Puya ist Anfang 40 und erfolgreicher Architekt. Er engagiert sich für die Erhaltung historischer Bauten hier in Mashad, der zweitgrößten Stadt Irans. Eines seiner Projekte hat den Preis des UNESCO-Weltkulturerbes gewonnen, einen von zwei Preisen dieser Art weltweit. Jetzt aber sitzt er auf dem Gehweg, es ist nach 23 Uhr. Seinen Arm hat er um die Schultern eines jungen Mannes gelegt, der neben ihm sitzt und aufmerksam zuhört. Puya ist in eine ruhige Diskussion vertieft, seit über einer halben Stunde sitzen die beiden so auf dem Gehsteig. Um sie herum ist ohrenbetäubender Lärm. Ähnlich einer Meisterschaftsfeier im Fußball sind auch noch um diese Zeit die Straßen von Autokorsos verstopft, Menschentrauben stehend diskutierend auf den Gehwegen und in den Parkanlagen. Parolen werden gerufen, Witze gemacht, die Stimmung ist ausgelassen und emotional.
Nein, Iran hat nicht die Fußballweltmeisterschaft gewonnen, auch wenn die Bilder auf den Straßen eventuell ähnlich wären. Iran steht kurz vor der Wahl und die Iraner gehen jeden Abend auf die Straße, um für ihren Kandidaten Stimmung zu machen und Stimmen zu sammeln. Puya sagte zu mir am frühen Abend: „Wir können das Schicksal unserer Kinder nicht dem Zufall überlassen, als Vater empfinde ich die tiefe Verpflichtung zur Wahl zu gehen und so viele Iraner wie möglich davon zu überzeugen ebenfalls hinzugehen. Wir wollen der Welt das Signal senden, dass wir mehr Demokratie möchten und keinen Krieg.“ Und genau das tut er mit Herz und Seele. Was mich dabei sehr nachdenklich macht, ist die Stimmung, in der all dies geschieht. Vor einer Dreiviertelstunde sprang Puya plötzlich auf die Straße und hielt ein Auto an, eines von denen, die mit den Postern des anderen Kandidaten beklebt war. Er beugt sich ins offene Beifahrerfenster hinein, bekennt sich zu seiner politischen Meinung, fängt eine Diskussion über Vor- und Nachteile an, verteidigt seinen Kandidaten. Dann steigt einer der jungen Männer aus, derjenige, der eine riesige iranische Fahne aus dem Dachfenster geschwenkt hatte. Beide kämpfen sich durch den flutenden Verkehr zurück zum Straßenrand. Dort sitzen sie nun schon seit einer Dreiviertelstunde und diskutieren. Wobei „diskutieren“ nicht die richtige Vorstellung gibt, von dem, was da vor sich geht. Beide hören einander ruhig und ernsthaft zu, mit voller Konzentration werden Argumente ausgetauscht, kleine Späße gemacht und wieder zurückgekehrt zum ernsten Thema. Wir beobachten eine große Fähigkeit des aufmerksamen Zuhörens (wichtig sind in einer zensierten Gesellschaft die Nuancen!), eine grundsätzliche Überzeugung, dass die Welt besser werden soll; keine Aggression, keine Verachtung, keine Überheblichkeit, ein idealistisches Ringen, um das Bessere.
So sitzen sie da, wie Jugendfreunde, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben und sich jetzt das Wichtigste der vergangenen Jahre aus ihrem Leben erzählen. Nur, die beiden sind nicht Jugendfreunde, sie sind sich zwei Fremde, die aber trotzdem in einer Sache innig verbunden sind, auch wenn ihre politischen Lager nicht weiter auseinander sein könnten: Sie sind beide Menschen, die sich für ein besseres Land und ein besseres Leben demokratisch engagieren. Sie beide scheinen die Wahl so ernsthaft ins Herz geschlossen zu haben, als ginge es um eine Familienangelegenheit. Dabei ist die demokratische Wahl im Iran leider nicht die Selbstverständlichkeit, mit der sie in den westlichen Demokratien von vielen politikmüden Bürgern betrachtet wird. Vielleicht ist das auch der Hauptgrund, warum wir hier eine so bewegende Leidenschaft für die demokratische Beteiligung unter der Bevölkerung beobachten.
Unsere Begeisterung bezieht sich nicht auf das politische System hier im Iran, das die New York Times eine „undemokratische Demokratie“ nennt (immerhin eine Demokratie!). Denn wir haben auch auf unserer Reise hier im Iran die dunklen Seiten beobachtet, zum Beispiel hinsichtlich Meinungsfreiheit, Menschenrechten und Todesstrafe. Unsere Begeisterung bezieht sich auf die trotz der starken Einschränkungen der persönlichen Freiheiten und der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten große innere demokratische Reife des iranischen Volkes. Wir haben schon in den Tagen vor der Wahl und beim Urnengang selbst immer wieder gestaunt über die friedliche, engagierte und weitsichtige Stimmung und das selbstlose Engagement der Iraner. Über die sozialen Netzwerke wurden auch unter den Bekannten und Freunden, die wir hier in Mashad treffen, unermüdlich Wahllisten versendet, Aufrufe zur Beteiligung geteilt und in letzter Minute noch Bekannte von Bekannten oder entfernte Familienmitglieder überzeugt, den richtigen Kandidaten zu wählen oder überhaupt zur Wahl zu gehen.
Am nächsten Tag, dem Wahltag, erzählt mir Puya auf der Fahrt zu seinem Architekturbüro, das er mir zeigen möchte: „Wir werden dort eine junge Architektin treffen.“ Ich frage ihn, wer das sei. Er schüttelt den Kopf: „Ich kenne sie nicht.“ Warum treffen wir sie dann? Er grinst schelmisch: „Weil sie wählen gegangen ist. Das freut mich sehr. Deswegen treffen wir sie.“ Ich runzele die Stirn – will er jetzt alle Iraner persönlich treffen, die gewählt haben? „Nein natürlich nicht! Aber sie ist wegen mir wählen gegangen und jetzt tue ich etwas für sie.“
Das muss er erklären: Vor einer Woche habe diese junge Frau in einer Gruppe des sozialen Netzwerks „Telegramm“, das jeder jüngere Iraner auf dem Handy hat, geschrieben, dass sie nicht wählen ginge. Puya habe natürlich sofort nachgefragt, und es stellte sich heraus, dass ihr Personalausweis bei ihren Eltern in Mashad liege und sie aber in Teheran lebe. Ohne Perso kann man nicht wählen. Puya bot sofort an, dass er ihren Ausweis bei den Eltern, die er natürlich auch nicht kennt, abholen und ihr nach Teheran schicken würde, damit sie wählen ginge. Darauf kam keine Antwort mehr. Zwei Tage später habe ihn die junge Architektin kontaktiert und ihn um eine fachliche Hilfe zu einem Bauprojekt gebeten. Er grinst wieder: „Ich sagte ihr: Komm am Wahltag nach Mashad, wir sprechen über das Projekt und du holst Deinen Ausweis und gehst wählen.“ Puya macht eine genussvolle Pause. „Heute Morgen hat sie mir getextet, dass sie mit dem Flugzeug gelandet sei und jetzt zu ihren Eltern fahre, um ihren Ausweis zu holen.“ Puya ist ein fröhlicher Mensch, aber in diesem Moment ist sein Grinsen noch breiter als sonst schon: „Ich weiß nicht wen sie gewählt hat, aber ich freue mich DASS sie gewählt hat.“ Dabei wird sie allerdings eine längere Zeit in einer Warteschlange gestanden haben. Wir hören von langen Wartezeiten vor den Wahllokalen, vor allem in den großen Städten. An manchen Orten mussten die Menschen mehrere Stunden in der Schlange stehen, bis sie endlich ihre Stimme abgeben konnten (Wie viele Menschen würden bei uns drei Stunden in einer Schlange stehen, um zu wählen?). Die Vorbeifahrenden halten an und geben Tipps, in welchen benachbarten Wahlstellen es kürzere Warteschlangen gibt. Wir beobachten, wie besonders Alte oder Gebrechliche vorgelassen werden, damit sie nicht so lange in der Sonne anstehen müssen. Dennoch wird die Wahlbeteiligung an dieser Wahl am Ende deutlich über 70 Prozent sein. Und noch vor Veröffentlichung des offiziellen Wahlergebnisses kursieren schon die ersten Witze: Der unterlegene Kandidat, der fundamentalistische Geistliche, Raisi, habe sich schon bei der Wahlleitung beschwert, dass die für ihn abgegebenen Stimmen nicht mit den von ihm ausgeteilten Wahlgeschenken übereinstimmen und die Wahl deswegen nicht korrekt verlaufen sein könne. Oder: Die vorletzte Wahl (gewonnen hat der Hardliner Achmadinedschad) sei besser gewesen, da hätte man nicht so lange auf das Ergebnis warten müssen, denn da habe man erst den Gewinner verkündet und dann die Stimmen ausgezählt. Diese Witze zeigen auch, dass den Iranern die Schwächen ihres Systems bewusst sind und sie eine Besserung ersehnen.
Wir treffen die junge Architektin, die nun gewählt hat (sie zeigt ihren von Stempelkissenfarbe blauen Finger – heute ein Zeichen, dass man seine Stimme abgegeben hat), in Puyas Büro. Während die beiden die Baupläne durchschauen, spiele ich mit Matin, dem zweijährigen Sohn von Puya, Fingerpuppenautofahren. Imke lässt sich von der achtjährigen Anahita ein Gedicht von Sadi auf Farsi vortragen. Sadi, der Dichter, den alle Iraner verehren. Sadi, der Dichter, der mindestens mit einer Gedichtzeile Ruhm über die Grenzen Irans erhalten hat, weil sie im Foyer der Zentrale der Vereinten Nationen in New York als Leitspruch hängt:
Die Menschenkinder sind ja alle Brüder
Aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder;
hat Krankheit nur einzig Glied erfasst,
so bleibt anderen weder Ruh und Rast.
Wenn anderer Schmerz dich nicht im Herzen brennt,
verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennt.
Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Worte, aus dem Iran kommend, wieder in Erinnerung gerufen werden im Umgang mit dem Iran! Isolation ist keine Heilmethode, ebenso wenig ist es Herablassung oder Krieg. Nehmen wir diese Wahl zum Anlass uns klar zu machen: Die Iraner sind keine „Schurken“. Die Iraner sind Menschen, die die selben Sorgen und Hoffnungen teilen, die auch wir haben. Folglich ist der Iran kein „Schurkenstaat“, auch wenn es sicher wichtige Gründe gibt, das politische System des Iran zu kritisieren. Der Iran ist auch kein ungezogenes Kind, das zur Besserung in eine Ecke gestellt werden müsste. Diese Reaktionen auf die Konflikte der Vergangenheit und der Gegenwart haben alle den Makel der pauschalisierenden Verteufelung und den bösen Beigeschmack einer kolonialistischen Herablassung.
Die iranischen Bürger haben in dieser Wahl durch die hohe Wahlbeteiligung, trotz schwieriger Umstände, gezeigt dass sie eine hohe demokratische Reife besitzen (nicht nur im Vergleich zu ihren unmittelbaren Nachbarländern). Mit der Entscheidung für Hassan Rouhani haben sie sich für mehr Demokratie, mehr Freiheiten und vor allem gegen den Krieg entschieden. Die Iraner wünschen sich Frieden und sie wünschen sich eine Entstigmatisierung und die Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft. In den letzten Jahren war sehr oft vom theokratischen Regime in Teheran die Rede und zu selten von den demokratiehungrigen Bürgerinnen und Bürgern des Iran. Diese haben seit langem die Hand ausgestreckt in Richtung der restlichen Menschenkinder, vor allem bei uns im Westen. Diese Wahl war nicht nur eine Wahl für eine hoffnungsvolle und vor allem friedliche Zukunft für den zweijährigen Matin und die achtjährige Anahita, den beiden Kindern von Puya, sondern eine eindeutige Message in Richtung Europa: „Seht her, wir stehen hinter dem Atomdeal. Seht her, wir haben auch diesmal wieder gezeigt, dass die Demokratie ein Fundament und ein Bewusstsein in der Bevölkerung besitzt. Seht her, wir wollen wieder angesehen werden, nicht als Schurken, sondern als Brüder und Schwestern unter der Weltgemeinschaft der Menschenkinder. Seht her, wir machen uns dieselben Sorgen um die Zukunft unserer Kinder wie Ihr.“
Es ist höchste Zeit, dass wir aus unserem festgefahrenen, pauschalisierenden Standbild vom Iran einen Schritt auf die Iraner zu gehen.
Nein, wir sind nicht romantisch touristisch mit einer rosa Brille diesem System unkritisch hörig. Ja, wir haben die Iraner kennengelernt und haben vielleicht Sadis Herzschmerz empfunden über das, was die Menschen hier bedrückt und über das was die Menschen hier unterdrückt. Darum haben wir auch genau hingesehen und hingehört in diesen Tagen der Wahl. Das demokratische Engagement, für das Puya nur ein Beispiel ist, hat uns sehr nachdenklich gemacht. Wir haben uns ehrlich gefragt, ob die Iraner damit den Bürgern der alten Demokratien nicht sogar Vorbild sein könnten. Und wir sind der Meinung, dass sich zumindest diese Frage jeder und jede ernsthaft selbst stellen sollte, bevor man in die Diskussion „Iran“ eintritt. Gerne würden wir hier auch antreten gegen das viele Halbwissen, das auch in renommierten Medien zum Thema Iran widergekäut wird. Aber wie auch in den bisherigen Berichten wollen wir in erster Linie unsere Eindrücke Euch nahebringen und die sind natürlich subjektiv. In allen drei Berichten aus unserer bisherigen Irantour finden wir aber von Anfang an einen roten Faden, den wir in ausnahmslos allen Begegnungen hier im Iran stärker erlebt haben als in unseren bisherigen Reiseländern:
Die Menschenkinder sind ja alle Brüder
Aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder;
Das verkörpern die Iraner, die wir getroffen haben, in einer uns beschämenden Selbstverständlichkeit, die uns hoffentlich für immer in so herzlicher Erinnerung bleibt, wie sie uns momentan vor Augen steht. Ja, wir haben von den Iranern dazugelernt. Danke dafür.
Hassan Rouhani, der moderate, reformbereite Präsident hat die Wahl gewonnen mit deutlichen 57 % der Stimmen und einer Wahlbeteiligung von 73 %. Wir freuen uns für den Iran und vor allem für die Iraner. Gratulation zu dieser Wahl!
Am Wahltag
Wir waren heute Morgen wenige Minuten vor Öffnung der Wahllokale in der Schlange der Wartenden, die ihre Stimme abgeben wollten. Der Andrang lässt schließen, dass die Wahlbeteiligung an der heutigen Wahl besonders hoch sein wird. Möglicherweise gehen heute um die 70 % der Wahlberechtigten zur Wahl. Die Iraner scheinen zu wissen, dass diese Wahl eine Schicksalswahl für die Zukunft ihres Landes ist. Nachdem gestern Morgen der kurze Wahlkampf 24 Stunden vor der Wahl beendet wurde, haben wir von seriösen Quellen erfahren, dass die Vorhersage für den aktuellen reformbereiten Präsidenten Rouhani gut stehen. Nach unseren Informationen kann er mit einer Wiederwahl rechnen und könnte im ersten Wahlgang um die 60 % der Stimmen erhalten. Möglicherweise sind wir mit dieser Prognose schneller als die großen Nachrichtenagenturen der Welt. Wir beziehen unsere Informationen aus Quellen ersten Ranges.
Für uns waren es bewegende Stunden, zusammen mit den Iranern zur Wahl zu gehen und in der Schlange vor dem Wahlbüro zu stehen. Wir spürten eine besondere Stimmung. Anders als sonst waren die Gespräche gedämpft, die hier so beliebten Späße unterblieben, alles war ernsthaft und eine gewisse Aufregung lag in der Luft. Zunächst waren es Computerprobleme, die die Öffnung des Wahlbüros verzögerten, ein Raunen ging durch die wartende Menge. Dann öffnete das Tor der Schule, in dem die Stimmen abgegeben werden konnten. Wir konnten bis zu den Wahlurnen mitkommen und beobachteten, wie hier die Wahlen ablaufen. Alles ging in ruhiger Ordnung vor sich und der Urnengang wird von den Iranern sehr engagiert und ernsthaft als eine Bürgerpflicht der Mitverantwortung verstanden. Wir sind sehr beeindruckt vom politischen Engagement und demokratischen Bewusstsein der Iraner.
Wer seine Stimme abgegeben hat, muss einen Fingerabdruck in der Wahlstation hinterlassen. Deswegen ist heute die stolze Begrüßung unter den Iranern, die gewählt haben, das Erheben des Zeigefingers, mit seiner blauen Färbung von der Tinte des Stempelkissens. Er wird gezeigt wie ein Orden der Demokratie!
Jetzt sitzen wir in der Runde bei unserer Familie, bei Mahmoud und Marianne, zu denen die Freunde kommen und gespannt auf den Handys alle Nachrichten verfolgen, die Schlüsse auf die Beteiligung und das Ergebnis der Wahl zulassen.
In den vergangen Tagen waren wir abends auf den Straßen und haben die Stimmung eingefangen. Hier die Stimmung als Bildeindrücke: