Merhaba au Maroc

Die Worte, die wir in den letzten zwei Wochen am häufigsten hörten, lauten: „Merhaba au Maroc!“ Willkommen in Marokko! Quer über die Straße gerufen. Im Vorbeilaufen von einer Frau Imke schüchtern zugehaucht. Mit einem festen Händedruck nach dem Einkauf auf dem Markt vom Süßigkeitenhändler. Von Kindern im Chor nachgeschrieen über die Mauer des Schulhofs hinweg. Von Jugendlichen, die uns mit ihren Mofas überholen. Aus dem alten Mercedes 200 von gesetzten Herren mit Herzhaftigkeit und einer salutierenden Hand an der Stirn.

Das macht etwas mit einem. Täglich sind wir diesem Willkommensstrom ausgesetzt. Er umflutet uns. Überall ist ein Hauch von ihm zu fühlen. Und wenn wir denken, hier schaut einen ja gar niemand an und alle tun so beschäftigt, dann erheben wir zaghaft die Hand, setzen an zum Winken, und noch bevor unser Arm ganz erhoben ist, reißen die Leute die Hände hoch, rufen „Bienvenue“, „Bonjour“, „Ca va?“ eben das, was sie an Französisch noch aus der Grundschule erinnern. Sie werfen es uns zu, als hätten sie auf den Startschuß gewartet und mit unserem Zucken wäre jetzt das Willkommenheißen eröffnet. Waren sie nur verschämt oder in Starre versetzt durch die Überraschung uns zu sehen? Jetzt grüßen auch die bisher Coolen und Zurückhaltenden. Nein, wir übertreiben nicht. Nein, es ist nicht nur unsere positive Grundhaltung (die am Ende eines höhenmeterreichen, heißen Tages auch schwächer wird). Natürlich macht es etwas mit uns, täglich dieser Freundlichkeit ausgesetzt zu sein.

Etwas mehr als zwei Wochen sind wir nun in Marokko und wir haben noch keine anderen europäischen Touristen getroffen. Das liegt zum einen daran, dass es noch nicht Touristensaison ist. Für vernünftige Reisende ist es noch zu warm. Warum wir aber eigentlich auch keine Touristen sehen können, liegt daran, dass wir nicht durch Touristenorte kommen (Chefchaoune ausgenommen, das die Höhenmeter definitiv nicht wert war). Wir fahren durch die Heilbronns und Aalens Marokkos, durch die Mannheims und Reutlingens. Nicht Marrakesh oder Meknes liegen auf unserer Route, sondern Sidi Benour, Tiflit, Settat und Sidi Slimane (Imkes Liebling). Das sind Städte, deren Wikipediaeinträge nicht mehr als zwei Zeilen zur Rubrik „Sehenswürdigkeiten“ vermerken. Da gibt es nichts zu sehen. Warum tun wir uns das an?

Chefchaouen, eine Altstadt wie in vielen anderen marokkanischen Städten, die aus touristischen Gründen blau angemalt wurde.
Der Markt von Sidi Slimane unter unserem Hotelfenster war erst nachts richtig gut besucht, als wir schlafen wollten.

Vorgestern in Settat auf der Straße bekamen wir die Antwort auf diese Frage. Wir standen ratlos vor einer Reihe Garbuden, die Tajine und Fleischspieße im beißenden Rauch der Kohlefeuer anboten und konnten uns nicht entscheiden. Beiläufig entdeckte Imke Frauen dreier Generationen beisammen auf den Stufen in der Nähe sitzen und grüßte nickend in ihre Richtung. Wieder geschah, was ich oben zu beschreiben versuche: Begeisterte Reaktion der Oma, Mutter und Tochter springen auf und kommen auf Imke zu. Die 19 jährige Tochter ist zurecht stolz auf ihr Englisch: „Welcome to Maroc!… Wie schön, dass Sie meine Heimatstadt besuchen! Warum sind Sie nach Settat gekommen?“ Auf unsere Radreiseerklärung folgt der Satz: „Good that you came here. This is the real Maroc!“

Auswahl ist überschätzt. Oft setzen wir uns einfach hin, der Koch schneidet ein Stück Fleisch ab und etwas später liegt vor uns etwas Essbares auf dem Teller.

„Das echte Marokko kennenlernen“ ist allerdings ein abgedroschener Reiseveranstalter-Spruch, der oft mit trommelnden Beduinen und Kashbahs und Berberzeltübernachtungen verbunden wird. Das echte Marokko? Das echte Marokko ist zu arm, als dass es für uns sowas wie Hotels bereithalten würde. Für wen auch? Hier gibt es keine Touristen, auch keine marokkanischen. Und die Handlungsreisenden sind arm, zu arm für Herbergen, auch die billigsten. Sie schlafen in ihren Kleintransportern oder bei Bekannten von Bekannten.

Das echte Marokko kann sehr anstrengend sein und Jorf el Melha heißen. Das war heute unser Tagesziel. Und wir wussten eigentlich, dass wir dort nichts zum Übernachten finden würden. Aber weiter würden wir an diesem Tag nicht kommen. Es war der letzte Tag im Rifgebirge und die Steigungen waren brutal. Jorf el Melha lag in der beginnenden Ebene. Davor und dahinter keine größere Ortschaft, die wir an einem Tag erreichen könnten. Wir waren im „echten“ Marokko.
So setzten wir alle Hoffnung auf die Größe von Jorf el Melha (30.000 Einwohner), denn seine Schönheit konnten wir nicht erkennen und vor uns wohl auch kein Tourist. Der Wikipediaeintrag vermerkt unter Sehenswürdigkeiten einzig: „Das Stadtbild hat insgesamt ein modernes Aussehen.“ Wir stellten schnell fest, was wir schon wussten, hier gibt es keine Übernachtungsmöglichkeit. Dies bestätigte auch wortkarg der einzige Verkehrspolizist am zentralen Kreisverkehr.

2000 km, kein Plattfuß, kein Durchfall.

Wir hatten uns früh aufgemacht und es war gerademal Zeit für das Mittagsgebet und die Temperatur hatte schon wieder 35 Grad erreicht. Knapp 80 Kilometer und rund 1000 Höhenmeter hatten wir schon auf dem Tacho heute. Der Verkehrspolizist fügte unengagiert hinzu „70 Kilometer bis Sidi Slimane, dort gibt es ein Hotel“, dann fuhr er mit seinem alten Renault weg. Vermutlich war es ihm auch zu warm hier im schattenlosen Gleißen. Wir parkten die Räder und lehnten uns in den Schatten der nächsten Mauer. Häßlich war Jorf el Melha. Man musste es leider so sagen. Oder sah es nur in unseren Augen zu dieser unbarmherzigen Stunde so aus?
Bis Sidi Slimane schaffen wir es heut nicht mehr. Wir kennen unsere Grenzen. Würden wir uns mit der Auskunft eines müden Polizisten zufriedengeben? Rhetorische Frage. Der nächste Passant war mit seiner Hornbrille und den grauen Haaren des gesetzten Alters irgendwie sympathisch aussehend. Er führte einen geistig behinderten Herrn langsam über den Platz. Als wir ihn fragten, erwarteten wir ein Wunder, eine positive Überraschung entgegen besseres Wissen. Wir erhielten ein sehr höflich, umständlich formuliertes „Nein, bedaure“. Ein Lächeln, dann ging er weiter.

Das sind Situationen, die das „echte“ Marokko bereithält. Wir lieben sie nicht. Sie sind anstrengend, kosten Nerven. Rückzug in den Mauerschatten. Kraft schöpfen. Möglichkeiten erfinden. Zelten draußen auf dem Land? Geht nicht. Alles Kulturland, dicht besiedelt. So arm, dass der Platz, den ein Touristenzelt einnehmen würde, schon von Hühnern, Hunden, Ziegen, Acker, Gemüsegarten oder Müllhalde belegt sind.

Es braucht etwas Übung sich die Verpflegung für Radler zusammenzusuchen.

Was wir nicht wissen: Die Frage an den Hornbrillenträger hörte noch ein anderer Passant, der jetzt zaghaft auf uns zutritt. Wir sehen ihn erst, als er unmittelbar vor uns steht: zerfurchtes, dunkles Gesicht, schwarze Traininghose, Poloshirt mit einem Aufdruck aus dem Senegal (warum fällt mir das auf?), Adiletten, in der Hand ein Feuerzeug, Mitte 50. Er legt die Hand auf’s Herz, grüßt auf Arabisch „a Salam“. Dann sagt er auf gebrochenem Französisch, wir sollen bitte zwei Minuten warten, deux minutes. Er geht weg.

Wir denken: Marokkos Möglichkeiten. Ich bin so müde, dass ich mich nicht bemühe auszudenken, was das werden könnte. Wir warten.
Plötzlich steht er wieder vor uns. Eine angedeutete Verbeugung, eine Handgeste: „Sie sind willkommen in meinem Haus zu übernachten.“ Imke behauptet später, er habe noch gemurmelt, dass er erst seine Frau habe fragen müssen. Ich hörte das nicht. Vielleicht weil mir zu warm war.

Er lief voraus. Wir schoben unsere Räder hinter ihm her. So zog eine kleine Prozession durch Jorf el Melha. Er ging langsam. Wusste er nicht mehr wo er wohnte? Sahen wir so müde aus, dass er uns nicht stressen wollte? Imke meinte eindeutig den Grund zu wissen: Seine Frau würde zu Hause ja Zeit brauchen, um die Wohnung aufzuräumen. Da kam ich natürlich nicht drauf.

Mir ging anderes durch den Kopf: Wir kennen diesen Herrn ja gar nicht. Er hat nichts in seinen Hosentaschen (bei Schlabberhosen sieht man das ja). Sein Feuerzeug hält er in der Hand (ordentliche Marokkaner rauchen nicht?). Soziales Milieu – kann ich das überhaupt einordnen, hier in der Fremde? Droht uns Gefahr? Ach Quatsch. Dass er so langsam lief, beruhigte mich irgendwie. Was mich allerdings noch mehr beruhigte war die Tatsache, dass der unserer kleinen Prozession Vorangehende aus allen Richtungen gegrüßt wurde. Von den Alten, von den vertrauenswürdg Aussehenden, von den Müttern, von Kindern. Da dachte ich – das ist gut so. Wir lassen uns jetzt leiten.

Zwei Packesel und eine Berberfrau mit Bommelhut.

Als ich an diesem Punkt mit meinen Gedanken angekommen war, endete unser Gang. Wir standen vor einem ärmlichen Mehrfamilienhaus. Er öffnete die Tür der Erdgeschosswohnung und sagte: „Das ist jetzt Euer Haus.“ Und so war es. Denn nachdem er die Überdecke vom Ehebett genommen hatte, damit wir uns ausruhen können, ging er weg und zog die Haustür hinter sich zu.

Wo waren wir hingeraten? Die ganze Wohnung maß etwa 40 Quadratmeter. Das Schlafzimmer und ein kleines Wohnzimmer, der Flur, in dem unsere staubigen Räder standen und die kleine Küche. Kaum Möbel. Sieht so das echte Marokko aus? Imke war gleich klar, was fehlte für das echte Marokko: Die Frau und das Kind. Auf der Kommode waren Schminkartikel und in der Ecke ein verblichener rosa Schulranzen. Es war also absehbar, dass wir bald Besuch bekommen würden in unserem Haus. Darum taten wir das Naheliegende in dieser ganz fernliegenden Wirklichkeit: Wir wuschen uns im „Bad“ und zogen frische Kleider an (Am Ende des Tages sind unsere Kleider weiß von Salzkrusten). An dieser Stelle müssten die sanitären Einrichtungen beschrieben werden, würde es nicht der Respekt vor der Privatsphäre unserer Gastgeber verbieten. Unsere Gastgeber waren nicht wohlhabend. Es war schwierig. Aber nach einer halben Stunde standen wir frisch gewaschen und eingekleidet da und wussten jetzt nicht was tun. Wir legten uns aufs Bett und ließen den Gedanken in uns einsinken, dass dies das Bett von fremden Menschen ist, die völlig fremden Menschen ihre Wohnung geöffnet haben und sie in ihrem Bett schlafen lassen. Ein schwerer Gedanke, der bei mir gar nicht so einfach sinken wollte. Er sperrte sich und kam mir immer wieder hoch.

Es war seltsam. Warum hatte ich vorher beim Gang durch das Viertel nur daran gedacht, dass ich einem Fremden folge. Warum kam mir nicht der umgekehrte Gedanke, dass da jemand zwei Fremde in seine Wohnung holt? Jetzt, auf dem Ehebett des Paares liegend, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, war mir dieser Gedanke ganz seltsam und ich konnte ihn nicht vertraut machen.

War ich kurz eingenickt? Die Haustür wurde geöffnet. Wir sprangen auf vom Bett, waren wir wohl beide erschrocken. Imke sagte instinktiv: „Das ist jetzt die Frau.“ Woher wusste Sie das? Ich war sehr müde. Natürlich war es die Frau. Fatmah stand in dieser winzigen Wohnung Imke gegenüber und riss die Arme hoch, dann schloss sie Imke in eine heftige Umarmung. Später sagt Imke darüber: So heftig drücken mich nur die allerengsten Freunde – nur ganz wenige. Dann, es war erst vier Uhr nachmittags, für die nächsten drei Stunden die wichtigste und eigentliche einzige verbale Kommunikation: „MANGE!“ „Esst!“ Leider war der Fernseher kaputt, so dass wir ohne Sprache drei Stunden Konversation zustandebringen mussten. Das war anstrengend. Aber irgendwie fanden wir uns ein in diese kleine Familie, denn die 10-jährige Dohar zeigte uns ihre Schulhefte, zählte uns auf Französisch vor und wir malten ihr Herzen und Fahrräder auf Papierblätter, die dann zu Ikonen gefaltet wurden und in den Rahmen des toten Fernsehers gesteckt wurden. Wir aßen und wir aßen und wir aßen. Dann waren wir müde. Noch müder als zuvor. Totmüde. Wir konnten das sehr gut kommunizieren, weil man es uns ansah. „Jaja, legt Euch ein wenig hin.“ Halthoppla, haben sie gerade gesagt „ein wenig“? Ist das alles ein Missverständnis und wir werden wieder weitergeschickt? Draußen wird es gerade dunkel. Ist das hier eine Einladung zum Essen und nicht zum Übernachten? Uns wird noch heißer als uns ohnehin ist. Wir haben doch schon geklärt, dass wir morgen vor der Dämmerung aufstehen und gehen werden. Wir klären das nochmal – alles ohne gemeinsame Sprache und der Hausvater bestätigt erneut, dass alle im Haus um halb sechs morgens mit uns aufstehen werden. Also alles gut. Aber irgendwie bleibt die kleine Verwirrung, als wir uns ins Schlafzimmer zurückziehen und auf dem Ehebett sofort einschlafen.

Plötzlich, mitten in der Nacht, klopft es dröhnend an der Schlafzimmertür. Ich bin schlagartig wach und denke: Jetzt schicken sie uns doch weg. Wohin jetzt, mitten in der Nacht? Alles geht mir gleichzeitig durch den Kopf, während ich mich hastig anziehe. Vor der Tür steht unser fröhlicher Hausvater und sagt: „Das Essen ist fertig.“
Ich starre ins Leere und versuche mich daran zu erinnern. War das eventuell nur ein Traum, dass ich mich gerade eben mit Fleischbällchen, Couscous, Keksen, Pfirsichen, Melone und Trauben sattgegessen habe? Kurz weiß ich tatsächlich nicht, in welcher Wirklichkeit ich mich befinde. Unterdessen sind die 10 jährige Dohar und die Mutter im Türrahmen erschienen. Alle schauen uns erwartungsvoll an. Wir sind in einer Zeitschleife gefangen: „Mange!“ „Esst, esst Freunde!“ Es war halb zwölf Uhr nachts und wir aßen.

Schwäbische Knöpfle

Diesmal waren es schwäbische Knöpfle (Marokko-Version) mit Hühnerbratensoße und hartgekochten Eiern und Hühnchenfleisch. Wir aßen, wie schon knapp drei Stunden zuvor, aus einer großen Schüssel, in die wir Fünf unsere Löffel tauchten. Dabei wurde das Spiel fortgesetzt, das wir schon von vorhin kannten: Jedes Familienmitglied schob heimlich die Fleischstücke Zentimeter für Zentimeter in unseren Sektor. Wir beobachteten, dass die anderen nur ganz kleine Bissen nahmen und imitierten das höflich (wir waren ja ohnehin schon satt). Daraufhin, weil wir ja ganz genau beobachtet wurden, begeistert und besorgt zugleich, wurden wir aufgefordert: „Mange!!“ „Esst!“ Wir aßen und schoben das Fleisch höflich wieder in den neutralen Sektor der Gemeinschaftsschüssel zurück. Daraufhin wurde zurückgeschoben und auf das Fleisch hingewiesen: „Mange!“. Was bedeutete dieses Fleischgeschiebe? Wir sind überzeugt: Fleisch ist teuer und soll für die Gäste übrigbleiben. Ein Spiel also der reinen Fürsorge und Gastfreundschaft.

Als wir zum Nachtisch gelangten, ist es halb zwei Uhr morgens. Vor genau 12 Stunden waren wir auf dem heißen Platz beim Verkehrskreisel angekommen. Wir waren von den Ereignissen des Tages gezeichnet und durften uns dann auch endgültig verabschieden in den kurzen, schwitzigen Schlaf.

Vier Stunden später klingelte unser Wecker. Wir zogen uns mechanisch an und strichen eine Schicht Sonnencreme auf die Schweißschicht und die nur teilweise entferte Cremeschicht von gestern.

Wenn es einen Moment gibt, der uns die Absurdität unserer Unternehmung hart und unbarmherzig vor Augen führt, dann ist es dieser. Ab dem Aufstehen wird die Schwitzerei mit jeder Stunde des Tages schlimmer werden und daher ist das Auftragen (es ist so eine Art Überstreichen) der Sonnencreme zu diesem frühen Zeitpunkt am relativ günstigsten. Während der kurzen Minuten dieser Tätigkeit ersterben die Gespräche zwischen uns. Alle innere Stärke während dieser Prozedur bringt man dafür auf um sich von dem Empfinden des Ekels zu trennen. Wir nennen das „die Creme-Meditation“. Wir hassen sie.

Sedimente des Leidens

Dann satteln wir die Pferde, unter den stillen, müden Blicken der Familie, die sich um uns versammelt hat. Es wird kein Wort gesprochen. Dohar fällt uns dazwischen immer mal wieder schluchzend um den Hals und küsst uns auf die Wangen – das tat sie auch schon im Laufe des langen gestrigen Abends. Wir stehen vor dem Haus, die Welt ist noch nicht erwacht und die Straßen noch still. Eine Kuh steht vor der Haustür, die Hunde bellen noch nicht. Wir reichen uns die Hände, die Frauen umarmen sich. Die Familie weint. Sie winkt, während wir langsam losfahren. Als wir um die Kurve biegen und aus dem Blick zu geraten drohen, treten sie alle drei vor auf die Straßenmitte, um uns noch länger zu sehen und zu winken.

Wir fahren in den Morgen. Die Sonne wird erst in einer Stunde aufgehen. Irgendwie bin ich froh, dass ich nur Fahrradfahren muss in diesem Moment. Die mentale Rüstung, die wir uns immer mal wieder anlegen müssen auf dieser Reise, ist nicht mehr da.

Der beste und ziemlich einzige Wildcampingplatz weit und breit.
Wir stehen um 5:30 Uhr auf. Um 7 Uhr wird es hell, dann sind wir auf der Straße.

Während der Stunden im Sattel haben wir viel Zeit zu beobachten. Mit den Beobachtungen kommen die Gedanken. Ein älterer Herr (70?) reitet auf einem Esel uns entgegen. Eine Hacke in der Hand. In den Dörfern liegen auf den unbebauten Flächen tausende von Plastiktüten und Hausabfälle. Immer mal wieder auch verwesende Tiere, denn es stinkt fürchterlich. In der Mittagshitze begegnet uns mitten auf der Straße ein Afrikaner mit sehr dunkler Haut, seine Kleider sind unvorstellbar schmutzig. Er läuft barfuß über den heißen Asphalt, den Blick starr zu Boden geheftet. Er hat keinen Rucksack, keine Tasche, seine Hände sind leer. Das nächste Dorf ist mehr als 15 Kilometer entfernt und es ist sicher nicht sein Heimtatdorf. In einiger Entfernung liegen zwei Hirten mitten auf dem trockenen Feld umgeben von einer Handvoll Schafen. Sie winken uns zu, obwohl wir nur zwei winzige Punkte am Horizont sind. In dieser doch auch oft tristen Umgebung sind die Schulen immer besonders bunt angemalt. Das ist schön, sollen die Kinder doch vielleicht irgendwie dadurch Fröhlichkeit erfahren. Aber dieser Gedanke macht uns dann im Kontrast zum Rest manchmal besonders traurig. Auch das ist das echte Marokko. Davon machen wir keine Bilder. Nicht mit der Kamera.

Wir kauften morgens nur Brot und Käse. Der Kioskladenbesitzer organisierte sofort einen Tisch und Stühle für uns.

Wir waren an diesem Tag dann doch etwas stiller und empfindlicher unterwegs. Es macht eben etwas mit einem, dieses Marokko. Da schreckte uns ein schriller Schrei aus unseren Gedanken auf. Wir fuhren gerade durch die lose Ansammlung von Lehmhütten eines ärmlichen Dorfes und es ging in der Nachmittagshitze mal wieder bergauf. Wir waren langsam und befürchteten ja immer, dass die Hunde uns doch noch erwischen. Aber diesmal klang es anders. Es war nicht das Übliche: keine Kinder, keine Hunde, keine Hupe.

Es war ein Schaf. Ein sehr kleines, sehr aktives Schaf. Als es uns entdeckte hinter der halbhohen Trockenmauer rief es erstaunt aus. War es allein oder wollten die anderen nicht hören? Niemand antwortete ihm. Sein Ruf galt uns. Es rannte hinter der Mauer neben uns her und rief erstaunlich laut, sehr aufgeregt. Imke erinnerte sich später gehört zu haben: „Schaut mal! Da kommen Fremde! Jetzt guckt Euch das mal an! Wahnsinn! Hier bei uns im Dorf, wo sonst kein Furz durchkommt!“ Niemand reagierte. Darauf änderte sich ganz offensichtlich der Mindset dieses Schafs. Wir konnten es nicht nur an seinem Blöken hören, es änderte entschieden und zielstrebig auch seine Richtung. Ich erschrak. Es übersprang die Mauer und verfolgte mich. Wurde es von Hunden aufgezogen und reagierte wie sie jetzt auch auf Radfahrer? Ein kleines Schaf jagte mich. Ich war schockiert, das war neu. Instinktiv trat ich stärker in die Pedale um Distanz zu gewinnen. Ich kannte mich nicht aus mit dem Agressionspotential von Schafen. Als ich mich wieder umdrehte, war ich etwas erleichtert. Jetzt trottete es neben Imke her. Es spürte wohl deutlich Imkes Weltneugier und ließ sich davon anstecken.

Das sind unsere Picknickplätze. Ohne Schatten gibt es kein Anhalten.

Ich musste ein zweites Mal hinschauen und sah jetzt: Das war kein Trotten, das waren Freudensprünge. Die ganze Zeit laut blökend hatte das kleine Schaf entschieden, die in ihm schon seit langem schlummernde Reiselust endlich auszuleben. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen den Horizont zu treffen. Imke in ihrer Hitzeapathie schafsähnlich war ihm auf Anhieb sympathisch. Fröhlich und entschieden schloss sich das kleine aktive und erstaunlich laute Schaf uns an. So zogen wir gemeinsam durchs Dorf. Niemand schien uns wahrzunehmen. Es gibt keine Zeugen. Aber es war so. Genau so. Nach einigen Minuten, unterdessen auf freiem Feld, entschied sich das Schaf für eine andere Richtung. Sein begeistertes Blöken hörten wir aber noch lange. Imke erklärte mir später, dass es entschieden hatte wieder zu den anderen Schafen zurückzukehren, um ihnen zu erzählen, dass es fast den Horizont getroffen hätte. An diesem Tag war es so warm, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie das wirklich glaubte gehört zu haben.

Nach 70 Kilometer finden wir, wie vom Verkehrspolizisten angekündigt, ein sehr sehr einfaches Hotel in Sidi Slimane. Der Alte auf dem Esel könnte sich vom Geld, das hier eine Übernachtung kostet, 100 Brote kaufen.

Am 13 September erreichten wir zur Zeit des Mittagsgebets Safi und sehen den Atlantik. Die erste Etappe unserer Marokkoreise geht hier zu Ende. Ab jetzt werden wir lange Zeit der Küste nach Süden folgen. Sehr lange Zeit. Und ein Marokkaner würde hinzufügen: Inshallah. So Gott will.

Am Ende eines 100 km-Tags sind wir in Safi am Atlantik angekommen. Rund 2000 km und 40 Tage nach unserem Aufbruch in Biberach.
Rifgebirge
Ein echter Campingplatz mit dem Flair von Wildcamping.
Das Rifgebirge war meist optisch unspektakulär, sehr steil und heiß.
Und überall stank es nach Cannabisplantagen.