9. Januar 2017
Dem Anderen begegnen
“Celui qui voyage sans rencontrer l’autre, ne voyage pas; il se deplace.”
“Jener, der reist ohne dem Anderen zu begegnen, der reist nicht, sondern begibt sich nur an einen anderen Ort.“
Alexandra David Neel
Leider haben wir hier in Marokko wenig Fotos gemacht, die Menschen zeigen, obwohl wir so viele bewegende Erlebnisse mit Menschen am Straßenrand hatten. Das liegt zum einen daran, dass sich die Leute hier nicht gerne fotografieren lassen, wofür wir auch Verständnis haben. Andererseits lässt sich das alltägliche Leben hier in Marokko, das wir vom Fahrradsattel aus sehr unmittelbar erleben und beobachten, auch schwer in Bilder einfangen. Denn oft sind es nur kurze Momentaufnahmen von Szenen, die aber unser Bild vom Land prägen.
Immer wieder sind wir froh, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Nicht nur, weil Fahrradfahren einfach Spaß macht, sondern auch, weil wir Dinge sehen, riechen, schmecken, fühlen, am eigenen Leib erfahren, die wir niemals aus dem Auto heraus wahrnehmen würden. Besonders klar ist uns das auch bei der Lektüre unserer Reiseführer geworden. Meistens sind wir in Gebieten unterwegs, die als „ursprünglich“ bezeichnet werden, was ja zunächst ganz nett klingt, weil man denkt, da erlebe man das „echte Marokko“. Wenn man im beheizten Auto durch ein Dorf fährt und die Berberfrauen mit ihren bunten Kleidern das Feuerholz auf dem Rücken nach Hause tragen, ist das natürlich ein pittoreskes Fotomotiv, auf das das Adjektiv „ursprünglich“ zutrifft. Wenn ich jedoch selbst alle meine Kleidung, die ich dabei habe, am Leib trage und im Graupelschauer bei 0°C frierend über die vereiste Dorfstraße fahre und sehe, wie Kinder auf Socken draußen spielen und Menschen in viel zu dünnen Kleidern an ihre Hauswand gelehnt im Windschatten hocken und auf eine Mitfahrgelegenheit mit dem nächsten LKW warten, dann bekommt die Charakterisierung „ursprünglich“ einen zynischen Beigeschmack.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass „ursprünglich“ in Wirklichkeit „arm“ bedeutet. Wenn wir in den Dörfern im Antiatlas nach Brot oder Wasser gesucht haben und dort über staubige und vermüllte, ungeteerte Straßen ohne Strom und Kanalisation unsere Räder schoben, haben wir die bittere Seite der Ursprünglichkeit gesehen. Das, was Marokko für uns ausmacht, sind nicht die im Reiseführer beschriebenen Fotoattraktionen, sondern das, was wir vom Fahrradsattel aus beobachten und meist nicht fotografieren können.
Wir möchten nicht angewiesen sein auf Fotos und versuchen Euch einige Alltagsbeobachtungen zu schildern. Beim Schreiben merken wir, wie schwierig es ist, die Situationen zu beschreiben und sich dabei nicht in kitschige Klischees zu verheddern. Die Situationen, die wir erinnern, sind nicht kitschig gewesen und wurden von uns auch nicht so empfunden.
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Wir sitzen in Rissani vor unserem heruntergekommenen Hotel und trinken den Morgenkaffee in der Kälte. Gegenüber beginnt die Arbeit auf einer Baustelle. Die Arbeiter, die im Rohbau des Hauses geschlafen haben, mischen Zement mit der Schaufel. Die leeren Papierzementsäcke speisen ein Feuer, das mehr raucht als brennt. Die Arbeiter ziehen ihre Schuhe aus und halten ihre Füße und Schuhe über das Feuerchen. Keiner von ihnen hat Socken an. Bevor die Arbeit wieder beginnt, wickeln sie sich das Papier des Zementsacks um den Fuß als Sockenersatz.
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Das Draatal führt uns nach Norden. Zwischen den Bergketten schlängelt sich eine kleine Oase voller Dattelpalmen wie ein grünes Band durch das Tal. Von Hand angelegte Bewässerungskanäle durchziehen die schattigen Palmenhaine und machen Gemüseanbau möglich. Auf Eseln sind die Menschen unterwegs zu ihren Feldern. Ein sehr altes Ehepaar tritt aus einem kleinen Lehmhaus auf die Straße. Sie rückt noch ihr Kopftuch zurecht, er schnallt sich Hacke und Rechen auf den Gepäckträger seines klapprigen Fahrrades. Kaum merklich, aber doch zärtlich verabschiedet die Frau ihren Mann, der sich auf den Weg zum Feld macht, und winkt ihm hinterher.
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Wir laufen durch die Straßen von Zagora. Es ist schon dunkel und auf den Gassen ist nach Sonnenuntergang immer mehr los. Gerade haben wir den Bericht über die Plastiktütenhirten fertiggeschrieben. Ein kleines Mädchen kommt uns entgegen. Normalerweise sind die kleinen Mädchen und jungen Frauen sehr fasziniert von Imke. Es kommt oft vor, dass die Kleineren dreimal an uns vorbeilaufen und jedesmal verschämt zu Imke rüberschielen. Erst beim dritten oder vierten Mal trauen sie sich dann „Bonjour“ zu sagen und freuen sich riesig, wenn Imke dann ein Gespräch mit ihnen anfängt. Dieses Mädchen, das uns jetzt entgegenkommt, verblüfft uns völlig. Zielstrebig reicht sie jedem von uns mit einem Lächeln eine halbe, bereits geschälte Mandarine. Dann geht sie einfach weiter und dreht sich im Abstand von etwa fünf Metern nochmal zufrieden um. Es ist der 24. Dezember, wir hatten gerade geschrieben: „Fürchtet euch nicht!“
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Am nächsten Tag sind wir auf der Suche nach Brot. Wir fahren die Hauptstraße hinaus aus Zagora und suchen noch etwas zum Essen für den Tag. Am Straßenrand steht der Brotlieferant, der hinten auf seinem Moped die frischen Fladen aufgetürmt hat, die er an die kleinen Lebensmittelläden ausfährt. Brot frisch vom Moped weg, wir freuen uns, dass wir ihn gefunden haben. Als Ralph ihm die drei Dirham reichen will, wehrt er seinen Arm ab, schiebt ihn zu Seite und bedeutet uns: Dies Brot schenke ich euch.
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Schon seit längerer Zeit löst sich Ralphs Fahrradschuh auf. Kurz dachten wir daran, in den USA ein neues Paar Schuhe zu kaufen. Aber warum etwas wegwerfen, das man noch reparieren kann? Wir dachten dabei schon an solche Länder wie Marokko, hier ist das Serviceparadies in puncto Reparaturen. In Taliouline kam der Zeitpunkt dazu. Da sahen wir einen Schuster, der seinen kleinen Stand am Straßenrand aufgebaut hatte. Ralph zeigte ihm seinen kaputten Schuh, und schnell war klar, was wir wollten. Der Schuster bedeutete Ralph höflich, sich doch zu setzen. Während der Wartezeit erhielt Ralph einen hübschen Mietschuh, eine wundervolle weiße Damensandale. Andächtig sahen wir zu, wie der Schuh erst genäht, dann geklebt wurde, dann hämmerte der Schuhmacher bestimmt zehn kleine Nägelchen in Ralphs Sohle, und zum Schluss polierte er den Fahrradschuh noch auf Hochglanz. Er konnte es nur nicht verstehen, dass er Ralphs zweiten Schuh nicht auch noch putzen sollte, denn der hätte es sehr nötig, wie er uns unmissverständlich durch Zeichen klarmachte. Bevor er das Geld für seine Arbeit annahm, teilte er sich mit Ralph erst einmal eine Mandarine. Er genoss sichtlich die zusätzliche Aufmerksamkeit der Dorfbewohner, die es amüsant fanden, dass der Tourist in der Damensandale am Straßenrand beim Schuster saß.
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In der Wüste: Ein Auto hält vor uns. Ein Mann in Uniform steigt aus – kein Polizist, die Uniformen kennen wir unterdessen. Kurz denke ich an fingierte Ordnungshüter, die Touristen abkassieren, und schäme mich gleich darauf sehr für diesen Gedanken. Ob wir genügend Wasser hätten oder sonst etwas bräuchten, fragt der etwa 20-Jährige. Obwohl wir versichern, dass wir alles Nötige haben, schenkt er uns seinen gesamten Wasservorrat, immerhin zwei große Flaschen. Dann zeigt er stolz auf seine Abzeichen und erklärt uns, dass er Feuerwehrmann sei. Ah, Feuerwehrmann! Damit gesellt er sich zu den vielen anderen netten Helden, mit denen wir schon so gute Erfahrungen gemacht haben. Er aber wollte noch eins draufsetzen: Nachdem wir uns schon bedankt und verabschiedet haben, sehen wir ihn nach einigen Kilometern wieder am Straßenrand stehen und irgendetwas auf seiner Motorhaube hantieren. Hatte er eine Panne? Er winkt uns gestikulierend heran. „Hab ich ganz vergessen! Hier, nehmt! Als Stärkung für den Weg!“ Auf seiner Motorhaube steht ein Pappkarton voller Kekse. Keine Kekse aus dem Kilosack, wie wir sie während der Fahrt essen. Es sind die teuren Kekse aus der Konditorei. Er sucht rund ein Dutzend aus und schlägt sie vorsichtig in eine Zeitungsseite ein. Auch von ihm hören wir das uns schon sehr vertraute: „Bienvenue au Maroc“.
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Irgendwo zwischen Tazzarine und Alnif. Wir müssen von der Straße auf eine Piste abbiegen, die zu einem weiter entfernten Dorf führt. Wir brauchen Wasser und an der Nationalstraße gibt es keine Siedlungen. Hier in Mercissi kommen bestimmt sehr selten Fremde vorbei. Jedenfalls ist die Verwirrung und das Staunen über uns groß. Niemand spricht Französisch und wir bisher immer noch kein Arabisch. „Wasser“ und Brot“, „Bitte“, „Danke“ usw. können wir allerdings mittlerweile sagen. Leider kann uns niemand weiterhelfen, denn entweder gibt es gar keinen Laden, oder er hat geschlossen, das finden wir nicht heraus. Etwas hilflos stehen wir auf der Dorfstraße, die Menschenansammlung, die immer größer wird, weiß auch nicht, wie sie uns weiterhelfen soll. Schließlich bedeutet uns ein kleiner Junge auf seinem Fahrrad ihm zu folgen, führt uns um ein paar Ecken, und siehe da – plötzlich stehen wir doch vor einem Lebensmittelladen. Eigentlich die einzige Attraktion in diesem lehmfarbenen Dorf – außer uns natürlich, wir scheinen hier wie ein Wanderzirkus zu sein. Die inzwischen größer gewordene Menschenansammlung folgt uns jeden Meter. Da kommt ein Mann auf einem Moped vorbei, der Französisch spricht und uns fragt, ob wir Hilfe brauchen. Nein, wir haben ja nun gefunden, was wir brauchen, antwortet Ralph, aber ihn würde interessieren, wo er arbeitet. Woher diese Frage kam, weiß Ralph selbst nicht mehr, eine momentane Verlegenheit. Doch diese Frage stellte sich als genau die richtige heraus. Den ganzen Tag lang schon hatten wir in der Wüste, durch die wir fuhren, immer wieder Steinaufschüttungen und Stollen beobachtet und uns gefragt, was denn hier abgebaut würde. Immer wieder lasen wir Wegweiser zu nahe gelegenen kleinen Minen. Nun erfuhren wir wieso: die Gegend um Alnif ist bekannt für seine häufigen Fossilien. Die Menschen hier suchen nicht nur nach den Fossilien, sondern auch nach Kristallen, die in den Rissen der Gesteinsschichten zu finden sind. Viele Familien versuchen auf eigene Faust, Kristalle abzubauen und mit deren Verkauf ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ralph hatte durch seine interessierte Frage sofort einen neuen Freund gewonnen, der ihn gleich zu sich nach Hause mitnahm, um ihm seine in der vergangenen Woche abgebauten Kristalle zu zeigen. Ich blieb zurück mit der Gruppe der Dorfbewohner, die mittlerweile einen Halbkreis um mich und unsere Fahrräder gebildet hatten und mich erwartungsvoll ansahen. Nach einer gefühlt sehr langen Zeit hilflosen Lächelns wurde mir klar, dass ich irgendetwas unternehmen musste. So begann ich, die Geschichte unseres Unterwegsseins pantomimisch als Straßentheater aufzuführen. Wir fahren mit dem Fahrrad durch Marokko und kommen aus Deutschland (auf die Fahnen hinweisen). Ich spielte den Inhalt unserer Satteltaschen vor: In dieser Satteltasche ist unsere Kleidung gegen die Kälte (Arme um den Körper legen, auf und ab hüpfen, bibbern), hier ist das Essen (frisch gekauftes Brot zeigen), hier das Werkzeug (an den Pedalen rütteln, imaginären Schraubenzieher ansetzen). Dort befindet sich das Zelt (Hände zum Dreieck aufstellen), hier die Schlafsäcke (Hände unter dem Kopf falten und schnarchen). Stets wechselte der Gesichtsausdruck meines Publikums von Stirnrunzeln (Was will sie jetzt wohl sagen? Versteh ich nicht!) über Augen aufreißen und eifrig mit dem Kopf nicken (Jetzt kapiere ich!) zu applaudierendem Lachen. Als Ralph mit dem Minenarbeiter zurückkam, traf er auf eine höchst konzentrierte und, ich vermute, auch gut unterhaltene Zuschauergruppe vom kleinen Jungen bis zum Dorfopa, und ich war stolz, denn immerhin konnte ich mit der weltberühmten Geschichtenerzählertradition des arabischen Kulturkreises konkurrieren.
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Schon von Weitem sehen wir die aufgewirbelten Staubfahnen und hören das überzüchtete Kreischen der Motoren. Dann erreichen wir die Straßensperre. Vor uns überquert die Rallye Afrika die einsame Straße. Man erklärt uns, das sei die alte „Paris – Dakar“. Direkt vor uns ist ein französisches Team liegengeblieben, Auto kaputt. Der Begleithelikopter knattert über unseren Köpfen und filmt. Die zwei Piloten hängen an ihren Handys und versuchen, die Reparatur zu organisieren. Zuschauer an der Strecke gibt es hier in der offenen Wüste natürlich nicht. Wir und die Rallye. Ralph ist gut drauf, sein Knie tut heute nicht weh. Die Tagesetappe ist kurz und er hat viel zu viel Energie übrig. Ohne Rücksicht auf die Notlage der beiden Rallyefahrer biegt Ralph von der Straße ab, parkt sein Fahrrad neben dem defekten Rennwagen und labert die beiden, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, total zu. Er erklärt erstmal, dass die echte Rallye Paris – Dakar ja mittlerweile durch Südamerika über die Anden, genauer über den Paso San Francisco führe und er die „richtige“ Strecke mit dem Fahrrad gefahren sei. Die zwei Franzosen hören unbegreiflicherweise sehr höflich zu. Denn die Botschaft ist klar und bleibt doch unausgesprochen: Schaut Euch mal den ganzen lächerlichen Firlefanz an, den ihr hier betreibt. Wir fahren das mit dem Fahrrad!
Ich beobachte das Zusammentreffen von der Straßensperre aus, wo zwei Polizisten den außer uns nicht vorhandenen Verkehr für die anderen vorbeistaubenden Rallyeteams anhalten. Ich erzähle ihnen, unterbrochen durch das Kreischen der Rennmotoren, dass wir seit vier Wochen mit dem Fahrrad in Marokko unterwegs seien und nur nette Erfahrungen mit hilfsbereiten Gendarmen gemacht hätten und frage, ob ich ein Foto von ihnen machen dürfe. Der Jüngere freut sich über meine Lobesansprache und ist dazu auch sofort bereit. Der Ältere jedoch erklärt mir, dass das leider verboten sei. Wusste ich natürlich schon, war auch eine etwas mutige Anfrage. Es ist deutlich zu merken, dass es dem älteren Herrn jedoch sehr unangenehm ist, meine Bitte abweisen zu müssen. So bietet er mir von einem im Straßenstaub stehenden Tablett eine Tasse Tee an, der eigentlich für sie selbst vorgesehen war: „Verzeihen Sie, Madame! Herzlich Willkommen in Marokko, Madame!“
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Wie geht es weiter?
Wir sitzen jetzt gerade in Merzouga mitten in den Sanddünen der Sahara und überlegen gleichzeitig, wie es weiter geht. Wir kommen am 13. Januar nach Hause, zwei Wochen früher als geplant. Von Biberach aus wollen wir uns dann Anfang Februar auf den Weg zu „unserer“ Schule in Indien machen, immer nach Osten. Zunächst einmal planen wir über die Alpen nach Venedig zu fahren und hatten dann eigentlich vor, das Schiff in die Türkei zu nehmen.
Mit dem Schiff von Venedig kommend, würden wir in Bodrum an der türkischen Westküste an Land gehen und dann die Türkei ihrer gesamten Länge nach durchfahren. Die Türkei ist ein großes und ein bergiges Land. Wir hatten sechs Wochen dafür vorgesehen, denn wir wollten abseits der ausgetretenen Tourismuspfade nicht an der Küste entlang fahren, sondern durch das bergige Hochland des Landesinneren. Dort würden wir gleich zu Beginn, im März, auf 1000 Meter Höhe steigen und am Ende, ganz im Osten, nördlich des Van-Sees müssten wir dann noch einmal einen Pass mit 2900 Metern Höhe überqueren. Es würde also mal wieder sehr bergig und sehr kalt werden. Wir waren vorbereitet. Wir freuten uns auf die Begegnungen mit den Türken und hatten allen Grund dazu. Wir würden auf viele Einheimische treffen, die Deutschland aus eigener Erfahrung oder aus den Berichten irgendwelcher Familienmitglieder kennen, die in den 50er Jahren als Gastarbeiter dorthin zogen. Gastfreundschaft würde uns immer wieder begegnen, das konnten wir schon jetzt mit Bestimmtheit sagen. Wir hatten schon Telefonnummern in unseren Lenkertaschen von Familien, die wir dort besuchen sollten. Wir waren gespannt auf die Türkei und freuten uns auf dieses Land. Und heute trauerten wir um die Türkei. Warum?
Mit dem Fahrrad um die Welt zu reisen erfordert nicht nur sich um den jeweils vor einem liegenden Tag zu kümmern. Es erfordert nicht nur in die Pedale zu treten und die Distanzen körperlich zu bewältigen. Dies haben wir ja immer wieder in den bisherigen Berichten beschrieben. Neben alledem überrascht uns die große Menge Zeit und Energie, die die Gesamtorganisation der Reise erfordert. Wir werden dabei immer wieder gezwungen weit voraus zu denken und immer mehrere Länder parallel im Blick zu haben. Kaum können wir uns auf schon gemachte Erfahrungen anderer verlassen. Es gibt zwar eine kleine, gut vernetzte Gemeinschaft von Weltradlern. Die machen aber alle ihr eigenes Ding und kaum einer fährt genau dieselbe Strecke wie wir. Das ist auch gar nicht möglich, denn der jeweilige Plan muss fast täglich den Verhältnissen angepasst werden. So ist das auch jetzt bei uns. Wir haben natürlich eine Route, die wir gerne verfolgen würden. Die findet Ihr ja auch hier auf der Homepage unter dem Navigationsreiter „geplante Route“. Dort könnt Ihr Straßenkreuzung für Straßenkreuzung sehen, was wir GPLANT haben. Allerdings sind wir schon jetzt immer wieder von diesem Plan abgewichen – und das war klug so.
Und so kommt es, dass wir heute Morgen beim Kaffee an der staubigen Dorfstraße von Merzouga sitzen und die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes lesen. Das ist eine regelmäßige Pflichtlektüre für uns. Seit spätestens zwei Jahren verfolgen wir aufmerksam und sorgenvoll die politischen Entwicklungen in der Türkei. Es sieht nicht gut aus und es wird im Jahr 2017 nicht besser werden, davon sind wir leider überzeugt. Eigentlich planen wir in sechs Wochen schon in die Türkei einzureisen. Wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Das Auswärtige Amt zählt rund ein Dutzend Provinzen im Osten des Landes auf und empfiehlt: „alle nicht zwingend erforderlichen Reisen in diese Gebiete sollten vermieden werden.“ Rund die Hälfte dieser Provinzen liegt auf unserer geplanten Route. Wir wissen natürlich, dass das Auswärtige Amt sehr vorsichtig ist und eher zu viel als zu wenig warnt. Aber diese Formulierung ist in dieser Eindeutigkeit eher selten zu lesen. Wir sind uns also, der Kaffee ist noch nicht ausgetrunken, einig, dass wir die Türkei von unserer Länderliste streichen müssen. Diese Entscheidung hat sich schon länger angekündigt. Wir verfolgten in den letzten Monaten jeden Zeitungsartikel, jede Nachrichtensendung zur Türkei mit gemischten Gefühlen. Wir wussten schon seit längerer Zeit, dass wir unseren Plan ändern müssen. Heute Morgen haben wir die Entscheidung gefällt und darum trauern wir besonders heute um die Türkei.
Die Eine oder der Andere mag jetzt vielleicht erleichtert sagen: „Gott sei Dank, sie sind doch nicht so irre, darauf zu beharren durch die Türkei zu fahren.“ Dann gleich der nächste Gedanke: „Welchen debilen Weg werden sie wohl finden, um die Türkei zu umfahren?“ „Donauradweg?“; „Doch etwa nicht über Radio Eriwan?“ Wir haben uns noch nicht entschieden. Habt Ihr einen guten Vorschlag für uns? Schreibt uns doch Eure Ideen. Vorher solltet Ihr allerdings einige Infos zu folgenden Themen berücksichtigen. Auch auf diese Weise lernt man ganz gut die Welt kennen: Klimatabellen, politische Systeme, Geographie, Straßenverkehr, militärische Sperrgebiete, Wüsten, Besiedlung, ethnische Gruppen, Wohlstands- bzw. Armutsniveau, Versorgungslage mit Lebensmitteln, landesübliche Infektionskrankheiten, lästige Tiere, touristische Infrastruktur, störende Gebirge, jahreszeitlich bedingte Unbefahrbarkeit der Pässe, Straßenzustand, medizinische Infrastruktur, Sprachen, landesübliche Trinkgewohnheiten und so weiter und so fort. Das alles zu berücksichtigen ist nicht unserer Oberlehrerhaftigkeit geschuldet. Die Erfahrung spricht daraus, denn mit jedem dieser Themen hatten wir schon ziemlich kuriose Erfahrungen gemacht – und so wurde die Liste länger und länger. Wir sitzen also beim Morgenkaffee in Merzouga, nennen neue Länder und stricken neue Pläne, während die Sonne im Osten den Rand der riesigen Sanddünen erklettert hat und die staubige Wüste mit orangem Licht flutet. Dorthin, immer nach Osten werden wir weiterfahren. Es wird einen Weg für uns geben, auch wenn wir ihn noch nicht kennen. Und wie ich hier mir angewöhnt habe hinzuzufügen: Inshallah, „so Gott will“, nicht fatalistisch, sondern demütig: „Ich hab es nicht in der Hand“.
25. Dezember 2016
Bei den Plastiktütenhirten
Schaut Euch doch mal die Hirten an! Sie haben recht wenig gemeinsam mit dem idyllischen Bild des Schäfers, der auf seinen Stab gestützt in seinem gewachsten Mantel zwischen Wachholderbüschen der Schwäbischen Alb steht, umringt von wollig wohlig genährten Schafen. Diese Hirten hier haben Plastiktüten in der Hand, darin befindet sich alles, was sie hier oben zum Überleben haben. Sie sind dreckig, teils in beduinische Tücher gehüllt, teils versorgt mit billigen Bayern-München Sweatern aus deutschen Altkleidersammlungen. Die Herden sind erbärmlich unterernährt, kaum Fleisch auf den Rippen und für unser Auge gibt es weit und breit kein Grün, das die Ziegen fetter machen würde. Diese Hirten hier dürfen nicht am Rand der Dörfer die Tiere hüten, sie werden mit ihren Herden hoch hinaus in die Berge geschickt, da wo keine Äcker mehr sind, weil es zu karg ist. Hier, wo nur noch Steine wachsen und der Wind so kalt pfeift wie in einer vorweihnachtlichen Fußgängerzone, hier wo bis zum Horizont auch hinter der siebten Hügelkette keine Ansiedlung mehr ist, hier hausen die Hirten. Wobei „hausen“ die Vorstellung von ihrem Dahinvegetieren in eine falsche Richtung lenkt, denn ein Haus gibt es hier nicht; auch keine Wellblechlehmhütte, auch keinen Unterstand. Sie haben ein Stück Plastikplane und eine dünne Decke.
Schaut Euch doch mal die Hirten an! Wir haben das in den letzten Tagen sehr ausführlich getan. Nicht aus romantischer Ader heraus oder weil wir auf der Suche nach idyllischen Fotomotiven waren – die Armut ist hier zu hässlich und dreckig, als dass sie auf Fotos idyllisch aussehen würde. Vielleicht auch deswegen lassen sie sich nicht gerne fotographieren. Wir wollten nach Osten und mit dem Fahrrad die Hauptverkehrsadern vermeiden. Die Hauptstraße wäre 50 Kilometer nördlich durch das große Tal nach Osten gezogen. Wir hier erkletterten jeden Hügel und jeden Pass längs, nicht quer, über den Antiatlas. Auf diesen abgelegensten Sträßchen begegneten uns vorwiegend Hirten. Wir hatten also genug Zeit uns mit deren Lebensbedingungen vertraut zu machen. Wir froren, wir mühten uns mit dem Schnee ab, wir suchten uns in den Steinen einen Schlafplatz.
Worauf will ich hinaus, jetzt zu Weihnachten? Nein, ich will Euch keine idyllische Weihnachtsmeditation unterjubeln. In dieser menschenfernen Isolation bei den Hirten hatte ich die ganze Zeit bestes Handynetz und habe dank günstiger Surftarife von Maroc Telecom das Weltgeschehen aus der Perspektive der Hirten betrachtet. Es war schon absurd, hier vom Rand der Welt neben den Plastiktütenhirten die Berichterstattung über die Amokfahrt auf dem Berliner Weihnachtsmarkt zu verfolgen, die Twitterbotschaften des zukünftigen amerikanischen Präsidenten, die Rezepte für „mal ein ganz anderes“ Weihnachtsmenü, Trainerwechsel in der Bundesliga, und welche Kinofilme sich über die Feiertage „lohnen“. Dazwischen immer wieder Kommentare, Reaktionen, Analysen zum Terror im Speziellen und zum deprimierenden Weltgeschehen im Allgemeinen. Meine Reaktion darauf befremdete mich. Ich empfand fast alles, was ich da hörte, las und sah, als hysterisch, überdreht, kreischend. Waren diese durch die Medien vermittelten Reaktionen schon immer so hyperventilierend und schrill? Waren wir schon so lange weg aus dieser Welt, dass uns die eigene Heimat fremd geworden war? So sehr ich auch in mich hineinhörte, ich fand es schrecklich, dass jemand Menschen tötet, zumal in meiner Heimat, ich konnte aber diese Weltuntergangshysterie nicht verstehen, die sich über die Medien ausbreitete. Ich hätte gerne angerufen und gefragt, was die Einzelnen dazu denken, vielleicht hätte das dieses Bild, das ich bekam, relativiert. Aber so war ich vor allem befremdet hier bei den Hirten am Rand der Welt. Da kam mir in den Sinn, wie alles umwertend und umstürzlerisch es sein müsste, das Weltgeschehen aus der Perspektive der Hirten zu erzählen. Könnte das nicht heilsam sein für die Hysterie derjenigen, die immer im Rampenlicht stehen und sich dabei ständig selber betrachten müssen? Könnte das nicht einige Ängste zurechtrücken, derer, die gewohnt sind die Welt vom vermeintlichen Zentrum her zu denken und nicht vom Rand her zu betrachten? Wäre das nicht manchmal hilfreich, das Geplärr und Geschrei und das Gedudel abzustellen und für einige Zeit in einer Steinwüste mit einer Plastiktüte zu stehen? Was würde das nicht alles an unserer Sicht der Dinge ändern, wenn wir ein paar Tage mit den Hirten in der Kälte sitzen würden? Es ist schon ein genialer Plan der Weihnachtsgeschichte, das Zentrum des Weltgeschehens für ganz kurze Zeit zu den Hirten zu verlegen.
Wenn man dann aus dem Zentrum der Hysterie heraus kommt und am Rand bei den Hirten Platz genommen hat, wenn der Aufregungs-Tinitus abgeklungen ist, dann kann man vielleicht wieder das eigene Bild von der Welt zurechtrücken. Was ist unser Bild? Das haben wir uns in Vorbereitung auf Weihnachten gefragt. Hier im muslimischen Land, in dem uns nichts an Weihnachten erinnert und uns aber auch keine Weihnachtskonsummaschinerie ablenkt, hatten wir Zeit über unser Bild von diesem Fest nachzudenken. Wir haben dazu Rückblick gehalten, die Ereignisse unserer bisherigen Reise an uns vorbeiziehen lassen. Wir haben unsere Berichte noch einmal gelesen und auch die vielen Emails, voll von Unterstützung und herzlicher Verbundenheit von Euch zu Hause. Vor dem Hintergrund der Angst- und Katastrophenberichterstattung, neben düsteren Jahresrückblicken und angesichts pessimistischer Ausblicke auf das Jahr 2017 drängt es uns zu widersprechen. Das ist nicht das Bild der Welt, wie es sich für uns darstellt. Uns ist aufgefallen, dass wir immer wieder von Begebenheiten berichtet haben, die hauptsächlich eine Kernaussage haben: „Fürchtet Euch nicht!“ Wir sind, und das ist unsere Jahresbilanz, so herzlich begleitet worden, von Euch Freunden, aber auch von wildfremden Menschen. Uns wurde geholfen, wir wurden beherbergt, man hat uns freundlich angefeuert, uns zugewinkt und angelächelt. Besonders hier in Marokko sind uns die muslimischen Menschen über die Maßen freundlich begegnet.
Monsieur Achmed zum Beispiel, der mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern auf dem Wochenmarkt war, sah uns im Straßengraben sitzen beim Picknick im Windschatten hinter Felsen. Er hielt für uns an, stieg aus und lobte unsere Klugheit der Wahl des Picknickplatzes. Dann ging er zu seinem Kofferraum und schenkte uns von allem, was er eingekauft hatte, mindestens eine Handvoll. Das war neben Orangen, Zitronen, Rettich und Brot auch Gerste, aber er wollte uns nicht ohne zwei Hände voll dieser Gerste zurücklassen. Dann schrieb er uns noch seine Telefonnummer auf, man wisse ja nie, vielleicht könnten wir ja noch seine Hilfe brauchen. Er umarmte mich zur Verabschiedung wie einen Freund, küsste mich auf beide Backen, Imke gab er höflich die Hand und hieß uns zum Abschied in Marokko willkommen: „Bienvenue au Maroc!“ Dann fuhr er weiter.
Was will ich sagen, indem ich hier diese kurze Begegnung am Straßenrand schildere? Wir wurden vor unserer Losfahrt in Biberach von vielen Menschen gefragt, ob wir keine Angst hätten da draußen in der gefährlichen Welt so allein unter Fremden. Wir sind keine furchtlosen Gesellen und wir sind uns der Gefahren bewusst, denen wir uns aussetzen. Weil wir immer hautnah dran sind, haben wir auch gar keine verklärende Sicht auf die Bedingungen unter denen wir reisen und wir haben auch keine verkitschten Ansichten dazu. Wir wären allerdings nicht auf unsere Reise aufgebrochen, wenn wir nicht auch die Stimme der Geschichten deutlich hörten, die etwas leiser aber bestimmt uns auffordern: „Fürchtet Euch nicht!“ Wir sind nicht die Engel der Weihnachtsgeschichte. Wir sind nicht die Hirten. Aber wir haben das Glück, dass uns diese Geschichten begegnen und wir davon berichten können. Also, schaut Euch doch mal die Hirten an, es gibt eine ganze Menge Menschen und Ereignisse, die einem gute Gründe liefern, sich etwas weniger zu fürchten und etwas gelassener zu sein. Das schließt bitte aber auch harte Kritik am Zustand der Welt sehr wohl ein. Lasst Euch nicht hartherzig machen, von einem pessimistischen Weltbild. Rückt das Bild zurecht, vielleicht mithilfe der Plastiktütenhirten.
Musik: on the move / von Dag Reinbott / http://www.terrasound.de
16. Dezember 2016
Über den Hohen Atlas
Den ganzen Tag schon befanden wir uns in der Steigung zum Tizi-n-Test, dem Pass, der uns über den Hohen Atlas führen sollte. Den ganzen Tag schon waren wir mit unseren Gedanken allein und arbeiteten uns Serpentine um Serpentine höher. Jetzt aber fiel mir die Email ein, die mir meine Mutter gestern geschrieben hatte. Sie endete mit dem unvermittelten Hinweis, wir sollten Nachtfahrten in Marokko unbedingt vermeiden. Ich lächelte in mich hinein. Zuerst war ich überrascht, dann aber wusste ich gleich woher sie diese Idee hatte. Auch Mütter, besonders besorgte Mütter, googeln im Internet. Sie zitierte die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes für Marokko: „Nachtfahrten sollten vermieden werden. Auch auf Autobahnen ist mit Fußgängern und Tieren zu rechnen.“ Völlig abwegig, als ob wir mit dem Fahrrad vorhätten nachts zu fahren – Mütter eben und ihre Sorgen. Schmerzlich wurde ich wieder daran erinnert, dass mein Nabendynamo seit Death Valley kaputt ist. Ich hatte ja noch nicht einmal Licht am Rad. Den sollte ich bei SON in Tübingen im Februar reparieren lassen, muss ich einen Termin abmachen. Was einem alles durch den Kopf geht, wenn man den ganzen Tag so vor sich hinfährt. Stream of Consciousness. Ab und zu kam die Außenwelt kurz vor in den Gedanken, dann wieder erschien es mir, als könne ich stundenlang auf Autopilot fahren. Irgendetwas hatte mich allerdings abgelenkt von meinem heutigen Lieblingsgedanken. Der war nämlich heute vor allem Selbstmitleid. Zum ersten Mal in meinem nicht unwesentlich durch das Fahrradfahren bestimmten Leben tat mir mein Knie (ein bisschen) weh. Was hatte mich abgelenkt? Auf den Pfützen in den Schlaglöchern bildete sich schon eine Eisschicht. Ich fror, während ich gleichzeitig schwitzte. Seltsam, dass es beim Pässefahren nur eine hauchdünne Temperaturzone gibt, in der man nicht entweder friert oder schwitzt. Gerade eben war es noch zu heiß gewesen. Jetzt hatten wir unter Null Grad. Das lag sicher daran, dass es unterdessen dämmerte, die Sonne war schon länger hinter den Gipfeln verschwunden. „Nachtfahrten unbedingt vermeiden!“ Natürlich, das war es. Dies würde vermutlich eine Nachtfahrt werden. Weit und breit gab es keine Möglichkeit an diesen felsigen, steilen Hängen das Zelt aufzustellen. Wir hatten, vermutlich durch zu viel Routine, die irre Idee die 120 km über den 2100m hohen Tizi-n-Test in einem Rutsch durchzufahren, um dann in der nächsten Ortschaft eine Unterkunft zu suchen. Das war aber schon zu Beginn des Tages durch die vielen Teilabfahrten und die dadurch sich summierenden extra Höhenmeter als bescheuerte Idee entlarvt worden.
Unterdessen standen auf der Tagesanzeige des Fahrradcomputers 1600 schon gefahrene Höhenmeter. Wir waren zwar unterdessen auf 2000 Metern Höhe angelangt, da vorne gab es aber schon wieder eine kurze Abfahrt und dann bog die Straße an der Horizontlinie um den Felsvorsprung. Dort war auch keine Passhöhe zu erkennen. Wir bauten jetzt unsere ganze Zuversicht auf die vage Aussage, es gäbe auf der Passhöhe ein einfaches Café und da könne man auch „zur Not“ übernachten. Die Straße war in der vergangenen Stunde wesentlich schlechter geworden. Zum Teil hatte sich der Asphalt durch Sturzbäche, die über die Straße flossen ganz aufgelöst und in Schlaglochmatsch verwandelt. Zum Teil lagen größere Blöcke von Felsstürzen auf der Fahrbahn. Immer wieder hörten wir Steinschläge fallen und rechts gleich neben der Straße fiel die Schlucht ohne Begrenzung steil ab. An solche Gefahren hat das Auswärtige Amt sicher nicht gedacht mit seinem Nachtfahrtenhinweis. Verkehr gibt es hier praktisch keinen. Zwei, drei Autos und ein Lastwagen haben uns wohl pro Stunde im Lauf des Tages passiert. In der vergangen Stunde waren wir niemandem mehr begegnet. Besiedlung gibt es in dieser Höhe kaum mehr. Die wenigen Lehmhäuser kleben so unauffällig weit abseits der Straße an den Felsen, dass wir sie meist nur durch Zufall entdeckten. Zwei Schulkinder begleiteten uns mit ihren Fahrrädern fast zwei Stunden zur Mittagszeit. Dann machten wir Pause. Später am Tag pfiff es zu uns herüber, irgendwie wussten wir, dass wir gemeint waren. Die zwei schoben ihre Räder auf der anderen Seite des Tals einen halsbrecherischen Fußweg bergan zu einer völlig abgelegenen Siedlung. Sie ruderten wie wild mit den Armen, „hier wohnen wir, wir kennen Euch“ sollte das wohl heißen. Wir pfiffen zurück.
Jetzt aber waren wir allein und die Nacht und die Kälte holte uns ein. Endlich, kurz bevor unser Ritt tatsächlich zu einer Nachtfahrt werden würde, zeichnete sich an der Kammlinie ein viereckiges Gebäude ab. War dies das besagte Café? Eine witzige Vorstellung, diesen Bau so zu bezeichnen. Aber wir waren froh. Die Passhöhe war gerade bei Einbruch der Nacht erreicht und gleich würde sich herausstellen, ob wir hier auch einen Schlafplatz finden würden. Aiman und sein Freund begrüßten uns schon vor dem Haus. Dort stand ein alter Renault, dessen Radio auf voller Lautstärke Disko simulierte. Die beiden rauchten, was „anständige“ Araber natürlich nicht tun, so wurde uns gesagt. Aber kein Problem, die Araber seien die anderen, sie hingegen seien Berber und ließen keinen Zweifel daran, dass dies natürlich das bessere der beiden Schicksale sei. Jetzt erstmal war großes Willkommen und Preisverhandeln bezüglich Übernachtung. Wir waren in einer offensichtlich schlechten Position, denn eine Alternative gab es für uns nicht. Man einigte sich und Aiman kündigte an, heute Abend für uns zu kochen. Wir waren skeptisch, trauten wir ihm doch einiges zu, nicht allerdings Küchenarbeit. Unser Zimmer war so kalt und feucht wie die überfrorenen Schlaglochpfützen.
Kein Wunder, dass wir nicht nur heute Abend die einzigen Gäste waren, sondern auch sonst hier nicht zu viel Publikum vorbeizukommen schien. Die restliche Herberge bestand aus einem Raum, der gleichzeitig Sofaecke, Tresen, Küche und offene Feuerstelle war. Der Teekessel war praktischerweise in den Kamin eingemauert, so dass man über einen kleinen Messinghahn immer heißes Wasser hatte. Und das war gut so, denn kalt war es drinnen wie draußen, kein Wunder, denn die Bude hatte keine Türen. Die dafür vorgesehenen Löcher in der Wand des Raumes gähnten schwarz in die Dunkelheit der Passhöhe und das Heulen des Windes war jetzt die Hintergrundmusik, denn die Batterie des Renault war wohl am Ende. Strom? Gab es natürlich keinen und so saßen wir beim schummerigen Licht einer Kerze, als die erste Gestalt in Kampfanzug grußlos aus der Dunkelheit in den Raum trat. Es folgten drei weitere gewiss nicht der offiziellen Staatsmacht angehörige Kampfanzugtypen, denn die zerfetzten Hoheitsabzeichen an den Ärmeln waren spanisch. Die Frage, was es wohl zum Abendessen geben würde, mit der sich meine Gedanken gerade noch beschäftigt hatten, trat jetzt ganz plötzlich in den Hintergrund. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich den beeindruckenden Patronengürtel des Anführers und dessen Gewehr, das neben ihm an der Wand lehnte. Nachtfahrten vermeiden, na Klasse, da fragte ich mich jetzt, ob es nicht besser gewesen wäre einfach weiter zu fahren anstatt hier mit einer Truppe Guerillieros am Kamin zu sitzen.
Aimans Freund baute sich neben mir währenddessen in aller Ruhe einen Joint aus einer Filterzigarette und war offensichtlich der einzig Gutgelaunte hier im Raum. Dass eine Gesprächspause nach einiger Zeit peinlich werden kann, sagt man so leicht dahin. Diese Situation war unterdessen schon längst der Inbegriff einer bedrückend wirkenden Gesprächsabwesenheit. Ich suchte nach einem Ausweg. Schneller als ich dachte, war jetzt also die Situation gekommen, alle drei Worte der Berbersprache Tamazigh auszuprobieren, die mein Nebensitzer mir vor einer halben Stunde beizubringen versuchte. Dabei hatte ich keine Ahnung, was ich gleich sagen würde, denn Französisch ist zwar offizielle erste Fremdsprache in den Schulen Marokkos, die Landbevölkerung spricht aber in der Regel nur arabisch ober eben einen der Berbersprachendialekte. Auch Aimans Freund war zwar in meinem Fall begeisterter Tamazigh-Lehrer, konnte mir aber nur andeutungsweise bedeuten, was ich da nachsprach. Ich versuchte darum umso mehr Nachdruck hineinzulegen in das, was ich da in die in die dunkle Stille auf gut Glück hineinsagte. Selten hatte ich als Schüler einen so großen Lernerfolg verspürt. Ich erntete großes Lachen und viel unverständliche Antwort von der ganzen Runde und Schulterklopfen vom Patronengürtelmann. Plötzlich fingen alle an auf Tamazight auf uns einzureden. Einzelne Worte Französisch waren sogar auch dabei. Plötzlich war lustige Runde und mein Nebensitzer, den ich den anderen als meinen professeur vorstellte, lehnte sich stolz zurück und begann breit grinsend sein Zigarettchen zu rauchen. Später erfuhr ich, dass ich mich für die sehr unpassende Verabschiedung: „Na dann gute Nacht!“ entschieden hatte.
Radfahren in Marokko
Nach sechs Tagen harter Bergetappen sind wir in Tafraoute im Antiatlas angekommen. Eine Woche Marokko aus der Fahrradperspektive – nach dieser Zeit haben wir ein Gefühl für dieses Land entwickelt. Die Menschen in Marokko haben uns sehr freundlich aufgenommen.
Die Fans
Noch in keinem Land, das wir mit dem Fahrrad bereisten, erlebten wir so viel Begeisterung von den Menschen am Weg. Jedes Auto, das uns passiert, verlangsamt seine Fahrt, alle Insassen (und das sind oft sehr viele!) hängen sich aus den Fenstern, um uns zuzuwinken, den Daumen nach oben zu zeigen und „Bienvenue au Maroc! Bon courage!“ zu rufen. Frauen winken vom Feld und ein alter Herr, der im Schatten eines Olivenbaumes sitzt und seine Ziegenherde bewacht, steht auf, legt seine rechte Hand aufs Herz und ruft mir zu: „Bonjour Madame!“ Wenn wir durch ein besonders kleines abgelegenes Dorf fahren, wo die Frauen, die vor den Lehmhäusern sitzen, vollständig verschleiert sind bis auf einen kleinen Sehschlitz und ich mich gerade noch ein wenig unwohl fühle in meinem T-Shirt, springen diese auf und werfen mir Kusshände zu. Besonders an den Steigungen, die hier im Atlas meistens 6% oder mehr betragen, was mit unseren schwer bepackten Fahrrädern ganz schön wehtut, ist das eine tolle Motivation.
Nach einer Woche auf dem Fahrrad können wir auch die Sprache der marokkanischen Straße verstehen: das Hupen. Wer ein Land aus dem Fahrradsattel erlebt, lernt schnell, dass jedes Land seine eigene Hup-Sprache hat. Die ist sehr differenziert und weitaus vielschichtiger als nur unser „HUUUP! Aus dem Weg!“ Es gibt das freudige „Achtung, ich überhole euch und möchte euch begrüßen!“-Hupen, die mehrtönige trötende Hup-Melodie „Toll, dass ihr da seid! Macht weiter so!“, das deutliche, aber keineswegs aggressive Hupen der Lastwagenfahrer, das bedeutet: „Ich komme und kann leider nicht ausweichen, weil Gegenverkehr kommt oder weil ich keine Bremse habe oder weil ich vergessen habe, wo sie ist! Bitte geht von der Straße!“ Dieses Hupen wird nach dem Überholen stets von einem sanften „Dankeschön! Gute Weiterfahrt“-Hupen gefolgt. Viele Marokkaner sind allein oder mit ihren gesamten Familien auf Mopeds unterwegs. Die erkennen wir am hohen, fröhlichen „Ich bin zwar auch nur ein Zweirad, aber ich sitze auf einem Zweitakter und bin schneller als ihr, ätsch!“ –Hupen. Überholt wird allerdings nie ohne mehrmaliges weiteres Hupen und Winken: „Ich wollte euch auf jeden Fall auch grüßen!“ Die Hupe, die uns am meisten gefällt, ist allerdings die „Ich habe übrigens eine Hupe und freue mich, sie benutzen zu können!“-Hupe.
Die Frauen
Eigentlich müsste ich auch eine neue Rubrik einführen: Länder aus der Frauenperspektive. Natürlich herrscht hier in Marokko ein sehr traditionelles Männer-Frauen-Bild, obwohl auch viele Marokkanerinnen berufstätig sind. In den Cafés sitzen nur Männer, auch die kleinen Läden werden von Männern betrieben, fast alle Frauen tragen Kopftuch und viele sind verschleiert und man sieht sie im Dorf eher nur von Ferne. Da ist es sehr passend, dass Ralph, weil er am Berg immer schneller ist, vor mir herfährt und ich hinterdrein komme. Das hat aber auch den Vorteil, dass die Fußgänger auf den Straßen (und im Gegensatz zu Amerika gibt es hier viele Menschen, die zu Fuß gehen!) immer schon die Überraschung, dass da ein sehr merkwürdig aussehender Fremder auf dem Fahrrad durch ihr Dorf fährt, verdaut haben und schon lockerer geworden sind, bis ich dann durchfahre. So erlebe ich dann, dass Frauen auf dem Weg zum Feld, die nur Arabisch sprechen, mir kichernd in Zeichensprache zu verstehen geben, dass das doch viel zu schwer sei, mit dem Fahrrad diesen Berg hochzufahren, und ob sie mich nicht besser anschieben sollten. Lachend und winkend verabschieden wir uns, und ich fühle mich sehr wohl als Frau auf dem Fahrrad in diesem männerdominierten Land. Denn eigentlich, so dachte ich heute früh, ist doch die Arbeit der Frauen in jedem Land fast dieselbe. Da ließ ich mir von Naima, Jamals Frau, in dessen Herberge „Hotel des Amis“ wir hier in Tafraoute untergekommen sind, auf der Dachterrasse die Funktion ihrer Waschmaschine erklären. Natürlich mit Händen und Füßen, und die marokkanische Spezialkonstruktion hätte ich ohne ihre Hilfe nie durchblickt – aber jetzt wehen unsere Fahrradhosen neben ihren Kopftüchern friedlich im Wind. Wir lächelten uns gegenseitig verbunden über unserer Wascharbeit an. Ohne eine gemeinsame Sprache sind menschliche Begegnungen schwer und manchmal gar nicht möglich. Ich hatte in dieser Situation das schöne Gefühl, dass eine echte Begegnung zwischen einander völlig fremden Menschen nicht nur durch Sprache stattfindet, sondern vor allem dann, wenn der eine Hilfe braucht und der andere bereit ist zu helfen.
Das Essen
Für Fahrradfahrer immer das wichtigste Thema neben Schlafen: Essen! Die Zeit von Doritos, Snickers und asiatischen Tütensuppen ist zum Glück vorbei. Das marokkanische Essen schmeckt uns sehr gut! Als wir in Ouirgane bei einer netten Familie übernachteten, die gerade die Geburt des ersten Enkelsohnes mit großem Getrommel und Gesang feierte, bekamen wir zum Abendessen ein typisches marokkanisches Menue: Zur Vorspeise Oliven und Fladenbrot. Dann Nudeln mit Rosinen, Puderzucker und Zimt.
Als Hauptspeise das Nationalgericht Tajine: meist Gemüse, Oliven, Kartoffeln und etwas Truthahn- oder Hühnerfleisch, das in einem Tontopf mit spitzem kegelförmigen Deckel im Feuer gegart und brodelnd heiß serviert wird.
Zum Nachtisch essen wir täglich Mandarinen. Zwischen dem hohen Atlas und dem Antiatlas sind wir kilometerlang durch Mandarinen- und Orangenplantagen gefahren. Jeder Laster, der uns überholte, hatte Mandarinen geladen. Wir freuten uns über den Gedanken, dass die Mandarinen, die ihr jetzt zu Weihnachten kauft, vor einer Woche an uns vorbeigefahren sind.
Ein Land kulinarisch kennenzulernen ist für uns Fahrradfahrer, die wir immer hungrig sind, ein echtes Erlebnis. Auf dem Frühstückstisch in der bitterkalten Herberge oben auf dem Tizi-n-Test-Pass baute der von uns in seinen Kochfertigkeiten sehr unterschätzte Aiman viele kleine gefüllte Untertassen auf, die wir zuerst alle für Honig hielten. Eine stellte sich auch als sehr leckerer Rosmarinhonig heraus, in den beiden anderen befanden sich jedoch Olivenöl und das walnussartig schmeckende Argan-Öl (dazu später mehr). Dort hinein tunkt man das Fladenbrot und trinkt süßen Pfefferminztee dazu. Zum Aufwärmen gibt es salzige Grießbrei-Suppe mit drei Datteln daneben.
Unser Picknick mittags am Straßenrand besteht jetzt aus Fladenbrot, Oliven und Datteln. Manchmal finden wir den französischen Kiri-Käse oder eine Halal-Mortadella aus Truthahn dazu (nach den muslimischen Reinheitsgeboten hergestellte Wurst). In der Konsistenz und Farbe gewöhnungsbedürftig, aber sehr lecker. Um an dies Essen zu kommen, müssen wir allerdings einige Hürden überwinden. Die Dörfer, durch die wir auf dem Land hier im Süden Marokkos fahren, sind so klein, dass sie selten einen für uns erkennbaren „Laden“ haben. Nur durch Gespräche mit Händen und Füßen finden wir den Weg zu dem braunen Lehmhaus, durch dessen Fenster man in den kleinen Kramladen blicken kann, der dann aber stets sehr gut sortiert ist. Hat man ihn mal gefunden, finden wir dort alles: Wurst, Oliven, Kekse aus Saudi-Arabien und Tunesien, Shampoo, Batterien und natürlich Sardinen aus Safi (die meisten Sardinen dieser Welt scheinen aus der kleinen marokkanischen Hafenstadt zu kommen – schaut doch mal auf den Herkunftshinweis eurer Sardinenbüchse!). Heute fragte ich in Tafraoute nach Brot und bekam zur Antwort: „Sucht ihr eine Boulangerie mit so merkwürdigem Baguette? Oder wollt ihr unser echtes Berberbrot?“ Keine Frage, wir wollen das echte Brot der Berber kaufen, die hier im Süden leben. Eine freundliche verschleierte Frau führt uns um drei Ecken in eine kleine Gasse, wo ein alter zahnloser Herr seinen Kopf aus einer Öffnung steckt und uns anlächelt. Hinter ihm brennt ein Feuer in einem großen Holzofen. Wir bedeuten ihm, dass wir Brot kaufen wollen, und er schlägt uns sehr mühe- und liebevoll die nach Anis duftenden Fladen in winzige Papierstücke ein. Nur den Preis kann er uns nicht nennen, weil wir kein Arabisch und er kein Französisch versteht. Da greift er in seine kleine Gelddose und legt die Münzen vor uns hin, die wir ihm schuldig sind. Wir lachen und verstehen, er zeigt uns wieder den Daumen hoch und winkt zum Abschied. Ein tolles Einkaufserlebnis! Hier kommen wir morgen nochmal her.
Ihr merkt, es ist Erfindungsreichtum und viel kulturelles Einfühlungsvermögen gefragt. Zum Beispiel ist es hilfreich, dass ich in dem kleinen Café, in dem wir Fladen mit kleinen Lamm-Hackbällchen essen, sofort erkenne, dass hier keine Toiletten im System vorgesehen sind. Das erspart mit und dem Besitzer eine peinliche Situation. Aber auch der Gang ins Gebüsch ist gar nicht so einfach. Immer wenn man denkt, jetzt sei man wirklich allein, kommt hinter einem Olivenbaum garantiert ein Mensch hervor. Irgendwo sitzt eigentlich immer jemand am Straßenrand, unter einem Baum oder auf einem Felsen im Schatten in dieser steinigen, dürren Landschaft – manchmal ist es wie ein Suchbild. Selten finden wir einen Platz, wo wir allein am Straßenrand unser Mittagspicknick essen können. Die fahrradfahrenden Kinder und am Handy hängenden Jungen sind so gut untereinander vernetzt, dass in jedem Dorf stets schon bekannt ist, dass wir kommen. Da ist der glücklich, der gerade nicht mit den Schafen unterwegs sein muss und sein Fahrrad neben unserem Picknickplatz in gebührendem Abstand parken kann, um das Spektakel zu verfolgen, wie da zwei Europäer sitzen und Fladenbrot mit Oliven essen. Dennoch sind unsere Beobachter sehr zurückhaltend, sie wenden uns rücksichtsvoll den Rücken zu und blicken scheinbar wie gebannt in den Himmel, nur ab und zu werfen sie uns über die Schulter einen neugierigen Blick zu.
Dürre, Armut, Arganöl
Unterdessen sind wir in Tafraoute angekommen, einem 6000-Einwohner-Städtchen im südlichen Antiatlas. Hier ist das Handelszentrum der weiteren Umgebung, die ausschließlich durch karge Landwirtschaft geprägt ist. Die Menschen hier haben seit Jahrtausenden von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen in dieser Halbwüstenlandschaft leben können. Allerdings, wie wir im Gespräch mit dem Mann von der Auberge Les Amis, in der wir untergekommen sind, erfahren, wird sich dies in den nächsten Jahren wohl ändern. Landwirtschaft ist natürlich von Regen abhängig und dieser ist in den letzten Jahren einfach ausgeblieben. Seit über eineinhalb Jahres hat es gar nicht mehr geregnet. Der Klimawandel, den wir auch schon in den USA auf unserem ganzen Weg beobachten konnten, hat hier für die Bevölkerung dramatische Folgen. Landwirtschaft als Lebensgrundlage zu betreiben ist praktisch nicht mehr möglich. Hier im südlichen Antiatlas begegnen wir denen, deren Leben durch den Klimawandel zerstört wird – und die Ärmsten sind davon am brutalsten betroffen. Das Familieneinkommen der Landbevölkerung versiegt im Staub der Trockenheit und um Lebensmittel kaufen zu können, muss man Kredite aufnehmen bei den Händlern hier in Tafraoute. Die Männer müssen, sofern sie dafür überhaupt noch finanziell in der Lage sind, in die Städte der Küstenregion ziehen und dort Arbeit suchen. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen auch dort in Marokko extrem hoch. Die meisten kleinen Dörfer, durch die wir fahren sind fast menschenleer. Wir treffen vor allem Alte auf den Straßen. Männer im Alter zwischen 16 und 50 sind selten zu sehen.
Unser Herbergsvater erzählt, wie seine Familie versuchte in den letzten Jahren ökonomisch zu überleben und schaut dabei hinauf zu den Wolken, die morgens immer aufziehen, sich aber dann zur Mittagszeit in der Kraft der Wintersonne auflösen. Eigentlich ist Winterzeit Regenzeit, aber er schüttelt den Kopf und bezweifelt, dass dieses Jahr Regen kommen wird. Ich werde wütend, wenn ich in der New York Times abends lese, dass Donald Trump in den USA gerade eine Regierungsmannschaft zusammenstellt, die vor allem aus Klimawandel-Skeptikern besteht. Hier geht es nicht mehr darum, das Auto weniger oft zu waschen oder den Rasen nur noch dreimal wöchentlich zu bewässern, wie wir es in Californien erlebt haben. Hier trifft der menschengemachte Klimawandel die Menschen in ihrer Lebensgrundlage.
Eine kleine Hoffnung gibt es für einige Familien hier in der Region und diese Hoffnung steht in Form eines klaren, aprikosenfarbenen Öls in einem kleinen Schälchen auf unserem Frühstückstisch. Dieses Öl stammt von einer Pflanze, die vor rund 80 Millionen Jahren den ganzen Mittelmeerraum bewuchs, heute aber fast nur noch hier im Antiatlas vorkommt: Der Arganbaum. Eigentlich ist hier fast jedes größere grüne Gewächs eine Arganie. Etwas anderes wächst hier kaum noch. Besonders auffällig ist daran, dass der Baum mit einem kurzen Stamm im unteren Kronenbereich wie mit dem Lineal beschnitten zu sein scheint. Schnell merkt man aber, dass dabei nicht Menschenhand im Spiel war. Arganbaumblätter sind sehr begehrte Speise der zahlreichen Ziegen hier. Mir scheint, dass es sonst nicht viel zu fressen gibt in dieser trockenen Landschaft. Daher wird alles abgenagt, was erreichbar ist und das führt zu einem linealgeraden Abfraß in Ziegenkopfhöhe. Allerdings sind die Ziegen hier sehr geschickt und klettern auf die Bäume, so dass es zu absurden Landschaftsbildern führt, in denen mehr Ziegen auf den Bäumen stehen als auf dem Erdboden.
Warum aber ist dieser Baum eine Hoffnung für die Menschen hier, deren Felder alle vertrocknen? Der Arganbaum hält extreme Trockenheit und sehr hohe Temperaturen ohne Probleme aus und ist daher schlicht die letzte Nutzpflanze, die der Verwüstung dieser Region standhält. Aus seinen Früchten kann man unter aufwändiger Handarbeit das Öl gewinnen, das walnussig schmeckt und bei uns heute auf dem Frühstückstisch steht. Eine Hoffnung vor allem für die Frauen, so scheint es, denn immer wieder steht auf Gebäuden an unserem Weg ein Schild, das auf Frauenkooperativen hinweist, die Arganöl produzieren, oft auch in zertifizierter Bioqualität. Es gibt wohl auch ein europäisches Förderprojekt dazu und einige Fairtrade Initiativen. Darüber freue ich mich natürlich besonders. Manchmal aber, die rücksichtslose Energieverschwendung in den USA noch lebhaft vor Augen, überwältigt mich der Gedanke an den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen, trockenen Antiatlasgranit.
5. Dezember 2016
Ankommen in Marokko
Wir haben die Fahrräder heute aus den Kartons geholt. Das ist immer ein heikler Augenblick, denn nach der rauen Reise mit drei Flugzeugen und über die Förderbänder und durch die Hände hartgesottenen Rollfeldpersonals sehen die Kartons erbärmlich aus. Außerdem hat das amerikanische Sicherheitspersonal unsere panzertapeverklebten Kartons natürlich geöffnet, Fahrräder waren ja schon immer ein Sicherheitsrisiko! Aber den Rädern geht es den Umständen entsprechend gut und ich bin sehr erleichtert, dass nur eine der GPS-Halterungen abgebrochen ist. Speichen, Schaltung, Rahmen und Reifen sind funktionsfähig. Das ist mehr als ich erwartet hatte. Große Erleichterung.
Wir hingegen sind ziemlich derangiert, weil unsere innere Uhr immer noch Pazifiktime anzeigt und uns nachts nicht schlafen und zur unpassendsten Zeit hungrig werden lässt. Ich habe heute nacht in den zwei Stunden Schlaf mindestens eineinhalb Stunden von Essen geträumt, weil ich wohl das Essen zu den amerikanischen Zeiten vermisse. Nicht allerdings vermisse ich das amerikanische Essen. Da geht es hier doch ganz anders zu. An jeder Ecke gibt es Grillstände und Gemüseeintöpfe, herrlich für den Fahrradhungermagen.
Imke hat sich unterdessen auch schon von der marokkanischen Damenwelt beraten lassen und sich förmlich und farblich dem Land angenähert. Die Dame im Laden riet zu einem neonpinken Schal, der hier nicht auf dem Bild zu sehen ist, ihr aber natürlich hervorragend steht.
Am Ende des zweiten Tages drängt es uns schon wieder auf die Karte zu schauen und auf der Dachterasse die nächsten 400 Kilometer über den Hohen Atlas zu planen, während die Störche nebenan auf den Mauern des Königspalastes klappern und der Muezzin zum Abendgebet ruft. Der Wechsel der Kulturen ist scharf, aber die Einöde wird uns wohl erhalten bleiben, denn sind wir erstmal aus Marrakesch herausgefahren, werden wir wieder mal nicht viel Örtchen auf dem Weg liegen haben, bis wir etwa eine Woche später in Tafraoute, der Berberstadt im Antiatlas, in Reichweite der Sahara ankommen.