Terra Nullius

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Als würde sie schweben über einem kristallklaren grün und tiefblau schimmernden Wasser, liegt still vor der weißsandigen Bucht und den rotbraunen Felsen eine Flotte von elf Schiffen mit gerafften Segeln. Es sind majestätische Schiffe, wie aus einem Piratenfilm, nicht nur im Anblick, sondern im wörtlichen Sinn. Seine Majestät  Georg III., der schon ziemlich verwirrte König von England, hatte sie entsandt, und heute, am 7. Februar 1788, war es endlich so weit. Stellvertretend für die englische Krone nahm der Kommandant der Ersten Flotte am Strand das neue Land in Besitz, mit der Begründung, es sei ja schließlich „terra nullius“, Niemandsland. Die knappe Million Ureinwohner, die dieses Land schon mehrere 10.000 Jahre bewohnten, wurde dabei ganz beiläufig übersehen. Zweifel über die Rechtmäßigkeit dieses völkerrechtlichen Aktes gab es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der selbstbewusste Salut der Gewehrschüsse hallte in die Weite der Buschlandschaft, die jenseits des Strandes begann und sich über Tausende Kilometer extrem unwirtlichen, wasserarmen Gebietes erstreckte. Dann wurde die britische Flagge am Strand des neuen Kontinents gehisst. Die Namensgebung des für die Europäer neuen Landes war nicht besonders einfallsreich, hält sich aber bis heute hartnäckig: Terra Australis – das südliche Land.

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Roter Staub unter den Reifen sieht nicht nur auf Fotos cool aus – als Schicht über der mit Sonnencreme grundierten Haut ersetzt er am Ende des Radtages auch eine teure Bräunungsschminke.

Auch für uns, ziemlich genau 230 Jahre später, ist Australien so eine Art „Terra Nullius“ – nicht ein Niemandsland, sondern ein Land des Neuanfangs – ein Nullpunkt, von dem aus wir noch einmal starten. Als wir am 1. März in Australien landen, sitzt uns der Schreck über das Denguefieber in den Knochen. Alles ist glimpflich verlaufen, schließlich. Aber uns wird erst allmählich deutlich, wie sehr uns die Sache innerlich mitgenommen hat. So als sähen wir erst nach dem schlimmen Unwetter, das einen mit seinem Lärmen betäubt, das volle Ausmaß der Vernichtung. Immer wieder kehren unsere Gespräche und auch unsere Träume zurück zu dem was war und hätte alles sein können. Zu dem, was durch den Abbruch der Reise in Südostasien nicht sein wird und zu dem, was stattdessen plötzlich vor uns liegt. Wir sind einmal mehr dankbar für die Bewahrung und haben erst jetzt, hier in der westlich geprägten Welt Australiens, vieles klar vor Augen, was in Asien seit unserem Aufbruch in Georgien zur exotischen Normalität geworden war.

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No worries! – Macht Euch keinen Kopf!

Australien begann für uns mit Gary, unserem Taxifahrer, der uns vom Flughafen Perth zu Jane, unserer Warmshowers-Gastgeberin, brachte. Nach dem stets nervenaufreibenden Verpacken der Räder in Kartons, Organisieren eines Transports zum Flughafen in Chiang Mai und Einchecken mit einem Berg von Gepäck, stimmte mich Gary darauf ein, wie die Uhren in Australien ticken: sehr, sehr entspannt. Er begrüßte uns wie alte Freunde, mit einem breiten Lächeln und festem Handschlag, „Hi, I am Gary, how are you doing today?“ Er fuhr langsam und gemütlich durch den nicht vorhandenen Verkehr die wenigen Kilometer nach Perth hinein und gab uns in dieser kurzen Zeit väterlich-fürsorglich alle wichtigen Ratschläge für unseren Australienaufenthalt mit auf den Weg. Ohne dass wir ihn irgendetwas fragten, empfahl er uns die billigsten Outdoorshops, um Mückenspray und Fliegenhüte zu kaufen, beschrieb uns die schönsten Strände und die beste App für Campingplätze. „Und selbst wenn es bedeckt ist, cremt euch immer schön ein!“ Er verabschiedete uns mit den Worten: „See you later on. And have fun. No worries!“ Ich konnte nur schmunzelnd denken: Sie sagen es wirklich! Und fühlte mich von Australien sofort willkommen geheißen.

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Auch beim ÖPNV-Personal herrscht fröhlich entspannte Buddy-Stimmung. Wo man als Radfahrer auf deutschen Bahnsteigen eher ein Anschnauzen erwartet, lässt der australische Kollege einem sogar noch die Fahrkarten aus dem Automaten und wünscht viele schöne Erlebnisse auf der Tour.

Drei Tage verbrachten wir bei Jane in Perth und bereiteten uns auf den neuen Kontinent vor, der vor uns liegt. Dass wir ausreichend ausgerüstet waren für das, was wir vorhatten, wussten wir, als Ralph Jane unser neues Fliegennetz über seinem Crocodile-Dundee-Hut präsentierte und Jane anerkennend lachte: „You look like a local.“ Abende lang saßen wir gemeinsam über Landkarten, und sie gab uns Tipps zu schönen Strecken. Bezeichnenderweise waren ihre Kommentare zu meinen Plänen, wo wir durchfahren wollten, meist: „You can do this. But it´s a loooooong way. There is nothing out there.“

Gemeinsam mit Jane machen wir eine Radtour in die City von Perth. Hier springt uns der krasse Gegensatz zu der exotisch-fremden Welt und der Armut, aus der wir kommen und die für uns zur Normalität geworden sind, besonders ins Auge. Alles erscheint uns wie in einem Heile-Welt-Werbespot einer Versicherung oder einer Bank: Die Farben überdreht, das Licht zu hell, der Himmel zu klar, die Menschen zu freundlich, die Stadt zu modern. Mit dem Flug von Thailand nach Perth sind wir mit einem Satz zurückgekehrt in die westliche Kultur. Wir wundern uns über die sauberen Gehwege, die aufgeräumte moderne Stadtlandschaft, die stille Vorstadt mit Holzhäusern und Rasenstück davor. Es gibt plötzlich wieder Radwege. Endlich dürfen wir wieder ungeschältes Obst und Salat essen. Das hat mir sehr gefehlt. Abends beim Zähneputzen greife ich zum Mundausspülen automatisch zur Wasserflasche – bis mir einfällt, dass ich das Wasser einfach direkt aus dem Hahn trinken kann. Das haben wir nicht mehr gemacht, seit wir vor über einem Jahr Deutschland verlassen haben.

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Auch Einkaufen ist ein neues Erlebnis für uns. Verwirrt schieben wir unseren Einkaufswagen (!) durch Aldi West(australien) und stehen hilflos vor 25 Sorten Joghurt. Endlich müssen wir nicht mehr nur essen, was es gibt, sondern können einkaufen, worauf wir Lust verspüren. Nur überfordert uns die Entscheidung, und am Ende haben wir nicht viel mehr im Korb als sonst. Es fühlt sich seltsam an. Ich wundere mich selbst, dass ich keine besonders große Freude verspüre, endlich wieder dies und das essen oder machen oder haben zu können, völlig easy, ohne mich dafür anstrengen zu müssen. Vielleicht ist der Gegensatz zur Armut und Exotik, aus der wir kommen, einfach zu groß. Ich habe das Gefühl, mit allem, das sich mir hier bietet, nicht viel anfangen zu können, obwohl es schön ist. Es bleibt eine Stimmung des verwirrten Staunens. Wir sind froh, als wir wieder aus der Stadt hinausfahren können und die vertrauten Gefährten um uns her haben: Die Straße, den Horizont, weiten Himmel und den nächsten Schlafplatz in der Wildnis.

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Der Südwesten – Australien für Rentner

In den letzten drei Wochen sind wir von Perth an der Westküste Australiens immer an der Küste entlang nach Süden bis Denmark gefahren. Der Südwesten Australiens ist durch grüne Landschaften geprägt und im Vergleich zum restlichen Westaustralien „dichter“ besiedelt. Was das allerdings wirklich bedeutet, machen einige wenige Zahlen deutlich: Der Bundesstat Westaustralien ist sieben Mal größer als Deutschland. In ihm leben aber nur rund 2,7 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung von Berlin. Von diesen 2,7 Millionen wohnen allerdings rund 1,9 Millionen in Perth und seinen Vorstädten. Das heißt, dass die Bevölkerungsdichte außerhalb von Perth weniger als einen Einwohner pro Quadratkilometer beträgt, 400 mal weniger als in Deutschland und etwa so viel, dass Bunbury mit nur 55.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Westaustraliens ist. Das Klima ist hier mediterran gemäßigt und es ist noch ziemlich grün, ein Rentnerparadies in diesem sonst größtenteils unwirtlichen Kontinent. Dementsprechend begegnen uns auf den Straßen meist Pensionäre mit Wohnmobilen oder Wohnwagen. Wir meiden die Wohnmobil-Parks und campen meist wild.

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Eine alte Holzbank im Wald gefunden, eine Wäscheleine gespannt – fertig ist das Rentnerparadies.

Wir sind hier also in der dichtbesiedeltsten Region unterwegs und haben trotzdem schon jetzt manchmal Schwierigkeiten, uns am Tag rechtzeitig in einem Einkaufsladen zu versorgen. Seit mehr als drei Wochen leben wir ausschließlich draußen und im Zelt. Die Zeltplätze sind sagenhaft schön – meist Wildcampingplätze, die wir uns selbst aussuchen an der Küste oder in Waldlichtungen. Aber auch schon hier im grünen Südwesten ist Wasser ein ganz großes Thema – weil es nicht genug davon gibt. Wenn jemand angeben möchte mit seinem Besitz, dann prahlt er mit der Größe seines Wassertanks. Ab 110.000 Liter ist man wer hier auf dem Land. Die meisten Menschen in Westaustralien versorgen sich über riesige Regenwassertanks, und auch wir haben in den vergangenen Wochen unsere Flaschen fast ausschließlich an Regentonnen füllen können. Dort wird das Wasser über die Dachrinnen gesammelt und hält sich über die trockenen Monate, wenn man nicht zu verschwenderisch damit umgeht. Gut, dass wir ja unseren Wasserfilter haben, denn was in den riesigen Sammeltanks noch alles schwimmt und verwest, wollen wir am besten gar nicht wissen. Oft liegen diese Wassertanks jedoch schon in dieser dichter besiedelten Region für uns so weit auseinander, dass wir für zwei Tage Wasser auf unser Rad laden müssen.

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Vorsicht! Vor dem Ansetzen des Bechers das Fliegennetz anheben. Andererseits kann der versierte Australier sein Bier sicher auch durch das Fliegennetz hindurch trinken. Wir experimentieren noch.

Es ist also ein zwiespältiges neues Erlebnis hier in Australien. Einerseits fühlen wir uns so viel freier, uns auch wieder mehr der Muße und den Pausen am Strand zu widmen. Auch innerlich fühlen wir uns plötzlich mit viel mehr Energie erfüllt, die uns zur Verfügung steht. Wir spürten das erst allmählich und fragten uns, woher das kommt. Uns wurde klar, dass wir es mit einer vierfachen Erleichterung unserer Reise hier in Australien zu tun hatten: Zum einen mussten wir nicht mehr die großen kulturellen Unterschiede überbrücken, da wir jetzt trotz der riesigen Entfernung zur Heimat eine westliche Kultur bereisen – und in der kennen wir uns ja hinlänglich aus. Zum anderen haben wir eine gemeinsame Sprache mit den Einwohnern unseres Reiselandes und ein Klima, das uns bis jetzt ziemlich gemäßigt erscheint – nicht zu heiß und nicht zu kalt (wie wir es in Asien zu oft erlebten). Und schließlich, nicht zu unterschätzen für Radfahrer, die fast immer hungrig sind: Die Supermärkte und Tanteemmaläden, auch wenn sie rar gesät sind, führen alles, was wir so kennen. Wir müssen uns also nicht mehr von Keksen und Chips und Bananen und Toastbrot ernähren. Eine große Erleichterung für uns! Nach den Keksstrecken in Zentralasien und China lehnte Ralph in den letzten Wochen überdrüssig alle Keksangebote unserer Gastgeber ab mit dem gemurmelten Satz: „Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder freiwillig Kekse zu essen.“

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Zwei UFOs sind am Strand gelandet. Erster Eindruck: Dieser Planet ist unbewohnt. Super!

 

Martha, Estelle und Ramon

Alle unsere ersten australischen Erlebnisse überragend, sind einmal mehr die Begegnungen mit besonderen Menschen. Schon auf unserer ganzen bisherigen Reise war das ein markanter roter Faden: Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen. Diese aber stachen uns ins Herz und bewegten uns in ihrer Eindringlichkeit wie nur selten. Vor allem Martha Titze, die – aber nein, wir fühlen uns immer noch nicht in der Lage, diese Begegnung in angemessene Beschreibungen zu fassen. Was können wir sagen? Nur so viel: Wir trafen Martha nicht zufällig. Freunde sagten uns schon vor Jahren, als unser Reiseziel Australien feststand, dass wir auf diesem Kontinent eine Seelenverwandte hätten, die wir unbedingt treffen müssten. Martha ist 83 und eine der coolsten und intensivsten Frauen, die wir kennen, so viel lässt sich schon nach dieser kurzen dreitägigen Begegnung sagen. Sie wanderte vor rund 15 Jahren nach Australien aus und fuhr mit ihrem eigentlich zu einem langhaarigen, braungebrannten Surfer passenden Camper rund 50.000 Kilometer durch den Kontinent – mitten durch und einmal drumherum. Das ist aber nur ein Bruchteil ihrer Abenteuer. Ihre Wohnung ist eine Sammlung der Kultur Südostasiens und der Südsee. Ihre Herzlichkeit ist weltumspannend und ihre Fähigkeit, mit dem Einfachsten zufrieden zu sein, kann selbst uns noch viel lehren. Das nächste Mal, so verabschiedete sie uns, müsst ihr mit meinem Camper losziehen – der größtvorstellbare Vertrauensbeweis, wie ihre Freunde uns versichern. Über Marthas Leben sollte ein Buch geschrieben werden. Wir können hier nur andeuten und auch das bisher Gesagte hört sich schal an im Vergleich zur Wirklichkeit.

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Estelle und Ramon treffen wir, als wir unsere schweren Räder durch den Sand schieben. Die Sonne sticht und Schweiß rinnt uns am staubigen Körper hinab. Wir wollen einen abgelegenen Strandplatz erreichen. Auch die Ranger warnten uns vor dieser sandigen Strecke, in der selbst Allradfahrzeuge manchmal stecken bleiben. Dann brausten sie in ihrem V8-Geländewagen weiter und lassen uns in einer Staubwolke stehen. Ihre Ladefläche ist leer und wir ärgern uns: „Diese Sesselfurzer hätten uns auch mitnehmen können.“ Aber so treffen wir Estelle und Ramon. Sie nehmen unser Gepäck in ihrem Camper mit, und auch unbeladen haben wir noch eine gute Stunde harte Arbeit vor uns, bevor wir den besten Campingplatz der Welt erreichen. Dort sind nur wir vier. In den nächsten drei Tagen führen wir wunderbare Gespräche über Gott und die Welt, fischen (vor allem Ramon) und werden durchgefüttert mit „Glamping“-Futter, wie die beiden es nennen: Glamour-Camping. Vor allem in Abgrenzung zu unserem Unterwegssein fällt dieser neue Begriff immer wieder. Ramon und Estelle sind beide Schweizer, aber Ramons halbe Familie ist über die Südseeinseln, Papua-Neuguinea und Australien verteilt. Seine Schwester betreibt mit ihrem Mann in Australien eine Farm, die etwa so groß ist wie der Landkreis Biberach.

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„Stay hydrated!“

Vor allem in den letzten Tagen erreichten uns immer mehr Mails, in denen die Freunde besorgt nachfragten. Warum dauert es so lange, bis der nächste Bericht kommt? Wie geht es Euch, wir hören nichts von Euch? Geht es gut weiter, nachdem der letzte Bericht so schlechte Nachrichten gebracht hat?

Ja, es geht gut weiter und es gibt eigentlich nichts Besonderes zu erzählen – und genau das ist es, was wir im Moment so genießen. Wir sind in der gemäßigten Zone unterwegs. Australien kommt uns, nach dem, was wir bis hierher durchgefahren und durchgemacht haben, wie ein Outdoor-Vergnügungspark vor. Die Australier sind in ihrer knorrigen Direktheit immer wieder ein Verwundern wert und gleichzeitig begegnen sie uns meist herzensfreundlich und hilfsbereit. Ein insgesamt nach unserer bisherigen Erfahrung sehr angenehmer und unkomplizierter Menschenschlag. Wir ernten viel Anerkennung und aus Autos gehaltene Daumen nach oben oder gleich den coolen Surfergruß. Viele scheinen sich tatsächlich zu freuen uns zu sehen, und oft hören  wir den begeisterten Wunsch: „Have a good one! And stay hydrated!“ Den australischen Humor langsam durchschauend, vermuten wir, dass uns dieser Wunsch auch in der nächsten Kneipe zugerufen werden würde.

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Natürlich gibt es noch genügend Herausforderungen jeden Tag, aber nichts grundsätzlich Neues. Die Distanzen zwischen den Ortschaften sind auch hier im dichter besiedelten Südwesten teilweise recht groß. Wir haben also immer noch die Aufgabe, unsere Etappen gut vorauszuplanen, damit uns das Essen und vor allem das Wasser nicht ausgehen. Das nimmt dann alle paar Tage immer wieder einige Stunden in Anspruch und ist uns manchmal etwas überdrüssig. Wir nennen das unsere „Verwaltungsarbeit“. Darüber hinaus haben wir es mit den üblichen Eigenheiten des ständigen Draußenseins zu tun. Wir zelten ausschließlich und teilen unseren Lebensraum wieder unmittelbar mit vielen Tieren. Das geht nur gut, wenn man weiß, womit man es eventuell zu tun bekommt und wo die unangenehmen Mitbewohner leben. Wir mussten uns also auf eine ganz neue und sehr anspruchsvolle Tierwelt einstellen. Gibt man „Tiere“ und „Australien“ in eine Internetsuchmaschine ein, dann erhält man überwiegend den Hinweis, dass Australien von allen giftigen Tieren dieser Welt die giftigsten beherbergt. Wir machen also keinen Schritt oder Schwimmzug, der nicht mit der Gegenwart von etwas Bedrohlichem rechnet. Wir treten nachts nie aus dem Zelt, ohne die Schuhe, in die wir schlüpfen wollen, genau zu untersuchen: Wärmt sich eine Schlange in unserem körperwarmen Vorzelt? Sitzt ein Skorpion unter dem Zeltboden genau an der Ecke, in die ich greife, um den Außenzeltreißverschluss zu öffnen? Sitzt eine Spinne in meinem Schuh und freut sich über die gemütliche neu gefundene Höhle? Haben Bulldoggenameisen (bis zu vier Zentimeter lang) unsere Wassersäcke besetzt, aus denen doch der eine oder andere Tropen floss, und fühlen sich durch meinen suchenden Fuß bedroht?

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Was uns gar nicht gefiel, war, dass wir kurz vor einem unserer ersten Campingplätze ein großes Warnschild sahen: „Moskito Risk Area“. Nicht schon wieder, dachte ich, bitte nicht schon wieder. Moskitos können in Teilen der Westküste Australiens das Ross River Fieber übertragen, das mit wochenlanger Schwäche und starken Gelenkschmerzen einhergeht, eine durch Viren verursachte Polyarthritis. Auch das könnte das Ende unserer Fahrradreise in Australien bedeuten. Entsprechend nervös und übergenau tragen wir lange Kleidung, wann immer es geht, sprühen auf die klebrige Schicht Schweiß und Sonnencreme noch eine Schicht Mückenspray und verziehen uns mit Einbruch der Dämmerung ins sichere Zelt.

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Kein Problem. Sich am Bauch kratzen und die Freunde begrüßen ist gleichzeitig möglich.

Unsere Tiererlebnisse sind bisher jedoch alle ganz harmlos und überaus erfreulich verlaufen. Ich stoppe immer noch abrupt mein Rad, wenn ich sie sehe, rufe ganz aufgeregt „Guck mal Ralph, guck mal!“ und kann mich nicht sattsehen, denn sie machen einfach gute Laune. Es gibt sie wirklich hier! Überall! Kängurus! An unserem ersten Campingplatz besuchte uns eine ganze Kängurufamilie zum Frühstück. Sie lagern sich gerne gemütlich in abgeernteten Feldern, mümmeln das trockene Gras und sehen einen erstaunt an. Oft schieben wir unsere Räder zu einem versteckten Schlafplatz auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald, und plötzlich springt ein Känguru erschrocken auf und hüpft vorbei. Ich kann mich immer noch kaputtlachen über ihre comichafte Art sich zu bewegen. Auch nachts, wenn wir im Zelt liegen, spüren und hören wir ihre Sprünge. Morgens weckt uns das Geschrei der Kakadus und grünen Papageien, und in der Dämmerung lacht der Kookaburra auf seine psychedelische Weise:  speaker (klick hier)

Ansonsten ist der australische Wald sehr, sehr still, wie wir immer wieder verwundert feststellen, wenn wir im Schlafsack liegend in die Dunkelheit lauschen.

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Die drei Kookaburras versuchten uns über unserem Abendessen eine halbe Stunde lang schweigend zu hypnotisieren.

Nach den langen Tagen der Krankheit finden wir endlich zurück in unseren großen Alltag auf der Straße, und die vertraute Routine des Campinglebens tut gut. Obwohl Ralph sich besser fühlt als man nach überstandenem Denguefieber erwarten könnte, muss er doch feststellen, dass die Krankheit mehr Spuren hinterlassen hat als gedacht. Die ersten Tage auf dem Rad fallen ihm schwer und tun weh. Er erzählt, es fühle sich beim Treten am Berg an wie manchmal beim Wasserfiltern: Man pumpt und pumpt, aber im Ansaugstutzen ist nur Luft. Wir lassen es langsamer angehen und fahren kleinere Etappen.

Trotzdem genießen wir das Radfahren und Draußensein in vollen Zügen und freuen uns sogar über das meditative ständige Auf und Ab der Rolling Hills durch die endlosen Wälder voller hoher Karribäume, bei dem wir ziemlich viele Höhenmeter machen. Oft fahren wir durch dschungelartigen Wald mit dichtem Unterholz. Dann, ganz unvermittelt, kommen wir über eine kleine Anhöhe und in der folgenden Abfahrt bleibt das Blätterdach einfach am Himmel kleben, während wir immer weiter in die Tiefe fahren. Das Unterholz ist plötzlich verschwunden und die riesigen Stämme, die ohne Rinde glatt in die Höhe reichen, sind astlos. So gleiten wir plötzlich durch einen lichtgedämpften hohen Raum, eine lichte Naturkathedrale. Weit über uns die gotischen Bögen der obersten Äste, die das grüne Dach halten, neben uns die Säulen, die die Welt des Waldes tragen. Stille herrscht an diesem hohen, sakralen Ort. Die Luft duftet nach Eukalyptusöl und wir segeln still auf unseren Rädern durch eine Zwischenwelt. Die Welt ist großartig und liegt vor uns ausgebreitet.

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Oft sind wir allein weit und breit. Auf den Straßen sind manchmal weniger Autos unterwegs als auf deutschen Radwegen. Es ist wirklich genau so, wie ich es mir in Thailand gewünscht habe. Wenn der Tag zu Ende geht, suchen wir uns irgendwo im Busch oder an einem einsamen Strand einen Platz für unser Zelt. Wir haben Zeit und Kraft übrig, auf der Picknickdecke oder auf einem Felsen am Meer zu sitzen, uns zu unterhalten oder einfach vor uns hin auf das unwirklich türkisgrüne Blau des Wassers zu schauen. Das ist für mich das reine Glück des Unterwegsseins. Auch ich spüre jetzt, dass das Denguefieber und die Angst um Ralph tiefere Spuren bei mir hinterlassen haben, als ich zuerst selbst bemerkte. In den ersten Wochen hier in „Terra Nullius“ wird mir bewusst, wie wichtig und genau richtig dieser Neuanfang für mich ist. Beim Anblick der sich weiß brechenden wilden Wellen, die in den sich über uns öffnenden weiten Himmel übergehen, komme ich zurück zum „Nullpunkt“ unserer Reise, der für mich in Australien auch ein Neubeginn wird. Mich erfüllt ein tiefes überfließendes Gefühl der Dankbarkeit und Freude über alle Bewahrung, unser Zusammensein, unser Leben und das Geschenk, sich die Welt aus dem Fahrradsattel anschauen zu können.

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