Geister in der Wüste

Der Trans-African-Highway Nr. 1 erstreckt sich über fast 6000 Kilometer von Kairo nach Dakar im Senegal. Ab Agadir ist er vierspurig ausgebaut und gleicht einer Autobahn, die durch das Nichts der Wüste führt. Südlich von Agadir beginnt die Wüste. Im nördlichen Teil der marokkanischen Sahara sind die Abstände zwischen den Dörfern und kleinen Städten (Guelmim, Tan Tan, Akhfennir, Tarfaya, Laayoune) immer etwas mehr als 100 Kilometer. Danach, im Teil, der in der Westsahara liegt, erstreckt sich das Nichts über deutlich längere Strecken, teils mehr als 600 Kilometer nur unterbrochen durch gelegentliche Tankstellen und Fischerhütten an der Atlantikküste.

Manchmal glaubt man schneller zu werden, wenn man den Horizont entschieden anstarrt.
Die Kilometerangaben auf den Schildern werden immer absurder.

Wir fahren gern auf diesem Highway. Die rechte Spur gehört uns. Die großen Auflieger-Trucks wechseln rechtzeitig die Spur, grüßen hupend wie üblich und schalten die Warnblinkanlage ein, wenn sie an uns vorbei sind, ein letzter Gruß, bevor sie gen Horizont verschwinden. Dann sind wir wieder für Minuten allein auf dieser grandiosen Asphaltpiste. Das Knattern des Windes, der sich an den Leitplanken bricht, ist dann wieder das einzige Geräusch, das uns begleitet. Wir sind gern hier. Der Asphalt ist gut, der Wind ist auf unserer Seite und die Wüste entfaltet ihre Anmut, die wir so schätzen.

Um die Tagesetappen zu bewältigen, sitzen wir sechs oder mehr Stunden im Sattel. Ab fünf Stunden fühlt es sich nach Arbeit an und tut weh. Aber im nördlichen Teil wissen wir: Wenn wir eine Dusche am Abend haben wollen, müssen wir da durch. Im Streckenabschnitt der Westsahara wird es eher keine Dusche für uns geben.

Hinter Guelmim hört dann bald auch das spärliche Grün auf.

Morgens werfen wir lange Schatten über die rötliche Geröllfläche, die sich bis zum Horizont erstreckt. Das Licht scheint aus der Erde zu strömen. Noch durchdringt die Sonne nicht den Dunst, der von der Küste her über der Wüste liegt. Wir sind noch allein auf dem Asphaltband, das die Landschaft durchschneidet. Dann spüren wir auf unseren Rücken die Macht der Wüstensonne, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Jetzt schlägt innerhalb von wenigen Minuten die diffuse Morgenstimmung in das brutale Gleißen des Tages um. Alles ist überklar. Weit entfernt sehen wir die geometrisch abgezirkelten Figuren, die die gewaltigen Sanddünen in das Rot der Geröllwüste zeichnen. Sie sind winzig klein in der Entfernung und gleichzeitig überwältigt uns ihre Mächtigkeit. Noch ist alles ganz still, weil morgens der Wind erst noch Kraft schöpft. In dieser Stille ist die Macht der riesigen Dimensionen unmittelbar. Wir sind allein. Wir sind sehr klein.

Imke hatte das dringende Bedürfnis sich in eine Sanddüne zu setzen.
Wir sind vor Sonnenaufgang auf der Straße. Jeder Kilometer vor dem Sonnenhöchststand ist ein guter Kilometer.

So fahren wir stundenlang. Zur Pause setzen wir uns abseits der Straße in die Steine. Dort finden wir nur den Schatten, den unsere Satteltaschen an den Rädern werfen. Sie liefern uns auch ein wenig Schutz gegen den Wind. Wir lächeln bei der Vorstellung, dass uns jetzt jemand von zu Hause beobachten würde. Könnten wir klar machen, warum wir gerne hier sind?

Die Dörfer liegen oft abseits der Straße und sind leicht zu übersehen.

Auch in den Stunden auf dem Sattel wird es nicht langweilig. Es ist weniger ein Wandern der Gedanken, eher ein Einfließen der Landschaft in mich hinein. So verschwinde ich für Minuten in dieser Weite, ohne dass mir selbst das bewusst wird. Dann tauche ich wieder auf und weiß nicht, was mich zurückgerufen hat.
Ich schaue voraus an den Horizont und sehe einen kleinen dunklen Punkt am Straßenrand. Ein Straßenschild? („Achtung Kamele“ / „Machen Sie alle zwei Stunden eine Pause“ / „Vorsicht Sandverwehungen“) Nein, es ist kein Schild. Es ist ein Mensch. Ein Fußgänger.
Seit 60 Kilometern sind wir an keiner menschlichen Behausung vorbeigekommen. Das nächste Dorf liegt 55 Kilometer vor uns. Ein Fußgänger? Schleichend langsam kommen wir näher und dennoch hat mein Hirn nicht genügend Zeit diese Begegnung vorzubereiten. Dieser Mensch ist in unserer Richtung unterwegs. Er kann uns nicht näherkommen sehen. Ich bin wie gebannt von dieser Erscheinung. Wir sind jetzt nur noch 50 Meter entfernt und ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.
Jetzt sehe ich. Ein Schwarzafrikaner. Niemand von hier. Er hat keine Schuhe an. Sein dicker Mantel und seine Hose sind dreckstarrend und zerrissen. Seine Haare stehen vom Staub und Sand strohig geworden vom Kopf ab. Seine Hände sind leer. Er trägt nichts bei sich, keine Tasche, keinen Rucksack. Sein Gang schlurfend apathisch. Sein Blick dicht vor sich auf den Boden gerichtet. Alles entfaltet sich vor meinen Augen in einer beschämenden Klarheit des Wüstenlichts.

Was jetzt geschieht, ist nicht Ergebnis von Überlegung oder Entscheidung. Ich fahre vorbei und halte wenige Meter vor ihm, drehe mich um und grüße. Er weicht wie aus einem Traum gerissen schreckhaft zurück. Geht einige Schritte rückwärts. Kann ich seinen Gesichtsausdruck lesen? Ich weiß es nicht. Mehr um etwas zu tun als aus vernünftiger Überlegung ziehe ich die große 1,5 Literflasche Wasser aus meiner Radhalterung und strecke sie ihm hin. Schnell greift er zu und beginnt sofort zu trinken.
Als wäre ich beschämt, wende ich mich ab und fahre weiter. Warum? Ich kann es mir bis heute nicht erklären. Mit den Gedanken, die zurückbleiben von dieser Begegnung, bin ich nicht fertig geworden. Nicht in den einsamen Stunden dieses restlichen Tages und auch jetzt sind die Worte dazu nicht passend.
Wie ein Geist in der Wüste erscheint mir dieses Erlebnis im Rückblick. Täglich begegnen sie uns, die Geister in der Wüste. Es ist gar nicht möglich diese Begegnungen in eine Alltäglichkeit einzuordnen. Dennoch haben wir unterdessen eine Routine. Wir wickeln Kekse oder unser Fladenbrot zusammen mit einem Geldschein marokkanischer Dirham in eine Papiertüte und überreichen dazu eine unserer großen Wasserflaschen. Immer sind diese Begegnungen wortlos. Ich kann nicht erklären, warum mir dann in dieser Situation keine Anrede gelingt. Zurück bleibt bei uns eine tiefe Traurigkeit.

Wenn wir ihnen nicht begegnen, sehen wir die Fußspur rechts neben dem Asphalt im Staub des endlosen Trans-African-Highway. Über Stunden begleiten uns diese Spuren. Jeden Tag neu. Sie zu beobachten, nur wenige Zentimeter neben unseren Radspuren, bedrückt mich fast noch mehr als die Begegnungen selbst. Alles Bücherwissen über Fluchtursachen und -schicksale hat mich nicht vorbereitet auf diese Begegnungen. Mir will nicht wirklich gut eine Rationalisierung gelingen. Neben der klaren Erhabenheit der Landschaft schreit mich dieses Zerbrochensein der Welt umso schriller an.


Später am Tag müssen wir etwas essen und trinken. Wir setzen uns nicht wie üblich abseits in die Steine, sondern bleiben am Straßenrand stehen. Die Begegnung hat uns verstört. Wir stehen da und schieben Kekse in den Mund und kauen mechanisch. In der einen Hand die Trinkflasche, in der anderen den Keks. Wir sind auch kräftemäßig hinüber. Von hinten naht mal wieder ein großer Auflieger-LKW. Er hupt zur Begrüßung. Ohne Enthusiasmus hebt Imke die Hand mit der Trinkflasche und winkt höflich. Nur wenige Sekunden später quietschen die Bremsen des Lastwagens. In einer rötlichen Staubwolke kommt er 30 Meter vor uns auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Der Fahrer steigt herab aus der Höhe seines Führerhauses und läuft entschiedenen Schrittes auf uns zu. In der Hand eine große Wasserflasche, die er uns wortlos überreicht. Dann lächelt er und gibt uns den Daumen hoch. Kurz versuche ich ihm klar zu machen, dass das ein Missverständnis ist, dann gebe ich auf und bedanke mich und schüttele ihm die Hand. Als er wieder weitergefahren ist, stehe ich immer noch da mit der Flasche in der Hand. Eine Flasche weggegeben, eine Flasche geschenkt. Wir brauchen sie nicht, es sind nur noch 30 Kilometer bis zu unserem Tagesziel. Ich stelle sie zur Fußspur, die neben uns im Staub verläuft.

Die gefährlichste Fluchtroute der Welt

Guelmim nennt sich „Tor zur Sahara“.
Freitagsgebet in Guelmim
Auf dem Kamelmarkt in Guelmim. Bis in die 1960er Jahre der größte Kamelmarkt Afrikas.
Bruder und Schwester leben in Lyon und Paris und sind zum ersten Mal seit 18 Jahren wieder in Marokko zu Besuch bei ihrer Familie. Sie scheinen ähnlich fremd hier zu sein wie wir.
Der Kreisverkehr in Tan Tan
Eine Tankstelle am Highway. Machmal sehen so auch die Supermärkte aus.