Fremdenfreundlichkeit

Von Ganzi nach Chengdu

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Die letzte Etappe Tibet, unser letzter Radfahrabschnitt in China, führt uns von Ganzi nach Chengdu. Von den Höhen des Himalaya hinab in die tiefe Ebene von Sechuan. Wir folgen verschiedenen Flusstälern, rund 750 Kilometer immer auf der G 317, über nochmal drei 4000er-Pässe und dann nur noch runter, runter, runter. Unglaubliche 3500 Höhenmeter Abfahrt erwarten uns, allerdings verteilt auf 400 Kilometer!

Die Landschaft hat sich radikal gewandelt. Tief unten in eng eingeschnittenen Schluchten windet sich unsere Straße entlang der tosenden braunen Fluten, die sich von den Gletschern des Himalaya ergießen. Nirgends finden wir einen Platz für unser Zelt, weil es keine ebene Fläche gibt. Überall dominiert die Vertikale. Es ist eiskalt, denn die Sonne dringt nur in den Mittagsstunden bis auf den Grund des Tales. Dann tauen wir kurz auf. Die übrigen 20 Stunden füllt der Frost die engen, schattigen Felswände.

Wir fahren gute Kilometer und freuen uns über den Duft des Waldes, die ansehnlicheren Häuser im tibetischen Stil und die gut geteerte Straße. Jede Felsnase, jeder einmündende Bach, die Höhlen und die Brücken sind mit Gebetsfahnen und Mani-Inschriften verziert. Bis hinauf auf die weit entfernten Gipfel ist alle Natur ein großes Buch des tibetischen Buddhismus. Auf den ersten Blick ist diese Buntheit hübsch anzusehen und die Chinesen versuchen das folkloristische Tibet gut zu vermarkten. Wer aber genauer hinhört und nachsieht, der bemerkt schnell auch die uns unendlich fremde Gedankenwelt des hier gewachsenen Glaubens. Die Dämonen der fürchterlichen Natur, die den Mensch von allen Seiten bedroht, die Unwirklichkeit alles Existierenden angesichts der hier offensichtlichen Vergänglichkeit von Mensch und Tier, die Nichtigkeit der menschlichen Bemühungen neben der Gewaltigkeit des Himalaya:  Das prägte hier die Menschen, ihre Religion und ihre Kultur.

Wir merken, dass mit dem Ende dieser Täler ein anderer Kulturkreis beginnt. Die Bewohner der fruchtbaren Ebenen des Schwemmlands, das sich von Chengdu bis an die Küste des Chinesischen Meeres erstreckt, kennen nur die Horizontale. Sie leben nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Ihre Felder tragen zweimal im Jahr reiche Ernte. Sie kennen die Kälte und die Erbarmungslosigkeit der Berge nicht. Dort in der Ebene wachsen die chinesischen Megastädte in Rekordgeschwindigkeit und ziehen die junge Landbevölkerung magisch an. Dort lebt der Großteil der eineinhalb Milliarden Menschen dieses Landes. Wie sollen die Han-Chinesen dieser Ebene auch die Tibeter verstehen, die in der fast menschenleeren Bergwüste leben? Das wird uns mit jedem Meter klarer, den wir hinaus aus dem Himalaya durch diese engen Täler fahren. Wir waren schon sehr gespannt auf den Moment, in dem sich die Felswände beiseite schieben und der Blick in die Ebene geht, die sich bis zum Ozean erstreckt

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Der Wechsel von der einsamen tibetischen Bergwelt ins Becken von Sechuan hätte kaum krasser sein können. Es war wirklich so wie von uns phantasiert: Am letzten Tag fuhren wir noch durch Dutzende lange dunkle Tunnel, bis sich dann tatsächlich am Ende nach einem harten, langen Radtag die Felswände beiseite schoben und wir mit Blick auf die weite Ebene im tropfenden Bambuswald standen. Die Pandas langweilten sich und erteilten uns nach der entbehrungsreichen Tibetetappe eine Lektion in Schlafen, Fressen, Kuscheln. Die filmkulissenreifen Pagodendächer erinnerten uns ständig an Chinarestaurants (wir hatten Nachholbedarf) und die vielen Menschen, ja die vielen Menschen – zum ersten Mal dachten wir: „Es muss wohl viele Chinesen geben in diesem Land.“

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Unter der Staubdecke

Die letzten 300 Kilometer der Strecke von Ganzi nach Chengdu waren eine einzige endlose Baustelle. Hier entsteht im schwierigen Hochgebirgsterrain eine vierspurige Autobahn nach Lhasa. Riesenhaft stehen die dicken grauen Betonpfeiler mitten im reißenden Fluss, die gähnenden Löcher der schon gebohrten Tunnel hängen an der steilen Felswand weit über unseren Köpfen. Die Straßentrasse, die sich zwischen ihnen schon spannt, füllt die ganze Breite des Tales aus. Tagelang fahren wir in ihrem kalten Schatten durch halb verlassene Dörfer und an Containerbauten für die Baustellenarbeiter vorbei, wo die Menschen nie die Sonne und den Himmel sehen. Von einem Berghang zum anderen spannt sich das graue Betondach, unter dem die Häuser verschwinden. In diesen Tagen zeigt sich China einmal mehr von seiner trostlosen Seite. Die Menschen hier sind so arm, dass sie tatsächlich jeden Meter Erde direkt neben der Straße nutzen, um Gemüse anzubauen.

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Es macht mich wütend und zugleich traurig, zu sehen, dass diese säuberlich angelegten und liebevoll gepflegten Beete von einer dicken Schicht aus Steinstaub bedeckt sind. Die Blumen vor den Fenstern und Rosen an den Hauswänden, die es nach unserer langen Zeit auf dem tibetischen Hochplateau endlich wieder gibt, sind grau. Wir sind grau von Staub, tagelang eingehüllt in dichte Staubwolken und fahren wie so viele Chinesen nun auch mit einem Tuch vor dem Mund. Die Welt liegt unter einer Dreckdecke. Über den noch nicht verlassenen tibetischen Holzhäusern wehen so viele chinesische Flaggen wie noch nie. Trotz des trostlosen Anblicks wird die Gegend vermarktet wie Disneyland. Während manche Dörfer sehr heruntergekommen sind, wurden andere wie potemkinsche Dörfer wieder aufgebaut – sie sind Fassaden um Andenkenläden herum. Auf großen Plakaten sind Seen, grüne Wiesen und Berge abgebildet, bei denen wir uns fragen, wo das denn sein soll – wir sehen diese Idylle nicht. Wir sehen nur chinesische Touristen, die auf Schutthaufen, auf denen ein paar Blumen wachsen, Tücher schwenkend für Naturfotos posieren. Wir wundern uns und denken einmal mehr über die tiefen kulturellen Gräben der Weltwahrnehmung nach.

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Den frostigen Schluchten schließlich entkommen, fuhren wir ins Zentrum der 14-Millionen-Stadt Chengdu, die am schnellsten wachsende Megacity der Welt! Mehr als 60 Kilometer radeln wir immer durch Hochhäuserschluchten und im Gewurstel von sechs oder achtspurigen Stadtautobahnen. Dabei sind wir nur von Westen her ins Zentrum gefahren – die Stadt dehnt sich in Ost-West-Richtung auf rund 170 Kilometer aus. Dennoch war die Einfahrt in diesen Moloch vergleichsweise entspannt, denn in den chinesischen Städten gibt es fast immer einen abgetrennten Bereich für Zweiräder. Diese Stadtplanerische Klugheit können wir nur loben. Oh wären doch auch nur deutsche Städte schon soweit! Die Regelaffinität der chinesischen Verkehrsteilnehmer lässt für uns allerdings noch genügend Spielraum für adrenalinberauschenden Nervenkitzel. Wir wohnten in Chengdu im 22. Stockwerk und beim Blick auf die im Smog liegende Stadt erinnerten wir uns ungläubig an jene weit entfernte Zeit, in der wir noch mit den Wölfen gecampt hatten. Das hier war eine andere Art von urbaner Wildnis.

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Grauenhafte Einsicht

Die grauenhafte Einsicht kam mir mitten in der Nacht. Ich schreckte auf und es stand mir einleuchtend klar vor Augen. Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber jetzt gruselte mir, als hätte mich ein Dämon in diesem dunklen, stillen Zimmer besucht. Es war in der zweiten Hälfte der Nacht und die Straßen der Stadt draußen waren still. Aber ich wusste: Dort standen sie an jeder Straßenecke und warteten auf den Nächsten. Es würde einen Nächsten geben, vielleicht schon morgen, vielleicht erst in einem halben Jahr. Dann würden sie nach den bereitliegenden langen Eisenstangen greifen… Ich wollte die Vorstellung verjagen, wollte das nicht denken müssen, denn ich würde nicht mehr einschlafen können, wenn ich es einmal bildlich vor mir sähe.

Sollte ich Imke überhaupt davon erzählen? Es würde die Stimmung grundsätzlich verändern, mit der wir in China weiterfahren. Dabei hatten wir gestern Nachmittag noch Witze darüber gemacht. An jeder Straßenecke hier in Ganzi, Osttibet, standen drei oder vier Feuerlöscher. Daneben saßen entweder Polizisten auf Klappstühlen oder Freiwillige mit Armbinden der Kommunistischen Partei. In der ganzen Stadt verteilt, wirklich an jeder Straßenecke. Wir machten noch Witze, dass wir Gott sei Dank dem schwerbelagerten Tibet und Xinjiang jetzt wohl langsam entkommen sein müssen, jetzt, da die schwerbewaffneten Polizisten Feuerlöschern gewichen seien. Wir rätselten wozu man so viele Feuerlöscher braucht. Es gab zwar einige traditionelle tibetische Holzhäuser hier in der Stadt, die standen aber alle in den Außenbezirken. Brennt es hier so oft? Wozu diese ganzen Feuerlöscherstationen? Wozu diese langen Stahlstangen, die vorne ähnlich einer Gabel oder einer Zange in einem meterbreiten Halbkreis enden? Wir machten uns noch lustig darüber, sprachen von übertriebenen Wurstgrillstecken, vermuteten einen chinesisch größenwahnsinnigen Grillwettbewerb. Jetzt, da ich um die wirkliche Bedeutung weiß, machen mich diese Gedanken noch mehr schaudern.

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Dabei schrieben wir gerade erst im letzten Bericht darüber. Die Gegend um Ganzi und Ngawa ist die tibetische Region mit den meisten Selbstverbrennungen. Vorwiegend Mönche kommen mit einem Kanister Benzin in die Stadt, übergießen sich und zünden sich an aus Protest gegen die chinesische Besetzung Tibets und die Unterdrückung des Buddhismus. Darum stehen überall die Feuerlöscher, darum die Stahlstangen, mit denen sie den brennenden Körper festhalten. Ich las schon früher von den Selbstverbrennungen hier. Warum bringt mich jetzt der Anblick der Feuerlöscher und der Stangen so aus der Fassung? Weil sie auf ihren Klappstühlchen sitzen und auf den Nächsten einfach so warten? Weil es hier zum Stadtalltag dazugehört, dass sich Menschen verbrennen? Weil Feuerlöscher eine typisch chinesische Lösung für dieses Problem ist – technisch, pragmatisch? Weil das Grauenhaft hier Alltag ist?

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Zwei ganze Tage sind wir noch in Ganzi. Wo auch immer wir hingehen, spätestens nach 50 Metern laufen wir an Feuerlöschern und Stangen vorbei. Ich halte die Vorstellung kaum aus, an jeder Ecke stehen sie mir gegenüber, alle die sich seit der Besetzung von Tibet vor rund 60 Jahren verbrannt haben. Die roten Feuerlöscher am Straßenrand aufgereiht sind ihre Grabsteine und Mahnmahle. Für mich sind sie noch mehr. Für mich sind sie auch Monument für das, was ich an diesem Land abstoßend finde: Die Missachtung der grundlegendsten Menschenrechte; die Kaltschnäuzigkeit, mit der diese Gesellschaft über das Leben des Einzelnen hinweggeht; die Brutalität, mit der Harmonie in dieser Gesellschaft oberflächlich hergestellt werden will; die Doppelmoral, eines korrupten, elitären Kommunismus, der seine Ideale und die Armen dem Selbsterhalt opfert. Wir haben drei Monate lang dieses Land intensiv kennen gelernt. China ist nicht das, was auch die westlichen Wirtschaftsgazetten uns glauben machen wollen: ein glänzender aufstrebender Markt mit Potenzial und einer besseren Zukunft für alle. China ist nicht das und wird es nicht werden. Wir haben genau hingeschaut und könnten hier Seiten darüber füllen, warum China genau das nicht ist.

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Es ist vielleicht symbolisch, dass vor einem Jahr wir im Statepark an der kalifornischen Küste in einer nebligen Nacht Trumps Wahl live auf CNN verfolgten und jetzt ein Jahr später dieser Trump uns nach China gefolgt ist. Es ist kein Wunder, dass Trump China bewundert und sich durch den oberflächlichen Pomp beeindrucken lässt. Das sagt nicht nur über Trump etwas aus, sondern auch über China. Ich fasse es mal in ganz einfache Worte. Wirtschaftlich funktioniert China beeindruckend im Moment. Aber China funktioniert nur in China – wirtschaftlich gesehen und auf lange Sicht. Wir Deutschen werden zwar in den nächsten Jahren noch einige Autos nach China verkaufen, aber wir sollten ehrlich genug zu uns selbst sein, um nicht zu leugnen, dass unsere Geschäfte mit China ziemlich schmutzig sind. Wir wollen mitverdienen und eine weiße Weste behalten. Das geht nicht. Chinas Gesellschaft steht unter Spannung und droht von großen Problemen zerrissen zu werden: krass wachsende Ungleichverteilung des Reichtums; große Wohlstandsunterschiede zwischen Stadt und Land, Ost und West; starke Überalterung durch die jahrzehntelange Einkindpolitik; Korruption und Nepotismus in den dominanten Staatsbetrieben und durch das Machtmonopol der Kommunistischen Partei; gigantische Umweltzerstörung überall und Smogprobleme in den großen Städten; sich zuspitzende ethnische Konflikte vor allem in den westlichen Provinzen; darüber ein diktatorischer Polizeistaat ohne Achtung der Menschenrechte; Überwachung der intimsten Privatsphäre der Bürger und allgegenwärtige Zensur; ein Bildungssystem, das hauptsächlich aus Auswendiglernen und Prüfungsvorbereitung besteht und jede Art von Eigenverantwortlichkeit, problemlösendem Denken und kritischem Nachfragen unterdrückt, das die breite Bevölkerung vernachlässigt und vorwiegend Elitenförderung ist; die Wirtschaftsdaten sind ein aufpoliertes Propagandagebilde, dem unabhängige Überprüfungen fehlen; durch den großen Staatssektor wird schon seit Jahren ein Scheinwachstum betrieben, um die Bevölkerung durch Arbeit und Konsum bei Laune zu halten. All das wird in den nächsten Jahren zunehmend in Konflikt geraten mit dem China, an dem die restliche Welt so gierig interessiert ist: dem China als große Geldmaschine.

All diesen Beobachtungen können wir konkrete Beobachtungen und Erlebnisse auf unserem dreimonatigen Weg durch China zur Seite stellen. Wir tun es hier nicht, denn wir wollen der negativen Seite dieses Landes in unseren Berichten nicht noch mehr Platz einräumen. Wir geben zu, kein Land, das wir bisher bereist haben, hat in uns so zwiespältige Gefühle ausgelöst. Neben der düsteren Seite Chinas steht strahlend die übergroße Freundlichkeit der Menschen, denen wir begegnet sind. Selbst unter den vielen Polizisten, mit denen wir es zu tun hatten, finden sich nicht mehr als eine Handvoll, die unfreundlich waren.

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Fremdenfreundlichkeit

Wie muss es sich in der Öffentlichkeit anfühlen Brad Pitt oder Angelina Jolie zu sein? Wie kommt sich ein Popstar vor, wenn er durch den Supermarkt läuft? Was sieht eine Celebrity in den Gesichtern der Menschen, die sie auf der Straße erkennen? Um Euch einen Geschmack davon zu vermitteln, erzählen wir Euch aus unserem Alltag:

Als wir den Supermarkt betreten, sehen wir aus den Augenwinkeln die Kassiererin von ihrem Sitz aufspringen. In ihrem ersten Erstaunen quiekt sie begeistert, während sie mit der linken Hand sich Luft zufächelt – eine Geste, die sie nur aus einem kitschigen Film abgeschaut haben kann. Die Rechte greift nach dem Handy, bleibt aber in der Bewegung stecken, denn sie traut sich nicht, während wir hinschauen. Gleichzeitig hüpft sie auf der Stelle leicht auf und ab vor freudiger Erregung. Wir sind diese Reaktion schon gewohnt und verschwinden in den Regalreihen, um Milchpulver zu finden. Auf unserer langen Suche (wir können immer noch kein Chinesisch und auf den Verpackungen finden wir keine andere Sprache) begegnet sie uns in den folgenden Minuten immer wieder – am Ende der Regalreihen sehen wir ihren Kopf kurz erscheinen, bevor sie sich vor unseren Blicken wieder versteckt. Sie kann es wohl immer noch nicht glauben, dass WIR in IHREM Supermarkt einfach so einkaufen. Immer mehr Angestellte des Supermarkts erscheinen in respektvollem Abstand, wie zufällig. Am Ende sind es an die acht oder neun, die uns folgen. Sie halten dabei eine schwierige Balance zwischen versuchter Unauffälligkeit und herzzerreißender Neugier. Wenn wir sie entdecken, wie sie hinter unseren Rücken um die Regalecken spicken, sind ihre Gesichter vor Verlegenheit und Aufregung so rot wie die Logos ihrer Berufskleidung. Je länger wir das Milchpulver suchen, desto mutiger werden sie. Jetzt fangen sie an, Handyfotos aus der Ferne zu machen. Wir tun so, als wären es nicht wir, deretwegen der Betrieb des Supermarktes gerade zum Erliegen kommt – unterdessen ist keine Kasse und keine Fleischtheke mehr besetzt. Alle folgen uns. Meist dauert es nur Bruchteile einer Minute, bis alle dank sozialer Medien und Handyallgegenwart von unserer Anwesenheit informiert sind.

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Spannung liegt in der Luft, Druck baut sich auf. Wann wird der Damm brechen? Wer wird den größten Mut beweisen und der oder die Erste sein? Oft geschieht es erst, wenn wir ein Zeichen geben, ein Lächeln und Nicken in ihre Richtung oder ein freundliches Winken. Manchmal haben wir auch keine Nerven dafür, dann tun wir so, als würden wir überhaupt nichts merken, lassen sie mit ihrer Schüchternheit allein zurück und kommen uns hinterher schlecht vor.

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Jetzt aber hilft es nichts, wir finden nicht heraus, ob die gelbe Packung tatsächlich Milchpulver ist. Nungut, wir müssen es auf die direkte Art angehen. Ich greife mir die Packung und gehe zielstrebig auf die Kassiererin zu. Ich weiß natürlich, wo sie sich versteckt hat, um uns möglichst unauffällig zu beobachten. Als ich um die Regalecke biege und direkt vor ihr stehe, erstarrt sie vor Schreck. Ich sehe Angst in ihren Augen. Nach so vielen Dutzend Versuchen weiß ich natürlich, wie das jetzt abläuft und versuche es trotzdem noch einmal. Mit möglichst freundlich beruhigendem Lächeln sage ich „Nihau“ und gebe ihr Zeit sich an meine Anwesenheit zu gewöhnen. Dann sage ich langsam und selbstbewusst den Satz „Ist das Milch?“ Ich kann „Milch“ unterdessen so gut auf Chinesisch aussprechen, dass ich eine Verständigungsquote von geschätzten 90 Prozent erreiche. Kein anderes chinesisches Wort funktioniert so gut – ich weiß nicht warum. Die Kassiererin, die unterdessen knallrot angelaufen ist, hört mich vor Aufregung nicht. Sie ist jetzt ein Nervenbündel und möchte vermutlich nichts lieber als sofort unsichtbar sein. Ich frage noch einmal: „Ist das Milch?“ Eigentlich müsste ich natürlich korrekt fragen: „Ist das Milchpulver?“ Das würde die Sache aber komplizierter machen, denn das chinesische Wort Pulver kann man entweder nicht mit Milch kombinieren oder ich habe es noch nie richtig ausgesprochen. Aber in diesem Fall ist alles gleichgültig. Denn die Reaktion, die ich jetzt bekomme, ist ebenso heftig wie typisch: Heftiges Schütteln des Kopfes und beider Hände gleichzeitig – „MEIU! MEIU! MEIU!“. NEIN NEIN NEIN – sie hat meine Frage zwar immer noch nicht wirklich gehört, möchte aber, dass diese grauenhaft peinliche Situation für sie so schnell wie möglich vorübergeht. Natürlich ist, wie sich später herausstellt, in der Packung Milchpulver. Es ist aber keine Bösartigkeit oder Desinteresse, das uns so oft als Neinneinnein-Antwort entgegenschlägt. Wir sind unterdessen der Überzeugung, dass es dieselbe Reaktion wie bei Kleinkindern ist, die in peinlichen Situationen die Augen schließen, in der Überzeugung, dass man sie dann nicht mehr sehen kann. Ich nicke zufrieden, bedanke mich als wäre ich gerade nicht mit NEINNEINNEIN angeschrieben worden und lasse das Milchpulver in den Einkaufskorb fallen.

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Hinter mir höre ich Tuscheln und Kichern. Alle Angestellten umringen jetzt die Kassiererin: „Wow, er hat Dich angesprochen!“ „Was hat er gesagt?“ „Weiß ich nicht, ich war zu nervös.“ „Was hast Du gesagt?“ „Weiß ich nicht, ich war zu nervös.“ „Hast Du ihn gefragt?“ „Neeiin, spinnst Du!“ Zurück bei Imke im Regal, die unterdessen Shampoo sucht, ereignet sich zwischen uns folgende Unterhaltung, die unterdessen auch schon Ritual ist: „Und? Ist es Milchpulver?“ „NEIN NEIN NEIN!“ „Also ist es Milchpulver. Gut.“

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Die Spannung liegt weiterhin in der Luft. Noch immer hat sich niemand getraut. Gleich ist es so weit. Mutig kommt ein junger Angestellter auf uns zu, bleibt aber etwa fünf Meter von uns entfernt stehen. Wir schauen ihn ermutigend lächelnd an. Er winkt. Wir winken freundlich zurück. Jetzt hebt er sein Handy, macht eine Fotogeste und schaut fragend zu uns hin. Wir nicken ermutigend und winken ihn herbei. Alle Angestellten des Supermarkts haben natürlich gesehen und umringen uns jetzt innerhalb von Sekunden. Alle hatten sie ihre Handys schon gezückt und jetzt beginnt die Selfie-Party. Wenn zwölf Personen mit jedem Handy jede Person als Selfie mit uns abbilden wollen und dann auch noch Gruppenfotos in wechselnden Besetzungen notwendig sind, können schon mal über hundert Bilder in wenigen Minuten entstehen. Das findet so in fast jedem Laden, in jeder Garküche, in jeder Unterkunft statt, manchmal am Straßenrand, manchmal mitten auf belebten Kreuzungen in der Stadt. Das kann unseren Radalltag schon ziemlich entschleunigen. Aber selbst wenn wir unter Zeitdruck sind oder mal nicht so gut gelaunt, wir nehmen uns fast immer dafür Zeit und lehnen nur ganz wenige Fotoanfragen ab (wenn wir zum Beispiel auf der Autobahn fahren und uns die dreisten Autofahrer ganz unverschämt ausbremsen um Selfies zu verlangen). Wir haben ja als Superstars auch eine gewisse Verpflichtung gegenüber unseren Fans – was wären wir ohne sie!

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Wo wir auch auftreten, überall begleitet uns der Bonus der Besonderheit. Das ist übrigens nicht nur in China so. In Warteschlangen werden wir vorgelassen, ja in Wirklichkeit werden wir nach vorne komplimentiert. In Läden müssen wir oft weniger bezahlen, die Preise werden zum niedrigeren Betrag hin abgerundet. Fremde Menschen zahlen für uns, unser Essen, den Einkauf, Geschenke. Wenn wir mit dem Fahrrad eine Dorfstraße entlangfahren winken die Passanten uns zu. Eltern nehmen ihre Kinder auf den Arm, zeigen auf uns und bringen ihr Kind dazu uns zuzuwinken. Das liegt natürlich daran, dass wir fast immer eine exotische Attraktion darstellen für die Menschen. Wir sind fast immer abseits der ausgetretenen Touristenpfade unterwegs. Oft haben wir den Eindruck, dass die Menschen schon jahrelang keinem Ausländer mehr begegnet sind. In vielen Fällen wird das sicher auch der Fall sein. Was uns von den Menschen hier entgegengebracht wird, ist überraschenderweise allerdings kein Misstrauen gegenüber Fremden, sondern das Gegenteil, eine Art Vorschussfreundlichkeit.

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Erst gestern im Restaurant fragen wir die junge Frau neben uns, ob sie uns eine Unterkunft in der Nähe empfehlen kann. Sie springt sofort auf, und sagt, sie käme gleich wieder. Wir denken schon an die typische „MEIU MEIU MEIU“-Reaktion und sind sicher sie nie wieder zu sehen. Eine Viertelstunde später kommt sie zurück. Sie legt uns drei Visitenkarten von Hotels auf den Tisch und nennt uns die Preise. Alle seien gut und günstig. Sie hatte ihr Essen stehen gelassen und war zu den Hotels gefahren und hat sich nach Zimmern für uns erkundigt. Jetzt bietet sie an mit uns zu kommen und uns beim Einchecken zu helfen. Wir sind überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft. Beschämend große Freundlichkeit begegnet uns, wo auch immer wir erscheinen. Fremde Menschen helfen uns unser Gepäck zu tragen, unser Ticket zu kaufen, den Weg zu finden, einzukaufen. Aus Spaß sagen wir uns immer wieder: „ Sie müssen uns mit Brangelina verwechseln.“ Was ist es an uns, dass wir so viel Vertrauensvorschuss und Freundlichkeit verdienen? Wir haben unterdessen ein Wort dafür gefunden: Fremdenfreundlichkeit. Besonders im Iran und in China haben wir diese Erfahrung gemacht. Aber auch in den meisten anderen Ländern sind wir immer wieder mit dieser schönen Erfahrung konfrontiert. Schade und bezeichnend ist es, wenn wir zum Spaß mit Google eine Internet-Suche mit dem Wort „Fremdenfreundlichkeit“ starten, dass Google einen Tippfehler vermutet und uns fragt: „Meinten sie Fremdenfeindlichkeit?“ Ich möchte antworten: „Ja, eigentlich seltsam, da wo ich aufgewachsen bin ist scheinbar eher das Wort „Fremdenfeindlichkeit“ üblich. Ich bin selbst überrascht, meine aber in diesem Fall sehr entschieden „Fremdenfreundlichkeit“!

sdr

Bye, bye, China!

Drei Monate lang sind wir durch China gefahren. Das ist nach den USA die längste Zeit, die wir in einem Land verbracht haben. Als Radfahrer lernt man ein Land unweigerlich intensiver kennen. China hat uns nicht kalt gelassen. Wir litten unter den krassen Gegensätzen, die wir erlebten: die Freundlichkeit der Menschen auf der einen und der brutale, menschenverachtende Überwachungsstaat, den wir ertragen mussten, auf der anderen Seite. Als sensibel wahrnehmende Beobachter begleitete uns dieser düstere Aspekt Chinas während unseres gesamten Aufenthaltes und war oft belastend, wenn wir z.B. die Angst in den Augen der Menschen sahen.

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Uns hat angestrengt, nur sehr eingeschränkt mit den Chinesen kommunizieren zu können. So viele unserer Fragen an dieses Land blieben unbeantwortet. Normalerweise lernen wir recht schnell, uns einigermaßen in der Landessprache zu verständigen. Das ist bei Chinesisch nicht nur besonders schwer. In China ist auch viel der Zeit, die wir sonst für das Erlernen der Sprache verwenden, mit Polizeiarbeit draufgegangen.

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Neben vielen kulturellen Missverständnissen, die unserer Erfahrung nach stets noch viel größer sind als angenommen, verhinderte diese Sprachlosigkeit in vielen Situationen ein tieferes Eindringen in die chinesische Kultur. Das bedauern wir. Wir freuen uns schon sehr auf die kommenden Länder, in denen viele Alltagsprobleme so viel einfacher zu lösen sein werden, weil wir weniger Verständigungsschwierigkeiten haben werden. Hier in China haben wir keinen einzigen Menschen getroffen, der auch nur ein einfachstes Englisch sprechen konnte, das zur Verständigung taugte. Selbst am Flughafen oder in großen Hotels sind die einfachsten Standardsituationen nicht auf Englisch zu bewältigen. Wie viel Aufwand, Kraft, Ausdauer und Geduld zur Lösung der einfachsten Probleme nötig sind! Nach drei Monaten China sind wir dieser allgegenwärtigen Sprachbarriere müde.

Von vielem, muss ich zugeben, habe ich nun auch wirklich genug hier in China. Von den Kameras, die auch hier in Sechuan an jeder Straßenecke jeden Schritt der Menschen überwachen. Von den politischen Propagandaplakaten, die meterhoch und kilometerlang an jedem Bauzaun kleben. Und da in China eigentlich alles Baustelle ist, sind das sehr, sehr viele. In bunten Manga-Comic-Farben und im Stil der Wachturm-Zeitschriften der Zeugen Jehovas besingen sie eine Scheinwelt, die eine Lüge ist. Lächelnde Polizisten, die arme alte Mütterchen huckepack über die Straße tragen, begeisterte Kinder in roten Halstüchern, die Müll aufsammeln, Ringelreihen tanzende Minderheiten unterm Regenbogen in hübsch anzusehenden Folklore-Kostümen, in biologischen Pastellfarben gehaltene „Wir schützen alle ganz toll die Umwelt“- Fototapeten mit Händen, die sich bergend um blühende Mandelzweige legen. Vielleicht ist es ein Glück, das ich die dazugehörigen Texte nicht lesen kann. Wenn hinter diesen Plakat- Bauzäunen die Frauen, die auf der Baustelle wohnen und arbeiten, im Dreck stehen und sich die Haare in einer Plastikschüssel waschen, und wenn davor auf der Straße der Verkehr tobt und alte Männer auf Holzkarren Altpapierberge und weggeworfene Plastikflaschen transportieren, die sie sammeln um zu überleben, dann ist das kaum auszuhalten. Umso erbärmlicher und dümmer erscheint mir dann die unreflektiert hohe Meinung, die bei uns so viele von China haben.

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Es wäre falsch, wenn hier der Eindruck entstünde, wir sähen nur das Negative. Wer unsere Berichte aus China liest, weiß, dass dies nicht der Fall ist. Die Chinesen haben vor allem in den letzten 30 Jahren wirtschaftlich Beeindruckendes geleistet unter den schwierigen Bedingungen in ihrem riesigen Land. Wir haben die übergroße Freundlichkeit nicht nur der Uiguren und Tibeter, sondern auch der Han-Chinesen genossen und bewundert. Wir sind vielen Menschen dankbar, die uns auf unserem langen Weg durch dieses riesige Land begegnet sind.

Aber es gab vieles, was uns das Leben in China schwer gemacht hat. Wir sind rückblickend jedoch immer noch froh über unsere Entscheidung, durch dieses Land mit dem Rad zu fahren und so viel Zeit hier zu verbringen. Es war mühsam, China zu bereisen, aber wir bereuen nicht, diese Mühen auf uns genommen zu haben. Wir sind uns sicher, dass die staatliche Überwachung noch mehr zunehmen wird und eine selbstbestimmte Reise wie die unsere mindestens in den westlichen Provinzen bald nicht mehr möglich sein wird. Wir sind dankbar für die Erfahrungen, die wir auf diese Weise machen durften, denn vor unserer Ankunft hatten wir nur eine vage Vorstellung, was uns erwartet. Es war eine beeindruckende, fordernde Zeit, in der wir einen kleinen Einblick in dies riesige Land erhielten und uns ein eigenes, begründeteres Bild machen konnten. Wir haben viel über China gelernt.

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Anders als beispielsweise im Iran habe ich zu China aber keine Herzensbindung entwickeln können. In diesen letzten Tagen fühlen wir uns etwas müde und abgespannt, mehr emotional als körperlich. Da ist es ein schönes Gefühl, nach vorne zu schauen. Wir freuen uns riesig auf das, was vor uns liegt: Indien, der Besuch unserer Schule, Südostasien.

Wir sagen Danke und sehen trotzdem auch die dunklen Seiten dieses Landes. Jetzt, da wir China verlassen haben, könnt Ihr auch unseren Bericht über Xinjiang und den dortigen Polizeistaat auf der Berichteseite lesen (aus Vorsicht verschickten wir diesen bisher nur an unsere Abonnenten des Newsletters).

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