich bin Fire Marshal des Utah Department of Public Safety. Wartet nur ab, wir werden doch mal sehen, ob ich euch nicht helfen kann. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass euch etwas passiert. We will get you safe down this mountain!“

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Wild entschlossen kehrte er zurück zu seinem Wagen und telefonierte. Seine erste Idee war, einen seiner Kollegen von den Firefightern – mit denen wir ja auch schon tolle Erfahrungen gemacht hatten – herzubestellen, damit er uns in seinem Pickup zum nächsten Ort bringen könnte. Leider waren alle Kollegen aus dem Distrikt auf einer Schulung in Salt Lake City. Doch Richard gab sich so schnell nicht geschlagen und telefonierte die einzelnen Police Stations der Umgebung ab, doch ausgerechnet heute befanden sich alle auf der Beerdigung eines Kollegen, der im Dienst umgekommen war.

Wir hatten noch gar nicht ganz realisiert, was hier passierte, als Richard auf uns zukam und rief: „Dann muss ich eben zu anderen Maßnahmen greifen. Hier für euch erstmal ein paar Muffins. Ihr habt bestimmt Hunger. Ich werde jetzt einen Pickup anhalten, der euch sicher den Pass herunterbringt.“

Sprach´s, zog sich seine beeindruckend feuerrote Warnweste an, auf der „Fire Marshal“ leuchtete und stellte sich mit erhobenen Armen mitten auf den Highway.

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Es traf eine verschüchterte Frau mit ihrer Teenage-Tochter, die ihren Pickup vor Richard, der die Fahrbahn blockierte, zum Stehen bringen mussten. Sie hatten keine Wahl. Ich weiß nicht, ob Richard sie überhaupt gefragt hat. Und dann ging alles ganz schnell – wir luden unsere Räder und die Packtaschen auf den Pickup, Ralph stieg bei den beiden Frauen ein, ich nahm Platz im Wagen des Fire Marshal, und wir fuhren nach Vernal, dem nächsten kleinen Ort am Fuß des Passes.

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Ich war sprachlos und versuchte doch, Richard für diese selbstlose Hilfe in der Not zu danken. Er winkte ab – „Das ist doch selbstverständlich! Probleme sind da, um gelöst zu werden. Wenn mehr Menschen auf der Welt einfach gute Menschen wären und sich gegenseitig helfen würden statt nur herumzureden, dann wäre die Welt eine bessere.“

Es war wie im Film. Ich kann kaum sagen, was mich mehr überrumpelte – dies großartige Erlebnis von Hilfsbereitschaft, wenn man gerade am wenigsten damit rechnet, oder die Schnelligkeit, mit der die grandiose Landschaft jetzt plötzlich am Autofenster an mir vorbeizog. Richard ließ mir aber gar nicht viel Zeit zum Nachdenken, sondern verwickelte mich sofort in ein Gespräch über die Geschichte des Staates Utah und seiner Familie, die zu den ersten Einwanderern der Mormonen zählte. Er erklärte mir seinen besonderen Arbeitsbereich, bei dem er es mit Terrorismusbekämpfung, Bombenentschärfung und dem Umgang mit gefährlichen Materialien wie z.B. Radioaktivität zu tun hat. „Viele Leute haben Angst vor Radioaktivität. Ich finde das einfach nur interessant!“ Er sei oft tagelang in seinem Fahrzeug unterwegs und habe deshalb immer Essen und Trinken für 10 Tage dabei. Jetzt z.B. habe er für die nächsten drei Wochen 24h am Tag das Notfalltelefon, so dass er jederzeit an jeden beliebigen Ort abkommandiert werden könne. Im Moment jedoch waren wir sein Notfall. Zwischendurch rief er seine Frau in Salt Lake City an und beruhigte sie, dass er sich leider um ca. 5h verspäten würde, weil er sich erst um das Wohlergehen zweier deutscher Radfahrer kümmern müsse und sichergehen wolle, dass diese einen guten Ort zum Übernachten und das richtige Ersatzteil für ihr Fahrrad bekommen würden. – Ach ja, Richard ist übrigens auch in Deutschland geboren. Sein Herz schlägt für die Geologie und für die Schönheit der wüstenhaften Landschaft in Utah. „Das hier ist mein Lieblingsstück des Passes. Hier sehe ich oft Berglöwen. Sieh dir diese Felsen an! Ist das nicht wunderschön? Wie wollt ihr eigentlich weiterreisen, ich habe ein paar gute Tipps für euch…“ Richard war nicht zu bremsen und ehe ich´s mich versah, hielten wir in Vernal vor einem kleinen Geschäft namens „Altitude Cycle“. Und hier beginnt der zweite Teil dieser unglaublichen Geschichte.

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Altitude Cycle

Mittlerweile hatten wir herausgefunden, dass sich zu unserem Glück in Vernal der einzige Fahrradladen im Umkreis von 100 Meilen befand. „Altitude Cycle“, geführt von einem Ex-BMX-Weltmeister. Hier luden wir unsere Räder vom Pickup und Ralph begann, mit den Mechanikern sein Problem zu diskutieren. Ich wollte gerade anheben, mich herzlich bei Richard für all seine Hilfe zu bedanken und mich zu verabschieden. Doch Richard Moseley hatte andere Pläne. „Während dein Mann sich um die Reparatur kümmert, könnte ich Dir die Stadt zeigen. In Vernal gibt es ein paar schöne Dinge, die man sich anschauen kann. Und ihr braucht doch sicher etwas zu essen. Ich kann dich mit dem Auto zum Einkaufen fahren, das ist nämlich ein ganzes Stück weit, dann musst du nicht alles mit dem Rad fahren!“

So viel Hilfsbereitschaft konnte ich kaum fassen, und überwältigt nahm ich sein Angebot an. Wir kauften ein und fotografierten den berühmten pinken Dinosaurier von Vernal (das Dinosaur National Monument ist gleich um die Ecke).

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Währenddessen hatte sich herausgestellt, dass Ralphs Nabe nicht zu reparieren war und die Bestellung der neuen sechs Tage dauern würde. Hier in Utah kommen die Ersatzteile halt auch von weit her. Bevor wir jedoch auch nur darüber nachdenken konnten, wo wir in der Zwischenzeit bleiben könnten, oder beginnen konnten, uns darüber zu ärgern, traten Josh und KP auf. Sie sind die Mechaniker und das Herz des einzigen Fahrradladens weit und breit. Josh und KP wohnen gemeinsam hinter dem Laden in einem sehr, sehr kleinen Häuschen. „Ihr könnt doch bei uns bleiben! Stellt euer Zelt bei uns im Backyard auf, da steht es schön windgeschützt und schattig unter unserem großen Baum. Ihr könnt bei uns duschen und unsere Küche benutzen. Wenn ihr unser Auto braucht, hier ist der Schlüssel. Wir freuen uns, dass ihr da seid! Our home is your home.“

So strandeten wir in der Wüste von Utah in Vernal. Normalerweise ist das eine der schlimmsten Situationen für Ralph: Sein Fahrrad ist kaputt, und keine Ersatzfahrrad zur Hand. Nun sitzen wir aber bei Josh und KP auf dem kleinen Stück Gras vor unserem Zelt und sind uns sicher, dass es keinen besseren Ort gibt, um zu stranden und eine kleine Pause einzulegen. Wir können noch immer kaum fassen, was wir gerade erleben und wieviel Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft und Freundlichkeit wir erfahren.

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Josh und KP haben uns wie selbstverständlich in ihr Leben aufgenommen. Die beiden haben nicht viel – ich meine, wirklich nicht viel, denn es gibt z.B. außer ihren zwei keine weiteren Tassen oder Teller. Aber die haben wir ja auch selbst. Das, was die beiden haben, teilen sie mit uns. Wenn ich morgens den Kopf aus dem Zelt stecke, ruft KP: „Imke, bist du wach? Ich habe frischen Kaffee gekocht!“ Ralph findet irgendwo eine Pfanne und macht einen Stapel Pancakes mit Sirup, den wir den beiden in die Werkstatt bringen. Abends zeigt uns KP seine selbstgebastelten Flugzeuge und Josh schneidet Gurken und Tomate aus dem Garten seiner Freundin für uns auf. Wenn es dunkel wird, sitzen wir mit den beiden und dem Mädel von der Brauereibar direkt nebenan um das Lagerfeuer und verbrennen die Paletten, auf denen heute die neuen Mountainbikes angekommen sind. Ralph und ich grillen ein paar große Steaks für alle und erzählen die Geschichten, die wir bisher erlebt haben. Josh wird nachdenklich und meint: „Viele denken oft, die Amerikaner seien alle so egoistisch und würden sich nur um sich selbst kümmern. Ich sage immer: Tu einfach Gutes, und es kommt zu dir zurück.“ KP krault seinen Kater Fritz und schaut in die Flammen: „Ich habe ein schönes Leben. Ich arbeite mit Fahrrädern, und das ist meine Leidenschaft. Ich wohne direkt neben der Brauerei und sitze abends mit Radfahrern aus aller Welt am Lagerfeuer und höre ihre Geschichten. Life is good.“ Im Hintergrund läuft Credence Clearwater, Stones, Doors. Die Sterne funkeln, die Grillen zirpen, und KP wirft die nächste Holzpalette aufs Feuer, dass die Funken stieben.

Ist das ein Traum? Ist das die Welt, wie sie sein sollte?

Was ich sicher weiß, ist dies: Es ist gut, dass Ralphs Hinterrad kaputt gegangen ist. Es ist richtig, dass Firemarshal Richard die Welt verbessern möchte. Es ist ein Geschenk, dass wir bei Josh und KP gestrandet sind. Denn was wir jetzt gerade erleben, das ist es, warum wir unterwegs sind.