Weihnachten in Afrika

Die letzten Wochen waren hart. Sie haben mich an meine körperlichen und mentalen Grenzen geführt. Und dann war ich auch noch krank. Wenn der Alltag Dir so unendlich mühevoll vorkommt und die Stunden im Sattel nur noch Leiden sind, dann stellst Du Dir natürlich manchmal die Frage: Warum tu ich mir das an?

Ich weiß es nicht. Ich weiß tatsächlich keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Aber meine mich selbst erstaunende Erfahrung ist: Das spielt gar keine Rolle. Denn was ich sicher weiß, ist dies: Ich habe es noch keinen Moment bereut, dass wir nach Afrika aufgebrochen sind. Ich möchte noch nicht nach Hause. Ich möchte weiterfahren. Denn ich bin gern hier.

Wie kann das sein?
Ich habe viel nachgedacht über die Warum – Frage. Für mich gibt es keine logische Antwort. Ich kann keine Rechnung aufmachen, die auflöst, dass sich die Strapazen für dieses oder jenes, was wir erleben, „lohnen“ und unterm Strich dann für mich etwas auf der „Haben – Seite“ übrigbleibt.

Warum bin ich gern hier? Die Antwort steckt für mich in unserem Hiersein. Ich erlebe sie am eigenen Leib in unserem Eingebundensein in die Lebensfreude, Herzlichkeit und Zugewandtheit, die die Menschen hier in Afrika auf uns herunterregnen lassen. Die Antwort umspült uns wie ein Lebenselixier.

Afrika ist anders als alles, was wir bisher erlebt haben. Wir haben auf unseren Reisen ja schon viel Gastfreundschaft erfahren, immer und immer wieder berichten wir davon. Doch was uns hier in Afrika widerfährt, ist etwas völlig Neues. Auf unseren bisherigen Reisen hat sich das Unterwegssein so angefühlt, als würden wir vom Fahrradsattel aus fremde Kulturen betrachten, ein bisschen so, wie einen Dokumentarfilm anzuschauen. Hielten wir an, waren dies kurze Fenster in die Lebenswelt der Menschen vor Ort, wenn wir etwas einkauften oder nach dem Weg fragten. Wir nahmen kurz Kontakt zu den Menschen auf, aber die meiste Zeit über fühlte ich mich als Beobachterin.

Das ist auf diesem Kontinent völlig anders. Es ist unmöglich, das Leben hier nur unbeteiligt – distanziert vom Fahrradsattel aus zu betrachten. Manchmal wünsche ich mir das, weil es Kräfte spart und Dich ein wenig mehr bei Dir selbst belässt. Aber Afrika lässt Dich nicht bei Dir selbst. Afrika holt Dich aus der Vereinzelung. Wo auch immer wir sind, egal, wie Du Dich fühlst, in welcher Situation auch immer – die Menschen nehmen Kontakt zu Dir auf, interessieren sich für Dich, beziehen Dich mit ein, ob Du willst oder nicht. Sie holen Dich in ihr Leben hinein und bereichern Dich mit ihrer Freude und ihrer Hoffnung. So als würdest Du 1000fach adoptiert werden.

Du kannst kein Beobacher bleiben. Afrika ist eine Welle von Menschsein, die Dich umspült und mitreißt. Die Grundbedürfnisse von uns allen – gesehen werden, angenommen sein, wertgeschätzt werden – stehen hier im alltäglichen Miteinander an erster Stelle.

Wir sind jetzt seit einer Woche in der Hauptstadt von Sierra Leone, Freetown, einer Millionenstadt. Ralph kennt von seinen täglichen Einkäufen in unserer Straße mittlerweile jeden Einzelnen aus der Nachbarschaft mit Namen – die Bananenfrau, den Kioskbesitzer und seine neugeborene Tochter, den Friseur, den alten Herrn, der immer auf dem Autoreifen vor seinem Haus sitzt. Wenn Ralph auf die Straße tritt, ruft es von hier und da: „Hello Mr. Ralph! So nice to see you. How is your wife today? Is she doing better?“ Ralph sagte gestern: Es wird richtig traurig, wenn wir am Montag wieder aufbrechen.

Ich habe viel nachgedacht über die Warum – Frage. Sie begleitet mich seit meiner Kindheit, wenn man beginnt, seine Eltern mit „Warum?!?“ zu löchern. Die Warum – Frage ist eine lebenswichtige Frage. Sie ist Voraussetzung dafür, dass wir die Dinge hinterfragen, hinter das Offensichtliche blicken. Ohne sie können wir keine Probleme lösen. Ohne die Warum – Frage gibt es keine Bildung.

Und doch hat die Warum – Frage auch eine zerstörerische Kraft. Oft habe ich sie mir auf dieser Reise gestellt. Liebe Hasnae aus Layoune / Westsahara, lieber Aboubacar aus Nouakchott/ Mauretanien, lieber Med Salem aus dem Wüstenladen mitten in der Sahara: Warum lernt Ihr Deutsch, Englisch, Französisch? Ihr werdet niemals nach Europa kommen. Wäre es nicht sinnvoller, Eure Zeit und Energie in etwas anderes zu stecken? Was bringt es?

An dieser Stelle ist die Warum – Frage fehl am Platz. Denn sie macht alles kaputt. Weil die Antwort nicht darin liegt, „was es bringt“, warum es sich „lohnt“ oder ob es sich „auszahlt“. Die Antwort liegt in der Kraft, die die Hoffnung für Hasnae, Aboubacar und Med Salem bedeutet. Eine Kraft, die sie aufrichtet und die ihr Leben verändert. Eine Kraft, die uns aus diesen drei Menschen entgegengetreten ist und die uns tief bewegt hat.

Im Religionsunterricht behandeln wir regelmäßig das Thema „Biblische Visionen“. Die Bibel ist ja voll von prophetischen Visionen, Hoffnungstexten für eine gute und gerechte Welt. In unserer Welt, in der ständig gefragt wird: „Zahlt sich das aus? Was bringt mir das? Lohnt sich das?“ bleiben diese Hoffnungstexte oft nur schöne Worte, die nichts am Status quo verändern. Sie klingen wie billige Vertröstungen oder man hält sie schlicht für unrealistisch. Und damit für wertlos, denn es sind ja nur Träume. – Ist das die ganze Wahrheit?

Hier in Afrika habe ich gelernt: Eine Hoffnung zu haben verändert alles. Alles.
Die Hoffnung ist eine zähe Lebenskraft, die sich jeder Warum – Frage entzieht und der mit Logik nicht beizukommen ist. Was ich bisher in der Theorie im Religionsunterricht vermittelt habe, erlebe ich in Afrika jeden einzelnen Tag auf der Straße: Das Wunder der Menschlichkeit und der Hoffnung. Es begegnet uns in solchen Sätzen wie „We have problems, but we are moving.“ „You never stay alone in Africa.“ „God provides.“ „On est ensemble.“ Es begegnet uns in den Menschen, die uns jeden Tag entgegen kommen.

Mit Sierra Leone und Liberia stehen nun die Länder als nächstes auf unserer Reiseroute, die zu den allerärmsten der Welt zählen – eine Abwärtsspirale. Beide Länder wurden von 1990 bis Anfang 2000 von fürchterlichen Bürgerkriegen mit Hundertausenden Toten zerstört. Jeden Tag sehen wir Menschen in den Straßen, denen Gliedmaßen fehlen, die damals bei Machetenangriffen abgeschlagen wurden. Auf dem Markt verkaufen Kinder kleine Backwaren und wir wissen genau, dass sie zuwenig zu essen haben.

Hier in Afrika entfalten die biblischen Weihnachtstexte und die große Hoffnung auf Gerechtigkeit, die uns geschenkt ist, eine ganz neue Kraft für uns.

„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.  Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.“
Jesaja 9,1-6