Als wir in Agadir ankamen, waren wir körperlich und mental erschöpft. In nur drei Tagen waren wir von Safi hierhergefahren. Insgesamt 300 Kilometer mit fast 1000 Höhenmetern täglich. Es war heiß. Zwischen 35 und 40 Grad hatte es, und trotz der Nähe zum Atlantik gab es keine kühlende Brise. Wir durchfuhren die Ausläufer des Atlasgebirges, und das bedeutete immer wieder aus den tief eingeschnittenen Erosionstälern sich die Steilküste hinaufkämpfen, jeweils 150 bis 250 Höhenmeter. Die Straße war einigermaßen befahren, und wir haben uns angewöhnt im Rückspiegel den von hinten sich nahenden Verkehr im Auge zu behalten. Wenn es dann eng zu werden droht, fahren wir vorsorglich von der Straße in den seitlichen Staubstreifen. Der ist aber oft tiefer Schotter, und wir merken am Ende des Tages, wie viel Kraft das im Oberkörper und in den Armen kostet. Wenn man dann ankommt, merken wir erst, wie anstrengend das auch für den Kopf ist.
Warum sind wir nicht kleinere Etappen gefahren? Weil es mal wieder dazwischen keine Übernachtungsmöglichkeiten gab. Außerdem haben wir uns gesagt: Lieber in Agadir ein paar mehr Ruhetage machen. So hielten wir uns motiviert, obwohl wir mal wieder feststellten, dass man auch ganz schön was wegstecken können muss auf solchen Routen.

Als wir recht früh am Nachmittag in Agadir ankamen, waren wir mit Salzkrusten überzogen und ganz schön müde. Aber wir hatten uns ein für unsere Gewohnheit überdimensional luxuriöses Hotel gebucht, weil wir bei diesen Temperaturen eine Klimaanlage im Zimmer haben wollten. Wir merkten deutlich: Wenn wir nicht das ständige krasse Schwitzen wenigstens nachts mal kurz unterbrechen, dann läuft uns die Energie aus. Soviel Salz kann man mit Appetit gar nicht essen, wie wir ausschwitzen. Wir dachten also: Jetzt ist Ausruhen. Aber das hat sich dann ganz anders ereignet als wir es uns vorstellten – mal wieder.
Bisher gab es nie Probleme in den einfachen Absteigen, unsere staubigen Räder sicher unterzubringen, entweder direkt neben unserem Bett im Zimmer oder in der „Besenkammer“, die ganz einfach in eine abschließbare Radgarage umgewandelt wurde. Nicht so jetzt hier in Agadir. Wir kamen noch nicht einmal von der Straße die paar Meter bis zum Eingang des Hotels. Der Security-Mann stellte sich uns in den Weg und bestand sehr unfreundlich darauf, dass wir die Räder für die Nacht am Straßenrand parkten. Wir waren fassungslos und völlig unvorbereitet. Wir waren fassungslos, weil wir unsere Räder NIEMALS draußen lassen würden. Lautet doch unser altbewährter Grundsatz: „Erst die Pferde!“ So gehen wir auch in von uns ausgewählte Herbergen: Gibt es einen Platz für die Räder? Wenn nicht, dann bleiben auch wir nicht dort. Hier war aber schon von uns vorgebucht und wir mussten zwei Stunden beharrlich sein, bis man schließlich eine Lösung fand. Wir waren fassungslos.

Warum eigentlich? Hätte man doch erwarten können. Hätte man erwarten können, wäre man nicht völlig verwöhnt gewesen durch die Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft, die uns bisher überall in Marokko so großzügig begegnete. Genau deswegen waren wir nicht darauf vorbereitet und das ist interessant. Nicht weil ich hier ein Lamento halten möchte über schlechten Service in teureren Hotels (für die deutschen Verhältnisse eine unterpreisige Absteige). Nein, es ist interessant, weil es beispielhaft zeigt, was wir an uns immer wieder beobachten und was eine sehr relevante Kraft im Unterwegssein als Reiseradler ist. Wir nennen das „die Rüstung der Reiseradler“. Das ist eine Art Schutzschicht, die man sich mental zulegt, um die Widernisse der Straße zu bestehen. Man ist schließlich verletztlich, nicht nur körperlich, sondern auch mental, besonders als Radfahrer. Es gibt keine Distanzzone zu den Menschen um dich her. Das ist oft eine grandiose Erfahrung, wenn sie dir von jeder Ecke her „Willkommen“ zurufen. Dann legt man diese innere Rüstung ab und wird sensibler, offener, freundlicher als man es sich eigentlich von den Kraftreserven her leisten kann. So freundlich und offen einem die Menschen begegnen , so offen und zugewandt möchte man ihnen auch begegnen. Das geschah mit uns in den letzten Wochen.

Jetzt hier in Agadir waren wir im Bettenburgenzentrum Marokkos. Agadir lebt hauptsächlich vom Pauschaltourismus. Hier wird Gastfreundschaft bezahlt und man weiß, dass die Touristen vor allem Wirtschaftsfaktoren sind. Die Einheimischen sind dementsprechend vor allem Servicekräfte. Eine gewisse Entmenschlichung auf beiden Seiten ist da im Spiel. Wir beschweren uns nicht darüber. Das sind die normalen Kräfte, die in der Tourismusbranche wirken. Das kann man nüchtern sehen, das ist vorhersehbar und das sollte man nicht persönlich nehmen.
In diesem Ankommensmoment traf es uns aber etwas härter, weil wir mental erschöpft waren. Später schmunzelten wir über uns, denn wir kannten das ja eigentlich schon von vielen anderen Situationen. Die „Rüstung des Reiseradlers“, das ist uns bewusst, sollte eine sehr flexible leicht an- und ablegbare Schutzschicht bleiben. In den Touristenhochburgen zahlen wir natürlich auch die Touristenpreise und müssen aufpassen, dass wir dadurch nicht frustriert werden. Hier wird natürlich öfter versucht, das Maximale aus dem Besucher rauszuholen. Der Schaden, der dadurch entsteht, ist nach unserer Überzeugung weniger ein finanzieller. Wir zahlen halt manchmal mehr als die Einheimischen. Nein, der Schaden, der uns dadurch wirklich schmerzen würde, wäre, wenn man als Reaktion darauf die Offenheit für die Freundlichkeit der Menschen in den nicht-touristischen Gegenden verlöre. Wenn man hinter jeder menschlichen Begegnung Betrug, Verarsche und Abzocke vermutet, dann ist jede Begegnung von vornherein zerstört. Deswegen muss die Rüstung des Reiseradlers eine flexible bleiben.

Schließlich waren unsere Räder in einem abgeschlossenen Raum untergebracht und jeder Hotelangestellte zeigte uns deutlich, wie scheiße sie unsere Hartnäckigkeit fanden. Auch wir waren erstmal down. Auch am nächsten Tag hing uns diese Stimmung noch nach. Hier gilt natürlich wie in ganz vielen anderen Fällen: Ist nicht persönlich gemeint. Aber vielleicht ist das ja noch schlimmer. Hier in Agadir hat der Pauschaltourismus das Stadtbild geprägt – nicht zum Besten. Und ebenso vermutlich ruinieren sich die Menschlichkeiten der Servicekräfte und der Touristen durch die Vermarktungsdynamik.

Jetzt haben wir also ein klimatisiertes Zimmer in der sonnenreichsten Stadt Marokkos mit dem aufwändigst gepflegten Badestrand. Was machen wir hier? Sightseeing? Fehlanzeige. Agadir wurde 1960 von einem Erdbeben zerstört, so dass es praktisch keine historischen Gebäude mehr gibt. Wer nach Agadir kommt, der (ich vereinfache etwas) kommt hierher um sich einen Sonnenbrand an günstigen Luxushotelpools zu holen, mit dem Quad durch Dünen zu knattern, auf dem Kamel über den Strand geführt zu werden und Schmuck und Keramik auf Tagesausflügen zu kaufen. Wir sind nicht die typische Zielgruppe.

Was machen wir also an einem Ruhetag – nicht nur in Agadir? In chronologischer Reihenfolge: Wir versorgen die Pferde. Wir kaufen ein, was wir essen werden – und das ist nicht wenig und meist gar nicht so einfach zu finden. Vitamine und Proteine und viel Salziges. Wir waschen von Hand unsere Wäsche und machen eine kreative Challenge daraus, wie wir unsere Wäscheleine quer durchs Zimmer und über den (selten vorhandenen) Balkon spannen. Danach duschen auch wir und stellen fest, dass einmal duschen uns meist nicht wirklich sauber macht. Dann wird gegessen und die Beine massiert und gedehnt. Während all dem trinken wir weiter Wasser. Sehr viel Wasser. Durst hatten wir schon lange keinen mehr. Das Wassertrinken ist unterdessen eine Routine, die nichts mehr mit Durstgefühl zu tun hat, sondern mit Vernunft. Es ist meist lauwarm bis heiß und immer aus Plastikflaschen. Auf dem Rad haben wir uns öfter darüber gewundert, wie das Wasser aus der Radflasche so heiß sein kann. Die einzig vernünftige Erklärung war dann: Es ist halt heiß hier, insgesamt. Dass uns das dann wunderte, zeigt nur, wie sehr wir uns schon gewohntermaßen von den unangenehmen Körperempfindungen abgekoppelt haben. Darum ist am Ruhetag oft auch die Frage, ob man rausgeht und sich ein nettes Restaurant sucht, schnell beantwortet. Zu anstrengend. Wir machen Obstsalat und essen hartgekochte Eier mit Essiggurken, Oliven, außerirdischem (weil durch keine Hitze zerstörbaren) Schmierkäse und Vollkornbaguette (nur in Agadir erhältlich).

Wenn man dann grundrenoviert auf dem Rücken auf dem Bett liegend still die eigenen Zehen betrachtet, will man sich nicht mehr bewegen. Sightseeing? Vielleicht ein bisschen makaber, aber das Erdbeben von 1960 hat uns dieser Verpflichtung enthoben. Es gibt ja sowieso nichts Historisches anzugucken. Ach ja. Da wir vielleicht schon durch das viele puristische Unterwegssein psychisch geschädigt sind, kaufen wir natürlich immer zu viel Lebensmittel ein, wenn es mal wieder eine große, besondere Auswahl davon gibt. Daher hat man jetzt auch die Verpflichtung das Übriggebliebene aufzuessen – nochmal ein guter Grund, das Zimmer heute nicht mehr zu verlassen.
Am Mittwoch geht es weiter. Südlich von Agadir geht eine karge Landschaft in eine Wüstenlandschaft über. Dann beginnt unmerklich die größte Wüste der Welt. Die ersten 300 Kilometer gibt es noch ein paar Städte und dann merkt man irgendwann: Jetzt ist Schluss mit dem was wir bisher hatten. Dann sind wir in der Sahara. Und auf die muss man vorbereitet sein. Wir werden also auch die nächsten beiden Tage nicht viel Tourismusaktiväten angehen. Wir werden uns einen Walkthrough machen. Davon haben wir ja schon öfter berichtet. Da steht dann auf einem Zettel eine Litanei von Kilometerangaben. Dazu eine kurze Charakterisierung des zu Erwartenden: Tankstelle, Restaurant, Polizeistation, Fischerhütte, Dorf, Übernachtungsmöglichkeit. Das ist dann das Programm für die nächsten 1500 Kilometer. Danach kommt Mauretanien. Aber das wird dann der nächste Abschnitt.
Wir freuen uns auf die Wüste.
