Flexibel bleiben im Alter

Blick über Tetouan, im Hintergrund das Rifgebirge.

Ganz von selbst ergeben sich natürliche Abschnitte unserer Reise. Der Weg nach Sète entlang der französichen Kanäle auf ruhigen Radwegen ohne Höhenmeter in großer Hitze war der erste Abschnitt. Sehr meditativ radfahrend konnten wir so während der ersten Tage die Abschiede von den Freunden und unseren Familien bedenken. Dann kam die Fährüberfahrt, 42 Stunden offline auf einem relativ kleinen, alten Schiff, das für uns ideal war, weil es so eine Art Übergangsraum war ohne viel Ablenkung. Jetzt kommt Afrika. Afrika light.
Das Königreich Marokko ist sicher eines der am westlichst geprägten Länder Afrikas und insofern als Einstieg in diesen Kontinent gut geeignet. Wir kennen das Land ja schon aus der Fahrradperspektive. Dennoch machen wir in den ersten Tagen das, was wir in einem neuen Land und in einem neuen Kulturkreis immer machen: alltägliche Eingewöhnung. Das ist für uns Radfahrer sicher noch wichtiger als für alle anderen Touristen. Denn wir sind auf die Kontakte zur Bevölkerung täglich angewiesen. Je besser wir die einfachen Konventionen und Gepflogenheiten kennen, desto weniger Missverständnisse gibt es. Wir fragen uns also erstmal: Wie grüßt man? Wer grüßt wen? Was kostet eine Flasche Wasser? Was kostet ein Fladenbrot? Was gibt es in den kleinen Läden in den ländlichen Dörfern? Wie findet man die Läden, wenn auf den ersten Blick nur einfache Lehmhäuser in einem sehr armen Dorf zu sehen sind? Wo können wir übernachten, wenn es keine Herbergen und keine Campingplätze mehr gibt (das wird schon am 4. Tag hier in Marokko der Fall sein). Wie ist der Verkehr auf den National-, Departments- und Regionalstraßen?

Der König ist in der Stadt. Deswegen ist hier viel abgesperrt und die Händler können sich auch mal ausruhen.

Die ersten Tage sind Eingewöhnungstage. Deswegen sieht unser erster Tag hier nach einer ruhigen Nacht in einem typischen, teuren Travelerhostel gleich beim Containerhafen Tanger Med so aus: Nur 50 Kilometer mit rund 700 Höhenmetern (das Höhenprofil des Allgäus) nach Tetouan, die Sommerresidenz des Königs, am nördlichen Rand des Rifgebirges. Die Stadt hat so viele Einwohner wie Stuttgart und dennoch einen sehr pittoresken Charme mit Kasbah (Festungsanlage), einem Sukh (typisch verwinkelte Gässchen in einem alten Stadtteil, die zu schmal für Autos sind und nur zu Fuß zu begehen, wo sich eng an eng die Marktstände und Kleinstläden finden). Hier machen wir einen Tag Sightseeingpause, der hauptsächlich der Planung der nächsten Tage dient und mit einem Spaziergang durch den Sukh gleichzeitig der Versorgung mit Essen.
Das ist eben auch etwas, was uns immer begleitet: Da wir nicht mehr auf französischen Radwegen unterwegs sind, können wir nicht damit rechnen, dass alle 7 Kilometer spätestens eine Bäckerei und ein Café au Lait auf unserem Weg liegen.

Ab hier weniger Käsebrot

Zwei Wegvarianten stehen für uns ab hier zur Auswahl: Plan A beinhaltet 2,5 mal so viel Höhenmeter pro 100 km wie auf einer durchschnittlichen Allgäuetappe und sieht 1000 Kilometer vor, bis wir in Safi den Atlantik erreichen (längs des Rifgebirges und entlang der nördlichen Ausläufer des großen Atlas). Plan B ist 200 Kilometer kürzer und hat 7000 Höhenmeter weniger. Wir hatten vor die Route A zu fahren. Warum? Bei genauerer Überlegung fiel uns plötzlich kein guter Grund mehr dafür ein. Die leichtere Route sollte es also werden.

Hier ein Link zur Route

Allerdings, was bedeutete „leichter“? Die Route wird das ländliche, nicht touristisch erschlossene Marokko von Tetouan und Chefchaouen im Nordosten bis nach Safi an der Atlantikküste im Südwesten durchqueren. Die ersten Tage werden wir es mit heftigsten Steigungen zu tun bekommen (Tag zwei sieht auf 43 Kilometern knapp 1500 Höhenmeter vor und in den ersten 4 Tagen werden wir mehr Höhenunterschied bewältigen als in den darauffolgenden 2 Wochen). Hinter Chefchaouen, der sehr touristischen „Blauen Stadt“ im Zentrum des Rifgebirges, werden wir möglichst schnell die stärker befahrene Nationalstraße verlassen und dann eben sehr viele Höhenmeter auf kleinen und kleinsten Sträßchen vor uns haben, die kaum durch nennenswerte Dörfer führen. Dort wird es keine Hotels oder Herbergen geben, zumindest konnten wir nicht viel darüber herausfinden. Daher werden wir mal wieder mit unserem üblichen Zettel arbeiten müssen. „Der Zettel“ ist ein jeweils auf der Landessprache verfasstes abgerissenes Stück Papier, auf dem steht: „Friede sei mit Ihnen! Wir sind ein Lehrer-Ehepaar aus Deutschland und suchen hier einen Platz zum Übernachten. Dürfen wir hier unser Zelt aufstellen?“ So oder so ähnlich formuliert, haben wir auch schon in Kirgistan oder in Myanmar Erfolg gehabt. Auf dem Land spricht niemand auch nur annähernd eine Sprache, derer wir mächtig wären. Was wird hier in Marokko überhaupt gesprochen? Meist ist es marokkanisches Arabisch (Darija) oder die Berbersprache Tamazigh. Französisch ist eher nur im städtischen oder gebildeteren Milieu verbreitet.

So gekleidet werfen Imke die Marokanerinnen auch schon mal Kusshände hinterher.

Nach 5 harten Tagen werden wir das Rifgebirge hinter uns lassen und die zentralmarokkanische Ebene durchfahren. Eher flach, sehr ländlich, wenige größere Dörfer mit Zimmern für die Übernachtung. Wo werden wir also schlafen? Wir wissen es nicht und werden es herausfinden.  Die letzten 300 Kilometer des Abschnitts nach Safi werden dann wieder bergiger werden, weil wir dann wieder die Ausläufer des großen Atlasgebirges zu spüren bekommen, die bis an die Atlantikküste heranreichen. Von Safi aus werden wir dann die vermutlich stärker befahrene Küstenstraße nach Agadir fahren, 300 Kilometer und 3000 Höhenmeter (Allgäuprofil). Wir werden also ganz schön viel bergauf fahren müssen mit den schweren Rädern. Warum wählen wir diese bergigen Varianten und fahren nicht einfach von Tanger an der Atlantikküste entlang? Dort befindet sich der dichtest besiedelte Streifen und ein Großteil des modernen Marokkos, wo es die Arbeitsplätze gibt. Deswegen ist in diesen Bereichen auch viel mehr Verkehrsaufkommen. Da sind uns kleine mühsame, aber wenig belebte Sträßchen im ländlichen Hinterland viel lieber. Außerdem werden wir auf diese Weise das ärmere und weniger westlich geprägte Marokko kennenlernen. Tja, vermutlich werden wir diesen intellektuellen Anspruch, dem wir uns dabei stellen, auch gelegentlich verfluchen, wenn wir kein Lädchen mit Brot und erst recht keine Dusche finden in den nächsten Tagen.

Die Sommerresidenz des Königs im klimatisch gemäßigten Tetouan – wir sind mit den Temperaturen auch ganz zufrieden.

Hinter Agadir wird ein ganz anderes Marokko für uns beginnen. Dort werden wir auf den Wüstenabschnitt fahren. Eine Straße wird dann vor uns liegen, die 2.500 Kilometer durch die Sahara führt. In Agadir werden wir zur Vorbereitung auf diesen besonderen Abschnitt sicher wieder einige „Ruhetage“ einlegen. Wobei Ruhetag ganz sicher das falsche Wort dafür ist. Diese Tage sind meist vollständig mit Büroarbeit gefüllt (Wo kann man übernachten? Wo gibt es etwas zum Essen zu kaufen? Woher kriegen wir unser Wasser?…). Das ist mühsame Kleinarbeit im Internet, die uns nicht so viel Spaß macht, weil wir dafür stundenlang am Handy hängen. Aber diese Vorbereitung ist sehr wichtig und bewahrt uns vor vielen unguten Überraschungen. Überraschungen wird es aber auch trotz dieser Vorbereitungstage noch genügend geben. Aber das passt auch zum Arbeitstitel, den wir unserer Afrikareise schon seit den ersten Planungen vor einigen Jahren gegeben haben: „Flexibel bleiben im Alter“.