Mauretanien

Vom Ende her werde ich diesmal erzählen müssen, damit die Dinge in die richtige Reihenfolge kommen. Wir waren erschöpft. Die Sonne hat uns schließlich mürbe gebrannt und mit jedem Tag wurde die Hitze unerträglicher. Schon einen ganzen Monat fuhren wir jetzt durch die Sahara. Über 2000 Kilometer. Und dennoch waren wir immer noch nicht raus aus der Wüste. Nur noch 250 Kilometer sind es, bis wir den Fluß Senegal erreichen und damit das definitive Ende der Sahara. Aber wir sind erschöpft und ausgelaugt von der Hitze. Jetzt sitzen wir in einem klimatisierten Zimmer und empfinden das als große Erleichterung. Gleichzeitig liegen die Nerven blank und wir haben das Gefühl, dass wir uns jetzt schon sehr lange immer von Versorgungsposten zu Versorgungsposten retten müssen. Dass das Dazwischen sich je länger desto mehr nach einem hastigen Schutzsuchen anfühlt. Dann, wenn wir den nächsten Punkt erreicht haben, wo es Wasser gibt und wir übernachten können, sind wir erholungsbedürftig und müssen gleichzeitig schon wieder den nächsten Schutzraum vorausplanen.

Wenn es nichts mehr gibt außer Schildern, die Schatten spenden.
Noch 50 Kilometer liegen an diesem Tag vor uns und längst ist die Leidensgrenze erreicht.

Draußen hat es wie auch schon in den letzten Tagen 43 Grad. Allein kurzes Stehen in der Mittagshitze fühlt sich bedrückend an. Wir atmen flacher, um die Beklemmung, die sich um den Brustkorb legt, kontrollieren zu können. Ja, auch wir fragen uns manchmal, selten, warum wir nicht einfach in den Tag hineinfahren können in gemäßigten Zonen. Dann haben wir kurz mal die Schnauze voll.

Ganz abgesehen von der psychischen Belastung ist diese Hitze auch körperlich bedrohlich. Immerhin fahren wir bei diesen Temperaturen fünf bis sechs Stunden Rad täglich. Wir sind vorsichtig und das äußert sich in noch mehr Planungsaufwand und noch mehr Kontrolle der Bedingungen. Das trägt aber auch nicht gerade zur mentalen Entspannung bei. Auf den letzten Etappen zeigt uns die Wüste nochmal ihre Kräfte und wir fühlen uns winzig.


So gehen wir  jetzt auf die „Straße“ hier im Zentrum von Nouakchott, der Hauptstadt von Mauretanien, wo wir drei Ruhetage einlegen. Wie muss man sich das vorstellen? Wir treten hinaus. Es gibt keinen Asphalt, keinen Gehweg, keinen Verkehr. Tiefer Sand liegt zwischen den Häusern, hier und da Plastikmüll. Es gibt keine Schaufenster, keine großen Geschäfte und praktisch keinen Auto- oder Mopedverkehr. Eigentlich ist es stiller als in einer Fußgängerzone. Es ist zwar ein Wohnviertel, aber das Stadtzentrum ist keine 500 Meter entfernt. Nouakchott ist eine Stadt besiedelt ursprünglich von Nomaden. Eigentlich noch keine 60 Jahre alt, chaotisch gewachsen, uferlos und hässlich. Die ausufernden Slums bestehen aus Lumpenzelten. Aber hier ist es schön ruhig und fast idyllisch wie auf einem Dorf. Zwischen dem Plastikmüll flattern wunderbare Schmetterlinge. Eine Handvoll Menschen läuft durch die unbeschreibliche Helligkeit.

Im Zentrum der Millionenstadt Nouakchott.

Unsere Aufgabe lautet: Wäsche aus der „Wäscherei“ abholen (30 Meter entfernt), im Miniladen (20 Meter entfernt) ein paar Lebensmittel einkaufen für die nächste Etappe in den Senegal. Ganz außergewöhnlich: Unsere Laune ist schlecht. Immer dieselben Vorbereitungen, immer dieselben „Aufgaben“. Die Hitze macht uns gereizt.

Fast drei Monate haben wir beinahe täglich unsere Kleider von Hand gewaschen. Gestern trafen wir einen jungen Mann, Aboubacar, der Deutsch sprach und es stellte sich heraus, er betreibt eine Waschmaschine in diesem sechs Quadratmeterraum ohne Tür an der Kreuzung (wo er auch wohnt, auf einer Matte, neben der Waschmaschine). Also lassen wir unsere Wäsche zum ersten Mal waschen. Ist es doch unser erklärtes Ziel auf unserer Reise hier: 1. flexibel bleiben im Alter. 2. unser Geld statt in Oberschwaben in Afrika ausgeben. Beides geht in diesem Fall sehr einfach.

Es gibt meist nicht viel Auswahl, aber bei 43 Grad ist der Fisch vielleicht nicht mehr ganz das Richtige für uns. Man sieht Imke ihre Gedanken an.
Nach 40 Kilometern kommt dann endlich ein Laden. Meist sieht er nicht sehr einladend aus.

Trotzdem hatten wir wie gesagt schlechte Laune. Wir waren erschöpft. Und jetzt kommt dasjenige, das von hinten erzählt die Dinge in die richtige Reihenfolge bringt. Innerhalb der nächsten 15 Minuten treffen wir drei Menschen, die unsere Welt vom Kopf auf die Füße stellen werden.

Wir sind noch unter Schock über die Außentemperatur, da kommt uns innerhalb der ersten Minute ein junger Mann in traditionellem Beduinengewand entgegen, Kopf in das typische Tuch gehüllt, blauer Umhang. Er bleibt stehen, als wir an ihm vorbeilaufen: „Hello! How are you?“ Manchmal rufen einem das die Kinder hinterher, weil sie ihre Aufregung rausschreien müssen. Aber er meint es ernst, schaut uns an und deutet eine kleine Verbeugung an. „We are fine. How are you?“ entgegnen wir unterdessen schon recht routiniert, egal ob auf Englisch, Spanisch, Französisch. Alles ist möglich.
In der Regel ist damit die Unterhaltung beendet. Denn man redet während des Weitergehens oder Vorbeifahrens (übrigens in Afrika scheinbar sehr verbreitet). Und wenn die Gesprächspartner aneinander vorbei schon weiter entfernt sind, dann hilft auch lautes Rufen nicht mehr und der Wüstenwind nimmt den letzten Teil der Unterhaltung auf immer mit. Aber diesmal ist es anders. Er bleibt stehen, wartet, überlegt und bedankt sich für unsere Gegenfrage, lächelt und sagt: „Welcome“, legt die Hand aufs Herz, nickt nochmal mit dem Kopf und läuft weiter.

Jede Nomadensiedlung hat auch einen Schattenaufenthaltsraum. Er ist lebensnotwendig für die Durchreisenden.
Die Nomaden, die früher in luftigen, kühlen Zelten wohnten, bekommen von der Regierung Einraumquader aus Beton und Wellblech hingestellt. Schlimmer als ein Backofen.

Wir sind nicht mehr ganz in der Spur unserer Gereiztheit. Irritiert und nachdenklicher kommen wir in der „Wäscherei“ an. Morgens brachten wir die Dreckwäsche hin und jetzt kurz vor 16 Uhr sollte sie fertig sein. Aboubacar hat sich schick gemacht. Das sehen wir sofort. Morgens noch in Arbeitskleidung, hat er jetzt eine himmelblaue Dschellaba mit einem schwarzgoldenen Rand angelegt. In absoluter Perfektion gebügelt – er ist schließlich der Mann der Wäscherei. Er ist aufgeregt. Reicht uns sofort unsere Wäsche, jedes Stück einzeln in Folie eingelegt mit Seidenpapier dazwischen, in akuraten Bügelfalten, gefaltet jenseits jeder Vorstellung. Wir erkennen unsere löchrigen, verblichenen Lappen nicht wieder (die wir jetzt rund zwei Monate jeden Tag anhatten). Wir fragen nach dem Preis. Aboubacar will auf gar keinen Fall Geld dafür (damit sich hier niemand Sorgen machen muss: geben wir ihm nach langem Hin und Her natürlich trotzdem). Er will sich auf Deutsch mit uns unterhalten und uns ein B1-Zertifikat zeigen aus Dakar, Senegal. Nein, er komme nicht aus dem Senegal, er sei von hier. Aber hier gibt es kein Goetheinstitut. Das gebe es in ganz Westafrika nur in Burkina-Faso (Ouagadugu), in Dakar und in Abidjan. Deswegen sei er in den Senegal, um dort Deutsch zu lernen. Er zeigt uns auch sein Praktikumszeugnis, das er bei einem deutschen IT – Unternehmen hier in Nouakchott absolviert hat. Er schwitzt vor Aufregung und weist uns darauf hin, dass das alles auf Deutsch geschrieben sei. Das sagt er, während ich die Dokumente in den Händen halte. Ich glaube, er hat Tränen in den Augen. Ich bin überzeugt, er hat Tränen in den Augen.

Ich versuche so zu tun, als würde ich mich entspannen können und als wäre mir gar nicht heiß. Abends lässt der Wind nach und alles fühlt sich noch viel schlimmer an.

Parallel zum Gespräch denke ich: Natürlich hat er Tränen in den Augen. Auch ich bin traurig, weil seine mit Händen zu greifende Hoffnung und die für uns schwer vorstellbare Anstrengung, die er unternommen hat, in so krassem Gegensatz stehen zu den hoffnungslosen Umständen, in denen er lebt. Er wird nie nach Deutschland kommen können, denke ich. Alle Hoffnung liegt zerstört hier in diesem sechs Quadratmeter großen Hitzeofen offen vor uns. Ich weiß es, er weiß es. Er will es nicht aussprechen, er will lieber von der Hoffnung sprechen. Dass er uns getroffen hat, gibt ihm die Möglichkeit, sich diese Hoffnung noch einmal selbst zu erzählen. Er macht eine lange Pause und hat Tränen in den Augen. Ich sage: „Es ist schwierig.“ Er nickt und schweigt.

Immer wieder nimmt er meine Hand und dankt uns, dass wir zu ihm gekommen sind. Mit keinem Wort erwähnt er die Hoffnung in Deutschland arbeiten zu können. Bis zum Ende nicht. Ich bin sicher, dass er uns nicht in Verlegenheit bringen möchte und dass er schweigt, weil er uns nicht belästigen möchte. Dann verpackt er die Wäsche, die schon verpackt ist, in eine weitere Tasche. Tatsächlich winkt er uns hinterher. Er bleibt in der türlosen Tür stehen, bis wir um die Ecke biegen.

Jetzt sind wir völlig aus der Spur.

Was hatte uns genervt? Warum wollten wir irgendwo anders sein? Plötzlich waren die Antworten nicht mehr passend. Scheinriesen, Luftspiegelungen, Selbsttäuschungen.

Ich weiß nicht mit was die Ziegenkadaver gefüllt waren, die neben mir hingen. Ganz praktisch, dass in der Hitze auch das Hirn runterfährt.

Schweigend legen wir die 20 Meter zur „Boutique“ zurück (so heißen hier die Lebensmittellädchen). Ich bin überzeugt, dass wir Ähnliches denken und empfinden. Als wir uns kurz anschauen, bevor wir in den winzigen Raum treten, haben auch wir irgendwie vielleicht Tränen in den Augen. Manchmal trifft uns diese strahlende Hoffnung in einer so hoffnungsarmen Umgebung sehr mächtig. Dann denke ich, dass im Vergleich zu dieser Traurigkeit alle anderen Umstände der Wüste leicht zu verkraften sind.

Nach solchen Begegnungen sind die eigenen Anliegen durcheinander. Nein, eigentlich ganz das Gegenteil: geordnet – eben vom Kopf auf die Füße gestellt, nicht mehr verkehrtherum in ihrer Reihenfolge.

So betreten wir den Winzigladen und alles entfaltet sich in einer Klarheit, die sich aus den reinen Ereignissen nicht erschließt. Denn nichts ist irgendwie ungewöhnlich. Unter der Theke liegt ein sehr alter Herr. Er richtet sich mühsam auf und begrüßt uns traditionell auf Arabisch: „Friede sei mit Dir.“ Ich antworte unterdessen schon etwas geübt mit „Auch mit Dir sei Friede“.  Er schaltet sein Transistorradio aus, das er gerade noch ans Ohr gedrückt hielt. Hinter der kleinen Theke legt er den Kopf schräg in Erwartung meiner Bestellung. Ich kaufe 10 Liter Wasser und 300 Gramm Tomatenmark. Er rechnet ganz sorgfältig zusammen, verpackt die fünf kleinen Döschen Tomatenmark in Papier. Abschiedsformel. Hand aufs Herz gelegt.

Warum ich diese Begegnung so klar empfinde kann ich nicht sagen. Aber nach den ersten beiden Begegnungen fühle ich mich gereinigt. Vielleicht hat mir die Wüste auch das Hirn verbrannt. Vielleicht bin ich aber auch einfach wieder geordnet worden in den letzten 15 Minuten. Es ist oft anstrengend, aber ich bin gern hier.

Seit einem Monat versorgen wir uns aus solchen Läden. Moulad, der Ladenbesitzer, ist auch Lehrer. Er wünscht sich eine Schulpartnerschaft mit Biberach und hofft auf eine Zukunft für seine Schüler.

Aus diesem Blickwinkel und mit dieser inneren Haltung kann ich jetzt zurückgehen: Mauretanien ist ein sehr seltsames Land. In einer Information heißt es: „Mauretanien ist eines der am wenigsten bereisten Länder der Welt.“ Das ist schade, aber wir verstehen sehr gut, warum das so ist.

Wir haben Respekt vor dem, was da vor uns liegt. Wir übernachten auf der marokkanischen Seite der Grenze in Guergerat und reden abends darüber, dass wir Respekt haben vor dem, was da vor uns liegt. Mauretanien ist eines der ärmsten Länder der Welt. 90 Prozent der Landfläche ist von Wüste bedeckt. Dreimal so groß wie Deutschland mit weniger Einwohnern als Berlin. Dabei hat ganz Mauretanien eine Wirtschaftsleistung, die nicht größer als die von Gelsenkirchen ist. Bis vor kurzem war die Hälfte der Bevölkerung noch Kleinviehnomaden ohne festen Wohnsitz. Überall auf unserem Weg sahen wir irreguläre Ansiedlungen mit erbärmlich armen Behausungen. Einfach wie ein Dutzend Würfel in das endlose Meer des Sandes hineingeworfen. Halbverschluckt von Sand, den der tägliche Passatwind in alle Ecken und Ritzen bläst, verschwinden diese Siedlungen vermutlich ebenso schnell wie sie entstanden sind. Viele von ihnen sind schon wieder Geisterdörfer und geben unserer Route eine ganz unwirkliche Stimmung in dieser unwirschen Landschaft.

Jedes vierte Kind unter fünf Jahren ist unterernährt und ein Drittel aller Mauretanier lebt unter der Armutsgrenze. Bei alldem ist Mauretanien eines der heißesten Länder der Welt. Die Hitze und der Wind sind allgegenwärtig. Wir hatten Respekt vor Mauretanien und offen gestanden auch ordentlich Angst vor den Temperaturen.

Ein großartiger Grenzübergang kündigt sich an.

All das wussten wir am Vorabend unserer Einreise. Da empfanden wir es auch nur konsequent, dass der vor uns liegende Grenzübergang den Ruf hatte, einer der schwierigsten ganz Afrikas zu sein. Zwischen den beiden Ländern Marokko und Mauretanien liegt eines der weltweit am stärksten verminten Gebiete. Dieser Grenzwall durchzieht die ganze Westsahara. Ein Sandwall von 1500 Kilometern Länge. Neben der Chinesischen Mauer das längste menschlich erschaffene Gebilde. Als wir uns morgens mit den Rädern aufmachen ist uns mulmig. Neben der Straße stehen immer wieder Warntafeln, die vor den Landminen warnen. Als wir den Ausreisestempel von Marokko in unserem Pass haben, fahren wir durch das Niemandsland. Die asphaltierte Straße endet hier und geht über in eine ruckelige Sandpiste. Für den motorisierten Verkehr dauern die Grenzformalitäten auf der mauretanischen Seite mehrere Stunden, so dass wir jetzt, kurz nach 9 Uhr vormittags, noch ganz allein hier unterwegs sind. Die Piste ist so schlecht, dass wir kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit fahren können. Langsam tauchen am Horizont die Grenzgebäude Mauretaniens auf.

Für welche Seite der Piste gilt das Schild?

Wir sind vorbereitet. Unser Visum tragen wir farbig ausgedruckt bei uns. Auf keinen Fall darf es gefaltet sein, so heißt es in den strengen Anweisungen. Jeder von uns hat 55 Euro passend in der Tasche. So viel kostet die Einreise offiziell. Nicht in der Landeswährung, nicht in US-Dollar, es müssen Euro sein. Wir tragen diesen Betrag seit Biberach abgezählt bei uns. Man sagte uns, wir sollen uns vor den „Fixern“ hüten. Sofort würden wir dort bestürmt werden. Es klang alles sehr besorgniserregend und die verschiedenen Internetforen über diesen Grenzübertritt erzählen von einigen Gruselgeschichten. Alles klang dramatisch und sehr anstrengend, was man sich so erzählte.

Kamele gehören täglich zur Hintergrundbelustigung.

Die Hitze und die Grellheit der Wüste sind schon um diese Zeit angeschaltet und wir fahren auf den mauretanischen Grenzbeamten zu. Langsam genug um schon durch unsere Geschwindigkeit Respekt zu erweisen. Wir haben einen Plan und unsere Rüstung ist angelegt. Wir halten an und sind bereit für das, was uns jetzt erwartet. „Bienvenue au Mauretanie!“ werde ich begrüßt. Der Beamte lächelt, streckt die Hand aus und jetzt höre ich, was ich in den letzten Wochen als die übliche Nomadenbegrüßung interpretiert habe: „Wie war die Reise? Die Straße, ist sie gut?“ (absurde Frage, wenn man bedenkt, dass ich gerade über eine verminte Sandpiste durch das Niemandsland gefahren komme). Aber ich vermute, es ist eine übliche Höflichkeitsformel. „Parken Sie doch da drüben im Schatten und legen Sie Ihre Pässe der Grenzpolizei vor, dann kommen Sie wieder zu mir und ich zeige Ihnen, wo es weiter geht.“ Ich bin perplex. Alles habe ich erwartet, aber nicht dies. Am Ende werde ich diese aus einer alten Zeit stammende Höflichkeit vermissen. Sie wird uns immer wieder auf unserem Weg durch Mauretanien begegnen. Zusammen mit einer Fürsorge gegenüber uns, die es vermutlich nur in dünn besiedelten Regionen wie dieser geben kann. Beides wird am Ende so sehr unseren Eindruck von Mauretanien prägen, dass wir wehmütig zurückdenken, an dieses Land, in dem wir so gelitten haben.

Wir waren begeistert. Aber „Bäume“ sind das noch nicht. Und der Schatten war auch nicht so toll.

Breites Grinsen hinter den verspiegelten Sonnenbrillengläsern des Grenzers. Wir sind die einzigen Passanten hier. Weit hinten sehe ich eine kilometerlange Schlange wartender Sattelschlepper.

Wir gehen in das Gebäude der Grenzpolizei. Auch dort: Freundlichkeit, Smalltalk, Höflichkeit. Die Pässe werden begutachtet, der Ausreisestempel von Marokko entdeckt und wir werden weitergeschickt. Jetzt dürfen wir die Visa vorlegen in einem weiteren Gebäude. Aber die Büros sind alle leer. Wir gehen nach hinten durch und finden die Beamten in fröhlicher Unterhaltungsrunde im Teezimmer. Dann Fingerabdrücke und  der Stempel auf’s Visum. Wir sind sprachlos. So einfach? Schon sind wir wieder draußen. Wo sollen jetzt diese 55 Euro hin, die wir seit Biberach abgezählt bei uns tragen? Ach ja, das hätte er wohl vergessen, die können wir dem netten Herrn geben, der längst schon wieder im Hinterzimmer verschwunden ist. Jetzt wieder draußen im gleißenden Licht sagt der Sonnenbrillenmann: „Wo wollen Sie eigentlich hin?“ Wir vermuten eine Fangfrage und sagen wie aus der Pistole geschossen: „Mauretanien“. Das scheint ihn jetzt aber doch sehr zu rühren. Es sei nämlich so, erklärt er uns, und es klingt fast ein bisschen gekränkt, dass viele Touristen einfach nur durchfahren wollen durch sein Land, weiter in den Senegal. Neinnein versichern wir, wir wollen Mauretanien sehen. Und er wünscht uns einen schönen Aufenthalt und gibt uns mit auf den Weg: Mauretanien ist nämlich auch ein schönes Land. Wir sollen uns herzlich willkommen fühlen. Und wenn wir jetzt dort hinten noch in das gelbe Gebäude gehen würden, bekämen wir den Stempel in den Pass. Den sollten wir dann dem Mann am Schlagbaum zeigen.

Wir bekamen den Stempel in den Pass und zeigten den Stempel dem Mann am Schlagbaum, der auf einem alten Bürostuhl in der Sonne saß und den schweren Schlagbaum von Hand für uns erhob. Als ob sich ein Bühnenvorhang langsam hebt, liegt jetzt vor uns dieselbe Wüste, die uns schon seit vier Wochen begleitet hat, nur in einer viel sandigeren und viel heißeren Version. Mauretanien.

Der längste und schwerste Eisenerzzug der Welt. Der heißeste vermutlich auch.

Die Straße durch die Wüste, die jetzt vor uns liegt, wird uns an die Grenzen unserer Leidensfähigkeit bringen. Kaum einen Tag lagen die Temperaturen unter 40 Grad, und wenn wir dachten, dass wir bisher wenig Versorgungsluxus hatten, so wird uns in Mauretanien weniger als die Hälfte von dem erwarten, was bisher war: weniger Menschen, weniger Dörfer, weniger zu kaufen in den wenigen „Läden“. Wir fahren die rund 700 Kilometer erbarmungslose Hitze in weniger als 7 Radtagen. Wir ducken uns durch die Hitze und retten uns von Schatten zu Schatten. Manchmal gibt es über 50 Kilometer keinen. Die Hälfte der 4 Millionen Einwohner Mauretaniens lebt in den beiden Städten Nouakchott und Nouadhibou. Der Rest wohnt enlang der Küste und ganz im Süden entlang der Grenze zum Senegal. Dort steht nach Wochen der baumlosen Wüste für uns auch der erste Baum. Wir machten ein Foto davon, so gerührt waren wir von seinem Anblick.

Unser erster Baum.

Sehr kontrolliert und mit großer Disziplin und Magnesiumtabletten fahren wir die Wüste bis zum Ende. Noch bevor die Sonne aufging, waren wir auf der Straße, und morgens hatten wir Angst vor den zu erwartenden Temperaturen des Tages. Auf der Hälfte der Strecke in Chami, einer Goldgräbersiedlung, warnten uns selbst die hitzeerprobten Mauretanier: Es sei besonders heiß zur Zeit und diese Gegend sei die heißeste, ein fürchterlicher Ort. Viele sagten das, auf unserem Weg dorthin, ungefragt. Täglich überholte uns mindestens ein europäisches Wohnmobil. Kein einziges verlangsamte auch nur für uns seine Fahrt (auch nicht auf den 1500 Kilometern durch die Westsahara). Kein einziges. Gleichzeitig verging nicht ein einziger Tag, an dem nicht mehrere Mauretanier für uns anhielten auf offener Strecke und uns Brot, Kekse oder Wasser schenkten und uns fragten, ob alles in Ordnung sei. Sogar die ganz großen Lastwagen hielten an.

Im Nationalpark Diawling an der Grenze zum Senegal.
Ganz ordentlich angekündigt.

Jetzt stehen wir am Senegal-Fluss. Ein riesiger Strom. Alles ist grün. In den Bäumen kreischen die Vögel. Affen und Warzenschweine rennen vor uns über die Straße. Wir können es noch gar nicht glauben. Gestern waren wir noch tief in der Wüste und plötzlich ist alles vorbei. Mauretanien ist vorbei. Wir empfinden Wehmut. Die Sahara liegt hinter uns. Wir brauchen wahrscheinlich noch etwas Zeit, bis wir das begreifen. Vor uns liegt Westafrika.

Die Auswahl in Med Salems Laden war sehr begrenzt. Seine Herzlichkeit aber war beeindruckend.