Nach Sète

Wir befinden uns in der Enge des Rhônetal-Trichters, der den Wind einfängt und wie ein Turbolader beschleunigt. Hier nimmt der berüchtigte Mistral Schwung auf und bläst die Bäume schräg. Wer sich gegen ihn stellt, wird ihn fürchten lernen. Jetzt endlich möchte ich mir das Darlehen auszahlen lassen, das ich vor 25 Jahren mit meinem Schulfreund Eric in harter Währung einbezahlt habe. Damals waren wir im November auf dem Weg von Albstadt nach Gibraltar mit dem Rad unterwegs und wir mussten schmerzlich feststellen, dass wir in die falsche Richtung fuhren. Wir rechneten auf den Mistral, der im Winter uns nach Süden schieben würde. Aber in jenem Jahr hatten wir zwei Wochen lang bis ans Mittelmeer und darüber hinaus heftigen Gegenwind. Wind aus Süden, hier im Rhônetal? Quatsch! Alles Schulwissen über das Paradebeispiel der Windsysteme hat uns nichts geholfen. Wir fühlten uns verarscht.

Jetzt, 25 Jahre später, dachte ich, vielleicht kann ich jetzt eine Gutschrift bekommen für den damals eingezahlten Frust. Eine Rückenwindgutschrift. Ich freute mich auf’s Rhônetal, der Wind würde uns sicher komfortabel schieben, dachte ich.

Abschied in Biberach am 2. August

Aber wie kamen wir hierher ins Rhônetal? Jede Reise, so sagt man, beginnt mit dem ersten Schritt. Der erste Schritt sah bei uns so aus: Wir traten in Ummendorf am Samstag, den 2. August (!) um 8:30 Uhr vor die Haustür und es regnete in Strömen bei 13 Grad. Trotzdem fanden wir vor der Stadtpfarrkirche rund 40 Freunde, die uns verabschieden wollten. Wir waren zu Tränen gerührt und plötzlich spielte das Wetter keine Rolle mehr. Auch für die 12 Mitfahrer, von denen uns 6 bis nach Friedrichshafen, die erste Tagesetappe, begleiteten schien das Wetter zweitranging zu sein. Schuhe waren bald voll mit Wasser, Trainingshosen sogen sich voll wie Schwämme und hatten plötzlich das dreifache Gewicht – kein Grund schlechte Laune zu bekommen. Im Gegenteil, das war Heldenwetter und wir waren so gestärkt durch die Freundschaft und Liebe, die uns begleitete, dass wir auch jetzt, bald drei Wochen später, immer noch nicht wirklich begreifen können, was da geschah. Lang noch, werden wir uns davon erzählen. Danke!

Trotz 13 Grad und Regen beste Laune.

Über den Bodensee, durch die Schweiz nach Zürich und dann weiter nach Basel und Mulhouse gingen unsere ersten Etappen. Dann entlang der idyllischen Kanäle des Doubs und der Saône, durch Montbeliard, Besancon, Dôle, Chalon-sûr-Saône, Lyon, wo wir ins Rhônetal gelangten.

Jetzt endlich sollte ich zurückfordern, was ich mühsam gegen den Wind im Winter vor 25 Jahren mir gegen den völlig unregulären Südwind erkämpft habe. Ich freute mich auf den Nordwind, der mich schiebt. Allerdings waren die Temperaturen schon vor zwei Wochen gestiegen und weiter gestiegen und inzwischen waren die französischen Zeitungen voll mit apokalyptischen Schlagzeilen über die Jahrhunderthitze. In dutzenden französischen Städten wurden Rekordtemperaturen seit Menschengedenken erreicht und bei uns hatte es immerhin seit bald zwei Wochen über 35 Grad und seit zwei Tagen sogar 39 Grad. La Canicule, die Bullenhitze, hieß es hier überall. Empfehlung: sportliche Aktivitäten meiden, im Schatten bleiben.

Warum waren wir so zögerlich beim Verkünden unserer Afrikapläne – wir fürchteten, dass wir die Hitze auf dem Rad nicht verkraften würden. Jetzt konnten wir uns testen, früher als gedacht. Eigentlich haben wir es ganz gut ausgehalten. Es macht zwar keinen Spaß, aber es geht, auch bei 40 Grad Rad zu fahren. Sehr früh aufstehen, den größten Teil der Kilometer des Tages in der ersten Hälfte bis Mittag runterfahren, viel Wasser trinken und abends gab es Tomaten, Gurken, Couscous, Zwiebel und Thunfisch als Salat, stark gesalzen. Zum Nachtisch: Magnesiumtabletten. Bisher haben wir keinen einzigen Tropfen französischen Wein getrunken. Es war einfach zu heiß. Schade, ja. Schlimm? Nein. Schlimm war, dass mit der Hitzeglocke, die seit zwei Wochen über Frankreich ihr Zentrum hat, der stabile Nordwind im Rhônetal zum Erliegen kam. Wir radelten in einer stehenden Suppe drückend schwüler Hitze, während in meinem Kopf die Vorstellung nicht vergehen wollte, dass ich schon wieder um meinen Nordwind im Rhônetal betrogen wurde.

Anhalten ist das Schlimmste – wenn der Fahrtwind aufhört: Schweißausbruch!

Wir wurden also nicht durch einen stetigen Nordwind unserem Ziel nähergebracht. Das spielte aber eigentlich gar keine Rolle, denn wir dürfen sowieso unterdessen nicht mehr als 40 Kilometer am Tag fahren. Warum? Als wir im Januar die Fähre nach Marokko buchten, dachten wir, dass es besser wäre, sich genügend Zeit für die ersten 1000 Kilometer zu nehmen, um sich an das schwere Rad und die täglichen Belastungen zu gewöhnen. An den ersten Tagen in der Schweiz und am Rhein waren wir erschrocken, wie langsam und mühsam es mit den vollbepackten Rädern lief. Der Sattel zwickte und die Handgelenke schmerzten. Erste Eindrücke ließen uns Angst bekommen vor dem, was wir uns vorgenommen hatten – rein sportlich. Aber wie durch ein Wunder hat sich der Hintern an den Sattel angepasst, unsere Haltung auf dem Reiserad fühlt sich nach drei Wochen wie eine Embryonalhaltung an, in der wir uns instinktiv wohlfühlen.

Wenn wir jetzt morgens auf das Rad steigen und die ersten Meter fahren, dann kommt uns unwillkürlich das Grinsen ins Gesicht. „Ca roule!“ Das läuft! Jetzt ist es plötzlich so, dass wir gerne 80 oder mehr Kilometer am Tag fahren und am Ende entspannt ankommen (wenn es nicht so warm wäre). Das Problem: Wir sind in den letzten Tagen viel zu viel Kilometer gefahren und jetzt haben wir noch Tage übrig, bis die Fähre ablegt. Gerne würden wir uns länger Avignon ansehen, aber wir mussten gestern feststellen, dass alle Unterkünfte und Campingplätze in und um die touristisch beliebte Region ausgebucht sind. Das haben wir uns schon gedacht. Nur noch 200 Kilometer sind es bis zur Fähre nach Sète. Also drehen wir jetzt Warteschleifen und schreiben endlich einen Bericht für Euch.

Gerne würde ich an dieser Stelle auch berichten, dass wir im Kopf schon ganz in der Langdistanz angekommen sind und unsere Pläne endlich in Wirklichkeit begreifen. Allerdings ist das nicht der Fall. Körperlich sind wir ganz und gar im Sattel angekommen. So sehr, dass mir dazu das Wort „Menschmaschine“ einfällt, das die Band „Kraftwerk“ für die Kombi Fahrrad-Fahrer geprägt hat.
Aber der Abschied von den Freunden, der hinter uns liegt, und die riesige Distanz, die vor uns liegt, kommen uns immer noch ganz und gar unwirklich vor.